Ted Lewis

Schwere Körperverletzung


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>Schwere Körperverletzung

      Ted Lewis

      Vorwort

      Derek Raymond

      GBH ist ein ebenso direkter wie atemraubender Roman. Die Wucht der Eingangsszene, als ein Gangster unter der Regie seines psychopathischen Bosses einen des Verrats verdächtigen Gangster zu Tode foltert, enthüllt – wie die Jagd nach Spitzeln und Verrätern, sei es innerhalb des Mobs oder innerhalb der Polizei, überhaupt – den Abscheu des Autors vor jeglicher Denunziation. Und als Ganzes hat das Buch, das in keiner einzigen Passage seinen Griff lockert, auf den Leser den gleichen aufwühlenden Effekt wie sein berühmter Vorgänger Jack’s Return Home (erschienen auch unter dem Titel Get Carter). Ted Lewis starb 1982 an Alkohol, gerade mal in seinen Vierzigern, und sein Tod war ein immenser Verlust. Was den zeitgenössischen britischen Roman noir angeht, war Lewis – zumal im Umfeld meiner Generation – der Inbegriff seiner Wiedergeburt. Und zwar dergestalt, dass die halluzinierende Wirkung seines in der Ich-Form geschriebenen Porträts des Killers in GBH noch lange im Leser nachwirkt, wenn es ihm denn überhaupt ge­lingt, sie jemals auszulöschen. Ein weiterer Punkt, der hier betont werden muss: Wenn Lewis im eigenen Lande nicht den Grad an Bekanntheit erlangte, den er hätte erlangen sollen, dann, weil zu dieser Zeit ein Roman, je besser er geschrieben war, je schwärzer, je direkter, desto mehr Gefahr lief, die störanfällige Empfindsamkeit zart besaiteter Verleger durcheinanderzubringen. Eine blinde Hingabe an den Geschmack der middle-class, zugleich eine Angst vor Entfremdung, war eine viel zu weit verbreitete Haltung unter britischen Verlegern. Dieser Hang zur Zensur senkte die Qualität eines Großteils britischer Prosa herab auf das Niveau einer albernen Mutprobe, ebenso wie die verzerrte verlegerische Sicht bei der Be­urteilung des Kommerziellen – eine Beurteilung, die, nebenbei bemerkt, verschiedentlich lächerlich war, tatsächlich sogar spektakulär falsch. Um ein klassisches Beispiel zu zitieren, die Reaktion meines ersten Verlegers auf Len Deightons The Ipcress File: »Interessant, aber natürlich pure Fantasie ... kann für den Durchschnittsleser nicht von Interesse sein ...« Diese Haltung führte dazu, dass, selbst wenn sich ein junger, kühner Lektor in einem großen Verlag aus dem Fenster lehnte und Ro­mane wie den von Lewis annahm, die Bosse in den Etagen über ihm der Sache diskret aus dem Weg gingen, indem sie keinen Finger für Werbemaßnahmen rührten und so sicherstellten, dass sie vereitelt wurde. Doch man muss ihn nur lesen, um zu erkennen, dass Lewis einer der ersten britischen Autoren der 1960er war, die Chandler beim Wort nahmen – »The crime story tips violence out of its vase on the shelf and pours it back down into the street where it belongs« – und Jack’s Return Home ist ein Buch, das ich und eine Menge anderer Leute seinerzeit als einen Klassiker auf diesem Gebiet betrachteten, von den reinen schriftstellerischen Fähigkeiten, die es offenbart, abgesehen. Und ein Klassiker ist es noch immer. Es ist aber auch nicht mehr erhältlich; vergriffen, eingestampft, dank dieser Haltung – die im Grunde einer Unkenntnis gleichkommt –, so prävalent in der Gruppe britischer Verleger, auf die ich mich kurz zuvor bezog und die unerschütterlich davon überzeugt zu sein schien, dass, solange Agatha Christie und P.D. James sich gut verkaufen, man das Feld auf redliche Weise bestellt und zugleich nicht auf den Union Jack gespuckt habe.

      Was – wie meinerseits bereits ausgeführt – bedeutet, dass sie eine gehörige Portion an beeindruckender und außergewöhnlicher Arbeit mit Erde bedeckt, sprich begraben haben.

      Und außerdem, wie falsch kann man liegen? Der Unterschied zwischen dem, was die Leute heute lesen wollen, und dem, was ihre Eltern vor fünfzig Jahren lasen, ist so immens wie der Wandel bei den Problemen, mit denen die heutige Gesellschaft konfrontiert wird (gesellschaftliche Wirklichkeit, zu deren Widerspiegelung Literatur idealerweise berufen ist). Weshalb mehr und mehr Werke des Noir in Großbritannien entstehen, die keinerlei Be­zugspunkte zu den beiden soeben erwähnten Schriftstellerinnen haben.

      Schade, Ted Lewis hat dies nicht mehr erlebt.

      Während der Lektüre von GBH denke ich daran, dass sein Verfasser aus dem Norden Englands stammt. Er wurde in Manchester geboren und studierte vier Jahre an der Hull Art School – sehr wahrscheinlich zur gleichen Zeit wie Peter Everett, der Negatives schrieb, ein weiterer düsterer Noir, in Großbritannien unterschätzt und 1964 von Cape herausgegeben (mit Verunsicherung, wenn die unsägliche Gestaltung des Covers etwas ist, woran man sich orientieren kann) und später von Claude Chabrol verfilmt. Wie Lewis’ Roman katapultierte dieser Roman den Mord zurück auf die Straße, hinein in die erdrückende Realität der Slums von Notting Hill. Auch er verband Wahnsinn und sexuelle Perversion mit Mord (die drei reisen niemals getrennt, was immer die M’Naghten Rules auch sagen mögen), genauso wie Lewis es in seinen Büchern tat. Was diese verfallenden, wirtschaftlich sterbenden und benachteiligten Städte im Norden anbelangt – Newcastle, Liverpool, Hull und Manchester –, ich habe einige von ihnen kennengelernt. Neben London sind sie die mit der meisten Gewalt, der größten Verzweiflung im Lande, und Lewis’ Verständnis für ihre Atmosphäre der Hoffnungslosigkeit, die gefauchten Dialoge als Ausdruck mörderischen Misstrauens, brodelnd vor Hass selbst zwischen Angehörigen ein und derselben Familie oder offenkundig lebenslangen Freunden lassen bei mir die Frage aufkommen, wie nah genau ihm die düsteren Geschichten waren, die er erzählte, wenn sie nicht gar autobiografisch waren oder verknüpft mit Leuten, die ihm im wirklichen Leben nahestanden, womöglich sogar mit seiner Familie. Für mich ist es schwer nachvollziehbar, wie, wo oder weshalb er sonst eine derart genaue Analyse von ihnen gemacht haben könnte.

      *

      Ich kannte Ted Lewis – nein, ich kannte ihn nicht, ich saß nur neben ihm. Niemand, den ich kannte, kannte jemals Ted Lewis – es war ausgeschlossen, ihn kennenzulernen, nicht einmal oberflächlich. Ich traf auf ihn, weil Jack's Return Home in derselben New-Authors-Reihe von Hutchinson (längst eingestellt) erschien wie mein erster Roman. Lewis war so regelmäßiger Gast des Pubs unter Hutchinsons Büro, des Horse and Groom in der Great Portland Street, genau wie der Rest von uns (inklusive unseres Lektors Graham Nicol). Und aus dem gleichen Grund – nicht nur des Biers wegen, sondern weil wir sehen wollten, ob wir ihnen nicht zusätzlich zu unserem Vorschuss ein paar Scheine aus den Rippen leiern konnten (niemand von uns hatte es leicht und ich hatte dazu noch eine kostspielige Freundin!).

      Aber Lewis saß ausnahmslos allein am anderen Ende der Bar, und ich sah ihn nie mit einem Mädchen. Gewöhnlich saß er nach vorn gebeugt, mit einer Haltung, die entfernt an einen Betenden erinnerte, den Kopf dabei auf seine Arme gestützt. Und keiner von uns hat ihn je kennengelernt, denn er war immer völlig betrunken. Er hatte blondes Haar, sah gut aus, hatte ein Gesicht, das ich mochte. Und ich hätte überhaupt nichts gegen ein langes oder auch nur kurzes Gespräch mit ihm einzuwenden gehabt, insbesondere nachdem ich Jack’s Return Home gelesen hatte.

      Es ist mir nie gelungen. Man konnte etwas zu ihm sagen, aber er erwiderte nichts darauf, und sah man ihm ins Ge­­sicht, vermittelte sich einem im Gegenzug nur der geheimnisvolle Anblick, den man von einem Fenster aus Buntglas erwarten würde. Ich denke, das war 1962 oder 1963. Ich ging dann zurück nach Spanien und Tanger und sah ihn nie wieder.

      Ich weiß nicht, ob jemand von den anderen im Horse ihn jemals richtig hatte kennenlernen können (ich traf nirgendwo anders auf ihn). Aber welcher Mensch ist geheimnisvoller als der stumme Trinker?

      Nicht dass der Eindruck entsteht, das Vorangegangene sei eine Kritik an Lewis. Das ist es nicht. Es ist nur eine Erinnerung an ihn, die ich mir bewahrt habe – und eine, die 28 Jahre alt ist. Kritik? Fernab jeder Kritik erinnert mich Lewis eher an meine Vorstellung, wie David Goodis ausgesehen haben könnte, und schmeichelhafter könnte ich mich kaum äußern.

      Um aber zu meinem Anfang zurückzukehren, die Lektüre von GBH gab mir gewiss einen Einblick in die Gründe, weshalb sein Autor trank. Wie ich bereits sagte, denke ich, dass er einen Großteil dessen, worüber er schrieb, aus nächster Nähe kannte – eine Nähe, die wo­möglich gefährlich war. Das an seinem Werk springt einem sofort ins Auge. Wie auch immer es sich in Wahrheit verhalten mag, er hat den Dialog der Leute perfekt eingefangen, bis zur letzten Kadenz.

      Bleibt mir nur noch, ihm meinen Respekt für seinen Mut zu zollen, der ihn dazu befähigte zu schreiben, wie er schrieb, solange er schrieb, das Grauen, das ihn um­gab, mit Begriffen des eigenen inneren Grauens zum Ausdruck zu bringen, wenn nötig, mit Unterstützung des Alkohols oder einer anderen Waffe, um sich selbst Beine zu machen. Indem er es vorzog, der Straße direkt ins Angesicht zu schauen, statt von oben, hinter einer Gardine einen verstohlenen Blick darauf