Ditte Cederstrand

Alle meine Kinder


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finden, etwas ganz anderes sagen müssen. Er fühlte sich merkwürdig betrogen – oder, wie sollte er das erklären –, er hatte erwartet, daß Kurt das anders aufnehmen würde, daß er irgendwie reeller gewesen wäre. So was Ähnliches wie: ‚Ja, du mußt wirklich entschuldigen, Vater.‘ Aber diese stumpfsinnige Art, nur dazustehen und mürrisch zu gucken.

      Gunvor rief von unten: „Erik, bist du oben, komm doch mal eben, ja?“

      Er konnte an der Stimme hören, daß es wichtig war. Na ja, jetzt hatte er ihm jedenfalls Bescheid gesagt. Er mußte den Burschen von nun an etwas mehr im Auge behalten. Er schloß die Balkontür, sah noch eben, daß Marianne zu Harry auf die Veranda gekommen war. Sie beugte sich herab und küßte ihn. Er schnitt eine Grimasse.

      Gunvor saß im Herrenzimmer, Rie stand daneben und sah beleidigt aus. Pusser war offenbar nach Hause gegangen. Er ging zu ihnen hinein und nahm eine Zigarette. Er blieb am Rauchtisch stehen und zündete sie an, immer noch bekümmert. „Was ist denn nun?“ fragte er mürrisch. Gunvor sah ihn von der Seite an, sagte jedoch nichts. „Ich versuche, mit Rie ein bißchen über, ja, also über Pusser zu sprechen. Wie gesagt, Rie, ich habe schon viel früher zu Vater gesagt, daß wir den Ton und die Sprache, die Pusser mitbringt, daß wir das also nicht länger tolerieren können.“

      „Früher, das stimmt nicht! Natürlich steckt da Marianne hinter, glaubst du, ich weiß das nicht? Dumme Gans! Nie darf man was zu ihrem – geliiiiiebten Harry sagen!“

      „Es ist schon so, wie Mutter sagt“, warf Erik ein, „wir haben darüber gesprochen.“

      „Und wenn es so wäre“, meinte Gunvor wahrheitsliebend, „man muß sich ihretwegen jedenfalls bald schämen. Ihr werdet allmählich etwas zu erwachsen. Das hab ich schon öfter gesagt.“

      „Dann versteh ich nicht, wieso du das noch mal sagst.“ „Weil ich nicht sehen kann, daß sich etwas geändert hat. Sie muß lernen, sich etwas, hm, gedämpfter zu benehmen.“ „Es ist doch so“, sagte Erik, immer noch mit einem gewissen Wohlwollen für das Mädchen, „daß sie vergißt, Rücksicht auf andere zu nehmen.“

      „Tut denn das jemand hier im Haus?“

      „Ja, das wird getan.“

      „Vielleicht Kurt und Marianne, wie?“

      „Jetzt sprechen wir von Pusser. Vielleicht kannst du sie dazu bringen, daß sie – daß sie sich etwas manierlicher aufführt!“ Erik setzte sich zu ihnen. „Du selbst weißt doch, wie du dich zu benehmen hast.“

      „Pfui, wie gemein ihr seid!“ Rie schlug auf die Rückenlehne des Stuhls. „Genauso gemein wie vorhin Marianne – ganz genauso –, Pusser erziehen, sie ändern! Aber an ihr soll nichts geändert werden, damit ihr’s wißt, die ist wirklich in Ordnung, und Marianne soll es nur wagen, sie zu kritisieren; wenn wir allein sind, dann soll sie mal ... zum Teufel ...“

      „Es sagt ja keiner, daß Pusser nicht in Ordnung ist“, fing Erik an.

      „Anders kann man das aber nicht verstehn. – Sie soll geändert werden, weil sie einfach und gradezu ist und es nicht so gut wie gewisse andere versteht, sich einzuschmeicheln.“

      „Hör mal“, Gunvor wurde ungeduldig, „das ist doch in ihrem eigenen Interesse! Ich sage es geradeheraus, Rie – wenn sie weiterhin hier ein- und ausgehen will, dann muß sie sich besser benehmen.“

      „Ihr wollt mir vielleicht geradezu verbieten, daß ich mit ihr zusammen bin?“

      „Selbstverständlich nicht, wann haben wir euch jemals etwas verboten? Sag mir das! – Aber wir wollen nun mal hier alle zusammensein können, auch Mutter und ich, und da muß man eine angemessene Rücksicht verlangen können.“

      „Uff, ihr quasselt und quasselt, aber es stört euch natürlich nur, daß sie nicht fein genug ist, nicht so fein wie wir – oder richtiger, wie ihr glaubt, daß wir’s sind.“

      „Ach, Unsinn!“ Erik wurde ärgerlich, „wir machen wirklich keinen Unterschied.“

      „wenn’s drauf ankommt, macht ihr trotzdem einen. Ihr habt uns selbst beigebracht, daß die Menschen gleich sind. Alles Quatsch!“

      Gunvor wurde langsam erregt. „Ich weiß nicht, warum du so verbohrt bist. Du kannst doch wohl selbst ein bißchen denken.“

      „Eben das kann ich vielleicht.“

      „Was meinst du?“

      „Daß ihr bis zum Rand vollgestopft seid mit Vorbehalten und unausgesprochenen Vermutungen, ihr tut so als ob ... redet auch so, aber wenn man das dann wirklich macht, kennt euer Ärger keine Grenzen.“

      „Jetzt bist du aber ungerecht!“ rief Gunvor aus.

      „Man selbst soll sich an die Theorien halten, die Praxis gilt für alle anderen, doch, ich verstehe langsam“, fuhr Rie erregt fort, „aber wenn ihr glaubt, daß ich Pusser aufgebe, dann irrt ihr euch!“

      „Wer sagt, daß du sie im Stich lassen sollst?“ fragte Erik.! „Im Gegenteil, hilf ihr! – Hör mal, wenn jemand das Geringste sagt, was euch verletzen könnte, explodierst du – aber du kommst nicht auf die Idee, daß ich Ausdrücke, die meine Frau verletzen, nicht so einfach tolerieren kann. Wie nun neulich, hm, das mit dem Schaf.“ „Du lieber Gott, seid ihr so zartbesaitet?“

      „Zartbesaitet oder nicht, es stört uns. – Überhaupt habt ihr euch ein Benehmen zugelegt, als ob wir so eine Art beschwerliches Anhängsel wären; und daß ihr es wißt, du und Kurt, das ist zufällig unser Heim!“ konstatierte Erik, erhob sich und ging.

      Nun reichte es langsam.

      „Er ist böse geworden“, sagte Gunvor vorwurfsvoll. „Dazu gehört schon was.“

      „Hm!“ sagte Rie.

      Erik stand hinter der Garage, wollte für ein paar Augenblicke Ruhe haben. Erst das mit Kurt und dann Ries ungereimte Beschuldigungen. Ziemlich viel auf einmal. Und jedesmal, fand er, kamen sie zu kurz, er und Gunvor. Obwohl das Recht sehr deutlich auf ihrer Seite war, drehten die jungen Leute doch alles um und schafften es, daß das Ganze verkehrt aussah, auch was man selbst sagte, wurde dadurch gleichsam verkehrt. Und verkehrt aufgefaßt. Natürlich hatten sie ihnen beigebracht, daß Arbeiter Madsens Tochter ebenso lieb und nett sei wie andere kleine Mädchen und wie die Töchter von Ingenieur Petersen und daß sie bei den Geburtstagsfesten und was da sonst noch passierte, bei den Spielen und all dem, selbstverständlich nicht ausgeschlossen werden sollte; aber ... er unterbrach sich – betonte er jetzt nicht selbst den Unterschied, den Gunvor und er nach Ries Behauptung machten? Zum Kuckuck, es gibt einen Unterschied. So ist das, obwohl es vielleicht nicht so sein sollte. Aber warum bringt man ihnen dann etwas anderes bei? Der Unterschied ist da. Da kommt man nicht drum herum. Es gibt Dinge, die man versuchen kann zu ändern, aber wenn man es nicht kann, kann man eben nichts machen. Er mußte an die Worte der Jungen denken: „Ihr steckt von vornherein auf. Warum ändert ihr nichts an all dem, was verkehrt ist?“ Aber was kann man tun? Wenn das, was man bisher im Leben ausgerichtet hat, nach bestem Wissen und Gewissen geschah?

      Er dachte daran, wie er und Gunvor einmal vor ein paar Jahren in einer Mittsommernacht etwas früher als die anderen vom Johannisfeuer aufgebrochen waren. Die Kinder lärmten hinter ihnen und vollführten, während das Feuer allmählich erlosch, wilde Verrenkungen, um kleine geröstete Semmeln, Würstchen und Kastanien aus der Asche zu retten. Pussers und Ries laute Stimmen und die der Jungen, die so deutlich im Stimmwechsel waren, schallten weithin. Gunvor hatte seinen Arm leicht gedrückt und gesagt: „Du, diese Zeit jetzt, das müssen wohl ‚jene glücklichen Jahre‘ sein.“ Aber sie waren doch noch nicht vorbei. Oder doch? Unsinn, sie waren immer noch mitten drin, natürlich waren sie das. – Sich wegen ’nem bißchen Mißstimmung aus dem Gleis werfen lassen! Die Schmetterlinge sprengen die Puppe, dachte er, das tun sie. Sollte der Teufel Grillen fangen, wenn es einem so gut ging wie ihnen und wenn man so prächtige, gesunde und aufgeweckte Kinder hatte. Sollte der Teufel...!

      Pusser kam zum Abendessen wieder. Sie bruzzelten sich alle fünf etwas zusammen und aßen in der Küche.