ewig in Abhängigkeiten, man denke nur an Ersatzteillieferungen und die Kreditrückzahlungen. Zumeist betrifft diese Hilfe ohnehin nur bestimmte Sektoren, die nicht lebenswichtig für die Bevölkerung sind. Die technische Hilfe dient in erster Linie deutschen Wirtschaftsinteressen.«
Als Filmemacher erlebt man oft genug langweilige Diskussionen nach den Vorführungen; nicht so mit Jean Claude. Nach einer längeren Debatte über das Für und Wider der kirchlichen Hilfe für die Unterentwickelten stand eine ältere Dame auf und rief geradezu verzweifelt: »Aber was soll dann aus uns werden, Herr Diallo, wenn wir nicht mehr helfen dürfen?« Bei einer anderen Diskussion mit afrikanischen Studenten über die sich ständig verschlechternde Situation in Afrika rief ein junger Afrikaner dramatisch in den Saal: »Wohin führt uns das, Jean Claude?« Woraufhin der antwortete: »Das siehst Du doch, Mann, nach Frankfurt!« In diesem Frankfurt – und ich bin wahrlich nicht der Einzige – fühlte ich mich wohl, solange Jean Claude Diallo unser spirituelles Oberhaupt war. Inländer-Ausländer? Deutsche-Europäer? Schwarze-Weiße? Mit Jean Claude zusammen entwickelten wir unsere eigene gemeinsame Staatsbürgerschaft, wir waren Frankfurter. Und ich bekam von niemandem sonst so wunderbare Postkarten aus dem Urlaub wie von ihm, wenn er zum Beispiel schrieb: »Ich habe Sehnsucht nach euch.« Um so etwas zu schreiben, waren wir anderen wahrscheinlich (noch) zu verklemmt.
Jean Claude hatte unseren Film Viva Portugal gesehen über die Rückkehr des Landes zur Demokratie nach langen Jahrzehnten der Diktatur. So einen Film wollte er über sein gerade erst vom Diktator Sékou Touré befreites Land machen. Seine Begeisterung für dieses Projekt steckte erst mich an und dann die Redakteure beim ZDF und dem WDR, die zunächst müde abgewunken hatten. Der Einsatz von Jean Claude und mir beflügelte dann die sonst konkurrierenden Redakteure so sehr, dass sie schließlich gemeinsam überlegten, wie sie das Budget für den Film zusammenbekommen konnten. Heraus kam »der unprätentiöseste Dritte-Welt-Dokumentarfilm, den ich kenne«, wie ein Kritiker später nach einer Kinoaufführung schrieb – und er ergänzte: »Wenn der Film in Fahrt kommt, enthüllt sich die lässig langsame Authentizität als ein verblüffendes, überzeugendes Darstellungsmittel.« Unschwer, Jean Claudes Handschrift dabei zu erkennen.
Für die Guineer war Jean Claude nicht nur »I’allemand«, weil er meistens pünktlich kam und sehr engagiert bis stur bei der Sache war, er war auch ET, »I’Extra Terrestre«, der Außerirdische, der aus dem sicheren deutschen Wohlstand in Frankfurt am Main in ihr darniederliegendes Land kam, um sich intensiv mit dem Schicksal der aus den Todeslagern Befreiten auseinanderzusetzen, wie dem stadtbekannten »Seni-La-Presse« aus dem »Camp Boiro«. Als er zum Verantwortlichen für die Medien ernannt wurde, setzte er sich sofort für die Befreiung von Presse, Radio und Fernsehen von der Zensur ein. Aber er ging auch gegen jene vor, die sich nach wie vor die Taschen vollstopften, auf Kosten der Bevölkerung; jene »Zehn-Prozent-Minister«, wie die Nutznießer der Korruption im Volksmund hießen. »Da werden einfach 20.000 Schweizer Franken zu viel auf die Rechnung für einen Regierungsauftrag geschrieben«, erzählte er uns damals empört, »die kassiert dann der Regierungsvertreter, aber Guinea muss das alles bezahlen«. Als Mitglied einer neu gegründeten Wirtschaftskommission wollte er eine »débat national«, eine landesweite öffentliche Debatte über die Vorschläge des Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Weltbank für eine angebliche Gesundung des Landes in Gang bringen. Er hatte bei seinen Verhandlungen mit deren Vertretern schon bald erkannt, dass sie die wirklich Mächtigen in der Dritten Welt waren. »Ich hatte das Gefühl, dass eigentlich sie es sind, die uns regieren, dass wir nur Hampelmänner und Marionetten sind. In Sitzungen mit IWF-Vertretern wurden wir immer wie kleine Schüler behandelt.«
Manches erinnerte uns an unsere Heimatstadt Frankfurt: Einmal drehten wir das schöne Viertel »quartier du rail« im Zentrum von Conakry; es waren schöne alte Häuser im Kolonialstil, gebaut für die Angestellten der Eisenbahn. Sie sollten abgerissen werden, um modernen Neubauten zu weichen. In Madame Yattaras Restaurant filmten wir dann die französischen »Projektentwickler«, die beim dritten Gang und vielem Rotwein Jean Claude überschwänglich erzählten, was für ein Schnäppchen für sie das Projekt »quartier du rail« sei, wie auch andere Geschäfte, die sie quasi über Nacht steinreich machen würden. Die Bevölkerung wusste Bescheid, blieb aber machtlos. Über téléphone-trottoir wussten sie auch, was später Jean Claude bestätigt fand, dass der Gouverneur der Zentralbank im Zusammenhang mit dem Projekt sieben Millionen US-Dollar nach Paris überwiesen hatte und dann selbst dorthin abgehauen war.
Einige Jahre später, nachdem Jean Claude von allen seinen Ämtern zurückgetreten und nach Frankfurt zurückgekehrt war, besuchte er als Privatmann noch einmal Conakry. »Erinnerst du dich an diese tausend Wohnungen, die im >quartier du rail< gebaut werden sollten?« fragte er mich. »Diese Wohnungen sind nie gebaut worden. Heute ist an diesem Platz kein einziges Haus mehr zu sehen; die wurden total abgerissen. Woanders werden Prachtvillen gebaut, gegen die Wohnungsnot wird nichts unternommen. Die kleinen Leute bauen sich irgendwelche Spelunken, damit sie das Gefühl haben, sie haben ein Haus, aber bei jedem Regen werden sie nass, weil alles undicht ist.«
Essenszeit! Filmteam von Malte Rauch stärkt sich
Erstes Familientreffen in Conakry
Über die Weihnachtsfeiertage 1984 und Neujahr kommen unsere Söhne Jérôme und David mit Ria und Josef, unseren Freunden, meine Mutter Therese mit meiner Tante Maria, einer alten Dame mit viel Interesse für alles Neue und Unbekannte – eine echte Abenteurerin, Jean Claudes Bruder Pierre, Abdoulaye und Mouctar – Freunde. Alle möchten vor Ort den erwarteten Aufbruch in Guinea spüren.
Schwierige Wetterbedingungen und Probleme am Brüsseler Flughafen verhindern den Abflug der Reisenden aus Deutschland. Sie müssen von Brüssel zurück nach Frankfurt und können am ersten oder zweiten Weihnachtsfeiertag endlich reisen. Wir verbringen zwei gemeinsame Wochen im Haus meiner Schwiegermutter. Tage gefüllt mit Gefühlen, Plänen und Diskussionen. Von hier aus machen wir Ausflüge nach Forécariah – hier wohnt die Familie des Vaters – und in das Dorf eines Freundes von Jean Claude. Danach reise ich gemeinsam mit den anderen im Januar zurück nach Frankfurt. Jean Claude bleibt länger in Conakry, um die ersten Schritte auf dem politischen Parkett Guineas vorzubereiten.
MARIA STROH
Den folgenden Reisebericht hat meine inzwischen verstorbene Tante Maria, eine Musiklehrerin, die mit wenig Geld viele Länder dieser Erde bereiste, 1986/87 geschrieben. Sie war damals 73/74 Jahre alt, als sie zu uns nach Guinea kam.
Maria Stroh erste von rechts (1984-85)
Sie ist die Schwester von Barbaras Vater. 1912 geboren, studierte sie Musik und lebte als alleinerziehende Mutter zweier Söhne (ihr Mann war im Krieg gefallen) in Würzburg. Sie arbeitete als Klavierlehrerin und Organistin. Als ihre Söhne erwachsen waren, begann sie die Welt zu bereisen. Mit wenig Geld schaffte sie es trotzdem, unglaublich viele Länder kennenzulernen. Es wurde zu einer Leidenschaft. Sie starb mit 86 Jahren.
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