faama go«! (Vorsicht, die Deutsche wird kommen!) Man sprach Susu, damit nur die Freunde es verstehen konnten.
Weit weg von Guinea war Jean Claude nie ganz von seiner Familie getrennt. In Lausanne lebte ein sehr naher Verwandter von ihm, sein Cousin Bouba Aribot. Er war Apotheker und war mit einer Schweizerin verheiratet. Er war der älteste der guineischen Gemeinde in der Schweiz, somit war er eine Respektsperson und wurde bei wichtigen Entscheidungen gefragt. Es lebte auch eine weitläufige Cousine, Michelle, mit ihrem Mann Alain und ihren Kindern in der Nähe. Die Abende bei den Elzigs waren für ihn ein willkommener Ausbruch aus den täglichen Sorgen und Nöten. Die köstlichen Gerichte seiner Cousine ließen ihn eintauchen in eine familiäre Stimmung, und Alain, ein freundlicher, sympathischer und schelmischer Mann, machte gerne Späße, um die Abende so angenehm wie möglich zu gestalten. Von Zeit zu Zeit tauchten auch die Wahlschwestern Martine und Anna aus Paris auf. Es waren die Töchter von Adele und Alassane Diop, Freunde der Familie aus dem Senegal, mit denen er sich stark verbunden fühlte, vor allem Allassane Diop verehrte er sehr. Er war Minister für Kommunikation unter Sékou Touré und kam im Zuge der Säuberungsaktionen in das gefürchtete Gefängnis »Camp Boiro« in Conakry. Er verbrachte zehn Jahre dort. Diese Tatsache war ein weiterer Grund, sich von Sékou Touré und seinem Regime zu distanzieren.
Jean Claude beendete sein Studium der Psychologie mit dem Diplom, gab seine Wohnung auf, und die Clique von Montelly löste sich auf. Er verließ Lausanne mit einem Gefühl, nicht alles erreicht zu haben. Sein Freund Roby, der mit ihm in Lausanne lebte, hatte sein Studium nicht weitergeführt, sondern suchte nach einem leichteren Weg, um zu überleben. Roby hatte, nachdem Jean Claude Lausanne verlassen hatte, den Kontakt zu ihm abgebrochen. Er konnte wohl den Erfolg des Freundes und das eigene Versagen nicht ertragen. Später sprach Jean Claude oft mit Bitterkeit über diese Geschichte. Auch versuchte er einige Jahre danach, Roby in Frankreich wiederzufinden, erfuhr aber nach Jahren, dass der Jugendfreund, dessen Freundschaft er immer hochgeschätzt hatte, unter sehr traurigen Umständen an Krebs verstorben war.
In der guineischen Tradition, besonders bei den Susu, unterscheidet man zwei Arten von Eigenschaften bei einer Person. Solche, die andere Menschen anziehen, und solche, die durch ihre Art des Verhaltens andere abstoßen. Es ist unbestritten, dass die Aura, mit der der Schöpfer Jean Claude umgeben hat, wie ein Magnet auf andere Menschen wirkte. Seine große Fähigkeit zuzuhören und seine Toleranz machten ihn zu einem Verbündeten. Jedem seiner Gesprächspartner, auch Kindern, Jugendlichen oder Alten, ließ er die gleiche Beachtung und Aufmerksamkeit zuteil werden. Seine Hilfsbereitschaft ohne Rücksicht auf Herkunft oder Religion, ohne Zweifel ein Erbe seiner Erziehung zu Hause, waren für ihn eine Quelle intellektueller und moralischer Befriedigung. Anders ausgedrückt sagt man bei uns: Jean Claude hatte eine »gute Seele«.
Der nächste Lebensabschnitt führt Jean Claude nach Marokko. Wird er in diesem Land eine berufliche Zukunft haben?
Der lange Arm des Diktators Touré
Im Frühjahr 1977 hatte JC sein Diplom als Psychologe mit den Schwerpunkten Arbeits- und Betriebspsychologie abgeschlossen. Jetzt stellte sich die Frage, wie es für ihn weitergehen sollte. In der Schweiz bleiben, kam nicht in Frage. Sechs Jahre Studium in Lausanne waren genug. Nicht weil er die Schweiz und die Schweizer nicht mochte, sie hatten keinen Platz in der Vorstellung seines zukünftigen Lebens. Erst einmal alles zusammenpacken, bei einem Cousin die Dinge, die er vorerst nicht brauchte, abstellen, und dann für einige Zeit zu seinem älteren Bruder Pierre nach Marokko fahren, der dort als Chirurg in einer Klinik im Süden des Landes praktizierte. Er wollte Urlaub machen, um sich vom Stress des Diploms zu erholen. Danach konnte er weitersehen.
Während seiner Studienzeit waren Jean Claude und ich oft mit meinem kleinen Auto nach Marokko gereist, hatten das Land erkundet, hatten wunderbare Zeiten bei Pierre verbracht und durch ihn auch Freunde gefunden. Einige der Freunde dort waren ebenfalls Guineer wie JC und Pierre. Erstaunlicherweise kannten sich damals fast alle Guineer, die im Ausland lebten; sie hatten das einzige Gymnasium Conakrys durchlaufen, deshalb kannte man sich oder war verwandt oder befreundet. Egal wo wir gemeinsam hinfuhren, es gab immer einen Freund, eine Freundin, einen Cousin oder eine Cousine, die auf Grund der politischen Situation im Heimatland nach dem Studium nicht zurück nach Hause konnten oder wollten, sondern sich in Europa, den USA oder Kanada niedergelassen hatten. Man lebte aber immer in der Hoffnung, bald nach Hause zurückkehren zu können.
JC teilte mit ihnen dieses Schicksal. Auch er konnte aus politischen Gründen nicht nach Guinea zurück; das Regime in Conakry zählte ihn zur Opposition und somit zum Kreis der sogenannten fünften Kolonne. Es handelte sich dabei um eine Gruppe Guineer, die 1970 bei dem von Ansou Camara beschriebenen Putschversuch den damaligen Staatspräsidenten und Diktator Sékou Touré stürzen wollten. Der Versuch misslang! Es folgte eine Zeit der Festnahmen und Verdächtigungen im Land; viele Persönlichkeiten aus Politik und Militär wurden eingekerkert, gefoltert, und manche kamen dabei ums Leben. Touré verdächtigte daraufhin auch Landsleute, die im westlichen Europa lebten, da er überzeugt war, dass der Putschversuch von Frankreich aus gesteuert worden war.
Marokko war für JC eine brauchbare Alternative, auf afrikanischem Boden gelegen, und in der Nähe seines Bruders sein zu können, das waren für ihn zwei wichtige Pluspunkte. Nach einer kurzen Erholungszeit streckte er seine Fühler aus um herauszufinden, ob sich für ihn in diesem Land eine berufliche Perspektive entwickeln könnte. Das Glück war auf seiner Seite. Ein alter Freund aus der Schulzeit lebte in Khouribga. Er war Arzt und lebte dort mit seiner Frau. Über ihn erfuhr er, dass die Firma »Société des Phosphates Chérifiens« einen jungen Psychologen suchte, um einen ausscheidenden Kollegen zu ersetzen. JC bewarb sich sofort, hatte Glück und wurde eingestellt mit einer Probezeit von drei Monaten.
Khouribga, eine Retortenstadt in Marokko, liegt zwischen Casablanca und Marrakesch. Wenn man die Nationalstraße – heute ist es eine Autobahn – etwa auf halber Strecke Richtung Osten verließ, durchquerte man eine trockene, ockergelbe, hügelige Landschaft. Es wuchs hier nicht viel, hier lag und liegt ein Schatz unter der Erde – Phosphat, ein begehrter Basisstoff für Düngemittel. Diese Phosphat-Vorkommen haben dazu geführt, dass damals, 1977, aus dem Dorf Khouribga eine kleine Stadt wurde. Heute zählt diese Stadt knapp 200.000 Einwohner. Es gab drei Ortsteile, Quartiers genannt, einen für die Kader und höheren Angestellten, einen anderen für die Bergleute, die in die Schächte einfuhren, um das begehrte Material abzubauen, und das alte ursprüngliche Dorf. Für diese Arbeiter und ihre Arbeitsplätze brauchte die Firma einen Betriebs- und Arbeitspsychologen.
Wir freuten uns alle über diesen Erfolg, und für JC ging ein Traum in Erfüllung. Es war eine unglaubliche Chance, als junger Mensch, zudem noch als Ausländer, in einer so großen und bekannten staatlichen Firma einen Arbeitsplatz zu finden.
Ich arbeitete damals in Königstein / Falkenstein im Taunus als frisch ausgebildete Ergotherapeutin. Als mich seine Nachricht erreichte, nahm ich Urlaub und besuchte ihn in Khouribga. Man hatte JC eine kleine Wohnung zugewiesen, und wir schmiedeten Pläne für unsere Zukunft, denn wir hatten uns nach acht Jahren Fernbeziehung für eine gemeinsame Zukunft entschieden. JC ging morgens in sein Büro und erzählte dann am Abend von seinen ersten Arbeitserfahrungen.
Er führte Tests bei Bewerbern für die unterschiedlichen Bereiche des Phosphatabbaus durch, begutachtete die Arbeitsplätze und war fasziniert von dieser ihm völlig unbekannten Welt der Minenarbeiter.
Zurück in Falkenstein begann ich, meine Auswanderung nach Marokko zu planen. Weit kam ich dabei nicht, denn schon nach kurzer Zeit kam die Nachricht von JC, dass er innerhalb von, ich glaube, vierzehn Tagen oder nur acht – ich weiß es nicht mehr genau – das Land verlassen musste. Neues Ziel und einzige Möglichkeit war Frankfurt / Königstein.
Eine lange Reise ging vorerst zu Ende
Er verließ Deutschland 1971, um nach Italien zu gehen, von Italien in die Schweiz und nach Beendigung des Studiums von der Schweiz nach Marokko, um dann von Marokko unfreiwillig zurück nach Deutschland zu kommen. Marokko musste er verlassen, da die guineische Botschaft gegen seine Arbeitserlaubnis als Betriebspsychologe interveniert