Christoph Busch

EIN FRANKFURTER AUS AFRIKA


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übernehmen können, weil er selbst eine vergleichbare Hoffnung in sich trug: einmal wieder zurückkehren zu können in die Republik Guinea, seine ursprüngliche Heimat.

      Aber brauchte und wollte man in Sanski Most überhaupt ein »Begegnungszentrum«? Das war von Anfang an keineswegs klar. Denn niemand wusste, wie es weitergehen sollte nach den ethnischen Säuberungen im Bosnienkrieg.

      Allein das Wort »Ethnie«?! Man hatte doch zusammengelebt in Bosnien! Im gleichen Ort, nachbarschaftlich, die Kinder sind doch gemeinsam zur Schule gegangen! Aber dann – erst schleichend, schließlich plötzlich und höchst explosiv – Anfang der 1990er Jahre hat es begonnen und so geschah es im Bosnienkrieg. Die Kroaten wurden von den Serben gejagt, die Muslime von den Kroaten, und die Bosnier waren schließlich auch nicht nur Opfer. Sie wurden in diesem unfasslichen Krieg ebenfalls zu Tätern. Häuser der einen wurden von den anderen regelrecht in die Luft gesprengt. Ganze Dörfer sind im Zuge dieser mit allen Formen der Brutalität durchgesetzten ethnischen Säuberungen vernichtet worden – mitsamt der Bevölkerung.

      Und am Ende? Am Ende zerfiel das alte Jugoslawien. Jetzt wollten Kroaten nur noch mit Kroaten in ihrem Kroatien zusammenleben, Serben nur noch mit Serben in Serbien. Selbst die gemeinsame serbokroatische Sprache wurde neu definiert. Ihre Sprache hieß nun Kroatisch oder Serbisch. Und was würde aus Bosnien werden? In diesem kleinsten der jugoslawischen Teilstaaten gab es bosnische Serben, es gab kroatische Bosnier und schließlich gab es dort die bosnischen Muslime. Tatsächlich war das weitere Zusammenleben in Bosnien nach dem Krieg Ende der 1990er Jahre eine offene Frage. Und genau darum entstand die Idee, ein Begegnungszentrum zu errichten für offene, menschliche Begegnungen. Sanski Most schien für diese Idee ein geeigneter Ort zu sein. Die Stadt liegt genau an der Grenze zwischen den Bevölkerungsgruppen. Die nächste Stadt – Prijedor – ist serbisch. War ein friedliches Zusammenleben trotz aller erlebten Zerstörungen und Schrecken vielleicht doch wieder möglich? Der Evangelische Regionalverband Frankfurt am Main stand mit solchen Überlegungen nicht allein. Vielmehr traten in Bosnien zahlreiche internationale Hilfsorganisationen auf den Plan. In Deutschland war es der CDU-Politiker Schwarz-Schilling aus Hessen, der sich für einen Dialog der unterschiedlichen Gruppen in Bosnien engagierte. »Hessen hilft« nannte er seine Hilfsaktion. Der Plan des ERV11 war in diesem Zusammenhang ein Baustein der Hilfsbereitschaft. Und Jean Claude Diallo hat das in dieser Situation zu seiner Sache gemacht. War Jean Claude der spiritus rector der einen Seite, so stand ihm auf der anderen Seite der Bürgermeister von Sanski Most gegenüber, Mehmed Alagic. Alagic war im Jugoslawienkrieg General der bosnisch-muslimischen Armee gewesen. Und kurz vor dem von den USA durchgesetzten Friedensabkommen von Dayton hatte General Alagic in einer militärischen Blitzaktion die Stadt Sanski Most und das umliegende Gebiet für die bosnische Armee eingenommen. Sodass Sanski Most schließlich – anders als ursprünglich vorgesehen – dem muslimischen Teil Bosniens zufiel. Dafür war ihm die Bevölkerung von Sanski Most für immer dankbar. Sie hat ihn wegen dieser »Heldentat« verehrt wie einen Heiligen. Es gibt einen Film, der Mehmed Alagic später zeigt, im Jahr 2003, als er verstorben war. Da sieht man Alagic im Sarg aufgebahrt auf dem zentralen Platz. Die Bevölkerung steht in langen Reihen. Jede und jeder tritt an den offenen Sarg; viele küssen den von ihnen verehrten Toten. Als ich diese Bilder sah, habe ich begriffen, wie sehr Mehmed Alagic von den Menschen in Sanski Most verehrt worden war.

      Der Plan, mitten in Sanski Most einen Ort neuer Begegnung zu schaffen, – das war das hoffnungsgeladene Angebot. Niemand wusste, was daraus werden würde. Jean Claude ging damit trotzdem selbstbewusst nach vorne. Und so kamen wir in Sanski Most an. Noch während wir im Hotel Sanus beim Frühstück saßen, kamen die ersten Männer und die wenigen Frauen, unsere Gesprächspartner der bosnischen Seite. Jean Claude war bereits ein- oder zweimal vor Ort gewesen. Jetzt begrüßten sie sich wie alte Freunde – lachend, laut, herzlich und mit einer Umarmung. Und schon saßen alle zusammen, um zu reden, zu erzählen, in den Tag hinein zu planen.

      Wie hat Jean Claude das gemacht: nicht einfach nur höflich und freundlich zu sein, sondern tatsächlich eine Atmosphäre von Freundschaft entstehen zu lassen, die alle zu ergreifen schien! Auch in dieser unvertrauten, fremden Umgebung?!

      Wenig später verließen wir das Hotel. Die gesamte bosnisch-deutsche Gruppe schritt über die alte Brücke und ging dann rechter Hand zum Ufer des Flusses Sana. Dort am Ufer der Sana sollte das Begegnungszentrum einmal errichtet werden. Ein junger Architekt und seine Frau – selbst Kriegsflüchtlinge aus Sanski Most, inzwischen in Wien lebend – standen bei diesem Planungsgespräch im Mittelpunkt. Sie hatten einen ersten Plan ausgearbeitet und präsentierten nun ihre Vorstellungen. Alle hörten ihnen zu, alle versuchten, in die Skizzen und Zeichnungen hineinzuschauen. Auf der Seite der Bosnier waren das: der Arzt, der perfekt Deutsch sprach, der leitende Mitarbeiter einer Firma für Baustoffe, ein Schriftsteller auch und etliche Mitarbeiter der Stadtverwaltung, einige weitere Personen und schließlich Lehrerinnen und Lehrer des Gymnasiums, unter ihnen der Schulleiter und sein Stellvertreter.

      Bereits bei der Vorstellung des ersten Planes kamen zentrale Punkte des Projektes zur Sprache. Jean Claude stand dabei immer wieder in der Mitte – zuhörend, fragend, argumentierend, anregend, werbend für die Idee der Verständigung und des Dialogs. Genau das sollte in dem geplanten Begegnungszentrum einen Ort finden. Jean Claude stellte noch einmal allen vor Augen, was sie ohnehin sahen: die im Moment vom Krieg versehrte, aber doch tatsächliche Schönheit dieses Teils von Sanski Most. Aber schon ging es weiter – Fragen, Befürchtungen, Statements: Wem soll das Haus gehören? Und wie soll das überhaupt gehen – ein offenes Haus für alle! Auch für Jugendliche? Was ist das eigentlich: ein Dialog zwischen den Religionen? Und wie könnte das Gespräch zwischen ehemals Verfeindeten verlaufen? Wäre beispielsweise eine Begegnung mit Tanzen nicht besser? Und wenn ja, wäre denn dafür im Plan überhaupt ein großer Saal vorgesehen? Immer neue Gesichtspunkte kamen ins Gespräch. Jean Claude Diallo erzählte wieder von Frankfurt. Er erzählte von der Christus Immanuel Kirche, dem vielseitigen Begegnungs- und Veranstaltungsort für Kirchengemeinden aus unterschiedlichen Nationen. Und er berichtete vom Zusammenleben der Menschen aus vielen Nationen in der Stadt am Main. Die neuen bosnischen Freunde hörten interessiert zu, fragten nach und brachten ihre eigenen Vorstellungen ein. Auch praktische Fragen wurden schon jetzt angesprochen: Was soll das Ganze eigentlich kosten? Was bekommt der Architekt, wer bezahlt ihn? Und: Wer übernimmt die laufenden Kosten, wenn das Begegnungszentrum erst einmal steht?

       Begegnung mit Mehmed Alagić

      Einer war bei diesem und weiteren Gesprächen nicht persönlich anwesend und schwebte doch über allem: Mehmed Alagić, der Bürgermeister und ehemalige General. Er empfing seine Besucher in seinem Amtszimmer im Rathaus. Doch erst ließ er uns vor der Tür warten (»Der Bürgermeister hat noch ein wichtiges Telefonat, er hat gleich Zeit für Sie!«). Schließlich durften wir eintreten. Das Amtszimmer war voll mit Emblemen und Erinnerungen an den Jugoslawienkrieg – Fotos von Soldaten und der ehemalige General stets im Mittelpunkt. Pläne hingen an den Wänden, in die erfolgreiche Vormärsche eingezeichnet waren. Und es »zierten« sage und schreibe zwei Handgranaten den Schreibtisch im Amtszimmer. Die bosnischen Gesprächspartner saßen mit in der Runde. Sie waren es ja, die das Projekt Begegnungszentrum bereits zu ihrer Sache gemacht hatten. Sie unterstützten den Plan mit ihrem persönlichen Engagement und mit belebender Fantasie. So hatten sie bereits eine »udruzenja gradana« gegründet, eine Bürgervereinigung. Für diese hatten sie einen pathetischen Namen gefunden »Neue Vision – Nova vizija«. Über das alles war der Bürgermeister inzwischen informiert, und jetzt im Gespräch in seinem Amtszimmer lobte er die bosnisch-deutsche Zusammenarbeit an diesem Projekt in höchsten Tönen. Abends zogen dann alle in eines der nahen Restaurants – mit Alagic an der Spitze. Dort erhoben sich die anwesenden Gäste, einige machten eiligst Platz. Dann wurde aufgefahren, was die Küche hergab, und der Wein floss in Strömen. Jean Claude Diallo schien selbst diese Inszenierungen zu genießen. Er redete und lachte, er hörte und fragte, aß und trank mit sichtlicher Freude. Und ließ sich doch nicht blenden.

      Ich habe das bewundert: Jean Claude blieb stets auf Augenhöhe. Es ging um ein Begegnungszentrum in Sanski Most! Das war sein Ziel, ein Ort der Völkerverständigung und des Dialogs. Er selbst war von diesem Projekt überzeugt, und nun war er hier und wollte Mehmed Alagic und all die anderen