Nataly von Eschstruth

Von Gottes Gnaden - Band I


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wandte den Blick nicht von Erika ab. „Du, Tantchen, du! Das ist wohl begreiflich, aber die Kleine sehnt sich gewiss gewaltig nach der Residenz und den alten Freunden zurück.“ Seine Stimme klang nicht so fest wie sonst und die Unruhe in seinem Gesicht trat stärker hervor.

      Erika hob jählings den Kopf. Sie blickte voll zu ihm auf und lachte ebenso vergnügt und heiter wie sonst. Wie Sonnenschein ging’s über sein Antlitz. „Zurücksehnen? in mein schönes Pensionat? oder in die herrlich amüsanten Backfischkaffees, wo es zum guten Ton gehörte, in irgend einen Helden der Salons sterblich verliebt zu sein? Nein, Wigand, ich gehöre zu den unnatürlichen jungen Damen, welche weder eine Intima noch eine unglückliche Liebe zurückgelassen. Die Menschen beschäftigten bis jetzt nur meinen Verstand und mein Talent ‚zu beobachten‘, ich amüsierte mich im Ganzen, nicht im Einzelnen. Das Einzige, was ich bedaure, und zwar recht schmerzlich bedaure und vermisse, ist das Theater. Eine schöne Oper, eine gute Tragödie oder ein Lustspiel gehören zu den grössten Genüssen, welche man mir bieten kann. Dafür gebe ich alles andere hin. Hab’s auch gründlich genossen. Die gute Mutter hatte für uns abonniert, da war ich allabendlicher Gast in der Loge.“

      Als habe eine milde Hand beruhigend und klärend über seine Stirn gestrichen, lächelte Wigand mit aufleuchtendem Blick zu ihr nieder. Niemand sah und bemerkte es. „Du überraschst mich, ich habe bislang stets die Litteratur für deine grösste Passion gehalten.“

      „Für die grösste? Je nun, sagen wir, meine Vorliebe für gute Bücher geht mit meiner Freude an schönen Stücken Hand in Hand. Die Muse der Tragödie und die der Dichtung sind Geschwisterkind.“

      Frau Henriette neigte sich wieder über ihre Stickarbeit. „Ich versichere dir, Wigand, es war ein Genuss, mit dem Kind in das Theater zu gehen. Oft begriff ich selber nicht, woher die kleine Person ein so tiefes, reifes Verständnis für die Kunst her hat. Das verleitete mich, sie getrost alle Bücher lesen und alle Stücke sehen zu lassen, ausgenommen die mit französischer Tendenz. Das treffende Urteil und die hohe, seelische Auffassung alles dessen, was sie sah und hörte, mussten wohl ein angeborenes Talent sein. Hat ihr auch nichts geschadet, im Gegenteil, ich freue mich nun doppelt, dass sie einen so reichen Schatz der Erinnerung mit in diese einsame Welt genommen.“

      „Wird sie aber nicht als Sehnsucht nach Verlorenem an dir zehren, Erika?“

      Sie schüttelte mit aufleuchtendem Blick das Köpfchen. „Nein, die Sehnsucht und die Erinnerung werden mich wohl erfüllen, aber sie werden nicht an mir, sondern ich von ihnen zehren. Die Bücher folgen mir ja als treue Freunde hierher, ihnen sind göttliche Flügel gewachsen, Berg und Thal siegreich zu überwinden. Das Theater verlangt, dass man zu ihm kommt und solcher Prätension muss man Konsequenz entgegensetzen.“ Sie lachte wieder leise auf. „Meine Schaubühne ist nun Ellerndörp und wer Augen im Kopf hat, kann hier gar manches Lustspiel, gar manch tiefernstes Drama sehen. Es gehört nicht immer Lampenlicht dazu! das kleine, blitzende Sternchen der Poesie leuchtet bei Tag und Nacht.“

      Wie in stiller, entzückter Bewunderung hing Wigands Blick abermals an ihrem Köpfchen, es deuchte ihm, der goldene Stern, von dem sie soeben sprach, flimmerte geheimnisvoll über ihrer Stirn. Aber er wusste nicht, wie er das sagen sollte, er fand überhaupt keine Antwort seine Zunge war nicht geübt, die Trägerin seiner Gedanken zu sein. Niemand achtete darauf; Frau Koltitz strich zärtlich mit der Hand über die blonden Löckchen ihres Kindes, und das Feuer im Kamin flammte unter einem Windstoss hoch auf.

      Die Thür des Nebenzimmers ward geöffnet. Der Oberst trat wieder ein. Sein Gesicht drückte die beste Laune aus. Er war so animiert wie lange nicht. Einen Pack Zeitungen auf den Tisch werfend, nahm er behaglich im Lehnstuhl Platz. „So, Kinder, nun wollen wir mal sehen, was es in der verrückten Welt für Neuigkeiten gibt!“

      III.

      Wigand trat an die Seite des alten Herrn und stützte sich mit beiden Händen auf die Sessellehne. Er richtete sich mit kurzem, militärisch strammem Ruck empor, was er immer that, wenn er einen Entschluss gefasst und denselben zur Ausführung bringen wollte.

      „Neues, lieber Onkel? du möchtest gern etwas Neues erfahren?“ fragte er in seiner ruhigen Weise, „nun, so wäre ich wohl in diesem Augenblick der geeignetste Mann, um es dir zu erzählen.“

      „Du, mein Junge? Schmökerst du etwa heimlich Zeitungen?“

      „Ich las sie regelmässig, Onkel, denn ich möchte kein Barbar werden, der hier in der Heide vollkommen verwildert. Ich bin jung und kehre einst in die Welt zurück, da darf ich ihr nicht fremd werden.“

      „Natürlich, natürlich, vergesse immer mal den Unterschied zwischen dir und mir. Also du willst mir erzählen? Um so besser, so kann ich meine Augen schonen.“

      „Ich spreche nicht von Zeitungsneuigkeiten, lieber Onkel.“

      „Potz Wetter! gibt’s noch private Nachrichten?“

      „Ja, dieser Brief enthält sie.“

      „Ah, richtig, der eingeschriebene Brief.“

      „Welcher für euch alle wohl ebenso interessant sein dürfte, wie für mich.“

      Die Damen blickten jählings auf. Erika trat neben den Sprecher und neigte das Köpfchen neugierig auf das Couvert nieder, der Oberst aber schnellte in seinem Sessel zurück und seine Stirn umwölkte sich.

      „Hollah, was gibt’s? Wie sollten mich noch Dinge interessieren, die von draussen kommen?“

      „Der Absender des Briefes ist Geheimrat Eikhoff.“

      „Eikhoff?“ — Koltitz rieb sich die Stirn. „Dein Vormund? Was will er?“

      Wigand setzte sich nieder. „Du kennst ihn als vortrefflichen Mann und schätztest ihn, so viel ich weiss, immer sehr hoch; auch Onkel Eikhoff hielt stets grosse Stücke auf dich.“

      „Braver, anständiger Kerl.“ Der Oberst nickte nachdenklich vor sich hin; „vergesse es ihm nie, dass er dich armes Wurm dermalen so liebevoll bei sich aufgenommen. War vielleicht etwas Egoismus dabei. Du solltest seinem eigenen, nichtsnutzigen Schlingel als nachahmungswertes Exempel vor die Augen gestellt werden.“

      „Nein, Onkel. Was Eikhoff an mir gethan, geschah ohne jeden Hintergedanken und was Joël anbelangt, so ist er viel verleumdet worden.“

      „Na, das mag sein, wie’s will, auf jeden Fall hattest du einen vortrefflichen Einfluss auf den Bengel und wenn Eikhoffs dich als mittellose Waise aufnahmen und erzogen, so hat ihnen diese Barmherzigkeit reiche Früchte getragen. Nun aber — Luft, Clavigo! Was will der Alte von dir?“

      Koltitz rückte erregt auf seinem Stuhl hin und her, es war, als beunruhige ihn etwas, als fürchte er, der Brief könne vielleicht Anrechte an den Pflegesohn geltend machen, welche ihn heimberiefen.

      „Das einfachste wäre es, lieber Onkel, ich lese den Brief vor.“

      „Gut, gut, aber ’raus mit der wilden Katze, ich hab’s Warten verlernt.“

      Wigand schlug den Brief auseinander. Es waren mehrere Bogen, welche die dicken, energischen Federzüge des Geheimrats zeigten. Er las:

      „Mein lieber, braver Sohn!

      Bist es nicht gewohnt, so lange Episteln von dem schreibfaulen Onkel zu bekommen, darum wirst du schon der Aussenseite dieses Briefes ansehen, dass es sich um etwas Besonderes handelt. Lass mich ganz aufrichtig sein und zum Verständnis der Sache ein wenig zurückgreifen auf Dinge, die dir vielleicht bekannt sind, die du vielleicht in jugendlicher Harmlosigkeit ehemals übersehen hast. Es betrifft Joël. Du kennst den Jungen, stehst ihm nahe wie ein leiblicher Bruder, hast Freud und Leid von Kindheit auf mit ihm geteilt. Er ist ein absonderlicher Mensch, nicht schlecht, nur ein wenig leichthin, spielt sich absolut auf den Genialen, Gottbegnadeten, will nichts Reelles leisten, sondern bummelt als der Sohn wohlhabender Eltern, in ewiger Ekstase, aber niemals wahrer Begeisterung, durch sein Künstlerdasein dahin. Es ist die Schuld meiner guten Frau. Elly war von jeher eine etwas überspannte Natur, voll Phantasie und hochgradige Schwärmerei für alles, was Kunst, namentlich Musik streift. Noch ehe Joël geboren,