Sprachentwicklung in der Muttersprache, eine Bedrohung oder ein Verlust der Muttersprache, ehe eine relative Stabilität erreicht, d.h. zumindest eine erste Alphabetisierung erfolgt ist, kann Störungen in der Entwicklung der emotional-affektiven, der sozialen und der kognitiven Entwicklung der Persönlichkeit haben. Für eine große Zahl von Kindern aus Migrantenfamilien in unseren Schulen tritt eine solche Unterbrechung der Sprachentwicklung mit dem Eintritt in Kindergarten bzw. Schule ein. Ihre Muttersprachen werden nicht nur nicht weiterentwickelt, sondern oftmals abschätzig bewertet oder gar verboten.
Am Anfang des Bildungsweges von Kindern mit Migrationshintergrund steht oftmals nicht der Blick auf das, was sie aus ihrer Familie mitbringen, auf das, was sie können, sondern eine Defizitzuschreibung: „Du kannst ja kein Deutsch“. Dass diese Kinder stattdessen eine oder in der Regel zwei und mehr Sprachen beherrschen, nutzt ihnen in diesem Zusammenhang nichts. Und dafür gibt es vor allem zwei Gründe:
1 Die Ablehnung der Muttersprachen,weil unsere Gesellschaft sie als Indiz für „Integrationsverweigerung“ fehlinterpretiert,weil wir selbst diese Sprachen nicht beherrschen und verstehen und uns dieser Kontrollverlust beunruhigt; das gilt auch und gerade für Lehrkräfte,weil wir glauben, hier geborene Kinder der zweiten oder dritten Migrantengeneration hätten ohnehin keinen Kontakt mehr zu und keine Kenntnisse von ihren jeweiligen Herkunftssprachen, diese seien für die Kinder unwichtig und für schulische und berufliche Perspektiven hinderlich, und nicht zuletzt auch,weil wir die Illusion haben, eine frühe Deutschförderung im Kindergarten mache ein Nachdenken über Mehrsprachigkeit in der Schule überflüssig;
2 Kinder mit einer anderen Muttersprache als Deutsch stellen unsere Vorstellungen von einem monolingualen Bildungswesen, in dem die einzig legitime die deutsche Sprache ist, in Frage (vgl. Gogolin 1994). Unser Bildungswesen präferiert die einsprachigen Kinder – ich bin versucht zu sagen –, weil sie, von der Schuleinschreibung, vom Kontakt mit den Eltern her und bis zur Kontrollierbarkeit dessen, was sie sagen, auch die „einfacheren“ Kinder sind.
Durch die Defizit-Zuschreibung werden Migrantenkinder von vornherein als ‚Versager‘ gekennzeichnet, ehe sie mit dem Lernen richtig angefangen haben: Hier liegt eine große Gefahr früher Sprachstandsdiagnosen, wenn in diesen nur die Deutschkenntnisse abgefragt werden und nicht auch die Nähesprachen, und Kinder dann als ‚sprachlos‘ und nicht schulreif markieren, obwohl diese durchaus sprachreif sind, wenn auch in anderen Sprachen. Kinder empfinden das als Abwertung ihrer Sprachen und ihrer selbst. In Österreich z.B. werden Kinder, die vor der Schuleinschreibung einen Deutschtest nicht bestehen, sogleich in separate, segregierte Deutschförderkurse abgeschoben, was die Kinder wie auch deren Eltern durchaus als Makel empfinden.
Eine der Reaktionen auf die Erfahrung, dass die Muttersprachen unterdrückt werden und durch die Zweitsprache in Gefahr geraten, ist die Abwehr von Mehrsprachigkeit und anderen Sprachen, Deutsch eingeschlossen, und der Rückzug in eine herkunftssprachliche Subkultur.
Oder aber es entsteht Konfliktzweisprachigkeit; Oksaar (2003: 163) spricht von sprachlicher Heimatlosigkeit: Die einsprachige Gesellschaft zwingt Migranten schon in der Kindheit, sich zu entscheiden und provoziert so die Frage, wo man hingehört, sei es im Rollenkonflikt zwischen der Rolle als Sohn oder Tochter einer anderssprachigen Familie und dem Wunsch, Mitglied der deutschsprachigen Peergroup zu sein, sei es auf Grund der Zuschreibungen, durch die man wegen das Namens, wegen des Aussehens oder wegen der Herkunft trotz aller Anstrengungen auf eine Existenz als Migrant fixiert bleibt.
Der Abbruch der Entwicklung der Erstsprachen, bevor diese voll entwickelt sind, die Abwertung der mitgebrachten Familiensprache(n) und die Vermittlung von Wissen in einer Sprache, die das Kind ja erst lernen soll, resultieren in verzögerter und reduzierter Entwicklung der Erstsprache (z.B. im Bereich Begriffsbildung), in einem schulischen Wissen, das außerhalb der Erstsprachenentwicklung bleibt, d.h. zwei Begriffssystemen und Sprachwelten, die unvermittelt nebeneinander stehen. Für die Betroffenen wird damit deutlich, dass die Erstsprache in Gefahr gerät, indem man z.B. neue Erfahrungen, neue Erkenntnisse nur in der Zweitsprache ausdrücken kann, weil die Erstsprache sich in der neuen Lebenswelt nicht mitentwickelt, man also zu Hause gar nicht mehr von dem erzählen kann, was man außerhalb der Familie in einer ganz anderen Sprache erlebt und in der Schule gelernt hat, oder gar, im schlimmsten Fall, weil man erfährt, dass die Verwendung der Erstsprache unerwünscht oder gar verboten ist. Das aber behindert die Verarbeitung von neuen Erkenntnissen, die ja eigentlich, so funktioniert Lernen, in das schon vorhandene Wissen eingeordnet werden müssen.
Der Muttersprachliche Unterricht / Herkunftssprachenunterricht trägt auf Grund seiner jetzigen Konstruktion ein Stück weit zu dieser Abwertung und Marginalisierung der Muttersprache bei: So wie für die deutschsprachigen Kinder Deutsch, so ist für die anderen eben der Muttersprachliche Unterricht Muttersprachenunterricht: Genau genommen gebührt ihm der gleiche Stellenwert, der gleiche Stundenumfang, damit er zur stabilen Identitätsentwicklung beitragen kann, zumindest bis zum Abschluss der Alphabetisierung.
Das Bildungswesen aber marginalisiert ihn: Man muss sich extra anmelden, in Österreich ist er als unverbindliche Übung, also nicht verpflichtend, ohne gebührende Bewertung der Leistungen, mit geringen Stundenzahlen, oft außerhalb der schulischen Kernzeiten, und mit gleichfalls marginalisierten Lehrkräften organisiert – wer ihn besucht, so könnte man die Botschaft verstehen, ist ebenso randständig wie dieses Unterrichtsangebot.
2 Voraussetzungen für eine erfolgreiche Sprachentwicklung von mehrsprachigen Kindern
Die Voraussetzungen für eine erfolgreiche Sprachentwicklung insgesamt, im Besonderen aber auch für einen erfolgreichen Erwerb der deutschen Sprache, sind immer noch nicht gegeben:
1 die Vermeidung von Defizit-Zuschreibungen schon bei Schuleintritt. In der Konsequenz bedeutet das, dass z.B. Sprachstands-Beobachtungen sich nie nur auf die deutsche Sprache beziehen dürfen, sondern immer die gesamte sprachliche Kompetenz der Kinder erfassen und ihnen also immer auch kommunikative Stärken und Fähigkeiten zugestanden werden;
2 die ebenso zentrale Anerkennung und Wertschätzung der Muttersprache(n) / Nähesprachen, z.B. dadurch, dass diese in der Schule sichtbar und hörbar gemacht werden. Es gibt inzwischen viele Schulen, die das mit großem Erfolg betreiben.
Wirksamer noch als die bloße Wertschätzung der Muttersprachen wäre eine zwei- oder auch dreisprachige Erziehung, die sowohl die mitgebrachten Sprachen festigt und fördert als auch die Sprache der neuen Lebenswelt entwickelt. Die Spracherwerbsforschung weiß seit langem, dass ein zweisprachiger oder mehrsprachiger Unterricht, der sich auf die Nähesprachen stützt, für die Entwicklung von Menschen mit anderen Erstsprachen sowohl im Hinblick auf eine stabile Persönlichkeitsentwicklung als auch im Hinblick auf einen erfolgreichen Erwerb der Zweitsprache wichtig und besonders positiv ist: „Zweisprachiger Unterricht, der sich auf die Muttersprache stützt, ist der Ausgangspunkt für langfristigen Erfolg“, so hat es der Europarat formuliert (PACE 2006, Report 10837, Gogolin 1988, Oksaar 2003 & Duarte 2011).
3 Sprachenlernen unter den Bedingungen der Mehrsprachigkeit
Schule trennt die Sprachenangebote: Deutsch, Deutsch als Zweitsprache, Sprachförderkurse, Muttersprachlicher Unterricht und die Fremdsprachen – es gibt separate Fächer ebenso wie Lehrkräfte, die nicht immer voneinander wissen. Für das Sprachenlernen ist das nicht günstig, denn im Kopf der Kinder werden Sprachen nicht getrennt wie in einem Kasten mit verschiedenen Schubladen gespeichert, das Gehirn sieht keine verschiedenen Speicherorte für verschiedene Sprachen vor. Das Gehirn nutzt verschiedene Areale für unterschiedliche sprachliche Aktivitäten, nicht für verschiedene Sprachen.
Es ist der Vorteil mehrsprachiger Migrantenkinder, dass sie längst gelernt haben, mit Mehrsprachigkeit umzugehen. Mehrsprachige Kinder – das ist ihr großer Startvorteil – müssen ja früh lernen, Ordnung in ihrer Sprachenwelt zu schaffen: Mit welcher Sprache muss ich welche Person anreden? Wie funktionieren meine verschiedenen Sprachen? Mehrsprachige Kinder entwickeln deshalb sehr früh eine erhöhte Sprachwahrnehmung und Sprachenbewusstheit.
Ein kritischer Punkt in der Entwicklung mehrsprachiger Kinder ist die Leistungsbeurteilung: Das Bemühen von Schülern mit einer