Paul Oskar Höcker

Die Stadt in Ketten - ein neuer Liller Roman


Скачать книгу

zu Ende gehn. Bérisal hat wieder einen ‚Matin‘ bekommen: Joffre plant eine grosse Frühjahrsoffensive. Damit kommt von Tag zu Tag der Sieg näher. Aber die Tage dehnen sich leider mit Frühjahrsbeginn.“

      „Stehn Sie nun wieder besser mit Bérisal?“ fragte die junge Frau ihren Besuch voll aufrichtiger Teilnahme. Frau Babin hatte in den letzten Wochen manche Träne bei ihr geweint.

      „Gar nicht,“ erwiderte Yvonne an Stelle der Mutter, „und das ist vielleicht das beste. Man darf nur nicht zeigen, dass man Furcht vor ihm hat.“

      Trotzdem es ziemlich kühl war, setzten sie sich auf Didelots Steinbank, alle vier eng zusammengedrückt, um sich gegenseitig zu wärmen. Da wurden dann noch rasch die Tagessorgen offenherzig besprochen. Bérisal hatte erst der hübschen Frau Babin, dann ihrer ältesten Tochter nachgestellt. Sie waren beide von seinen Vertraulichkeiten überrascht worden, hatten in ihrer Notlage auch nicht gleich den rechten Abstand zu schaffen gewusst. Yvonnes köstliche Frechheit war ihre Retterin gewesen; nein, was hatte Yvonne lachen können, wenn der verwitterte, eitle Patron seine Huldigungen anbringen wollte.

      „Wie ein verliebter Kater sind Sie, Monsieur Bérisal!“ hatte sie zu ihm gesagt. Und sie machte seine süssliche Art nach. Er hatte jetzt ein gefügiges Empfangsfräulein bei sich und liess sie in Ruhe; aber unangenehm scharf konnte er werden, wenn sie sich im Atelier nicht aufmerksam genug gegen seine neue Kundschaft zeigten.

      Hauptsächlich deutsche Soldaten waren’s, die sich bei ihm aufnehmen liessen. Léonie konnte den Leder- und Schweissgeruch nicht vertragen, den die meisten Feldgrauen hinterliessen; vielleicht verriet das ihre Miene zu deutlich.

      Auch Frau Babin zog die Augenbrauen hoch und war sehr unnahbar, verstand einfach nicht, wenn so ein gewöhnlicher Soldat in seinem schlechten Französisch Ausstellungen an seinen Bildern machte.

      Und Yvonne — nun, die platzte ja immer gleich heraus, wenn einer sich versprach.

      Heute hatte Bérisal zu Frau Babin gesagt: wenn es ihr nicht mehr passte, bei ihm zu arbeiten — bitte, er konnte jeden Tag Ersatz finden. Platten, Säuren, Papier, es ward sowieso immer schwieriger, noch neue Stoffe hereinzubekommen. Die Kunden, die ja nie lange in Lille blieben, waren ungeduldig, man müsse sie also vertrösten, sich gut mit ihnen stellen, statt sie zu reizen ... Was man, sich dabei im stillen dächte und wünschte, das ginge niemand etwas an; aber klug sein hiesse es jetzt, solang die unglückliche Stadt in Ketten lag.

      „Und er hofft ja selbst,“ sagte Léonie, „dass das nicht mehr so lange dauern wird.“

      Schon seit Wochen hatten sie verabredet, einmal einen gemeinsamen Spaziergang zu machen. Aus der Stadt heraus durfte man nicht ohne Verkehrsschein, an allen Toren der inneren Festungswälle standen Landsturmposten, auch bei den Durchgängen am Deulekanal, der die Stadt von der Zitadelle schied. Aber die Trambahnfahrt nach Roubaix und Tourcoing war freigegeben. Helene sollte ihnen einmal draussen an dem neuen Boulevard Madeleine ihr Landhaus zeigen.

      „Es ist nur bis zum Rohbau gediehen,“ sagte Helene müde lächelnd, „ich bin seit Wochen nicht mehr dort gewesen, und Antoine sagt, jetzt hätte sich die Wache einer Fliegerabwehrbatterie dort eingerichtet, es sei nicht zum Wiedererkennen.“

      Léonie wechselte mit Mutter und Schwester einen Blick, sich vorbeugend, und presste dann Helenens Arm noch etwas fester.

      „Antoine —! Nun sagen Sie nur, Frau Martin, ist Ihnen nicht auch angst vor dem Mann? Wir sprachen noch auf dem Herweg von ihm. Wenn er mit seinen tückischen kleinen Tollkirschenaugen einen so von der Seite mustert ... Und die Person, mit der er’s hält ... Weisst du,“ wandte sie sich an Yvonne, „das war die mit dem winzigen belgischen Hütchen am vorigen Freitag, um die Herr Bérisal sich so bemüht hat.“

      Das Gesicht der Frau Babin sah jetzt abgespannt und alt aus.

      „So viel Schmutz schwemmt der Krieg an einen heran,“ sagte sie traurig und strich über die Schulter der Jüngsten.

      Helene berichtete, woher sie Antoine kannte. Beim Vater ihrer Freundin Manon Dedonker, dem Notar Léon Ducat am Boulevard Vauban, war Antoine Schofför gewesen. Aus Furcht, von den Deutschen aufgegriffen und nach Deutschland verschleppt zu werden, da er im dienstpflichtigen Alter stand, hielt er sich seit Beginn der deutschen Herrschaft hier verborgen. Es ging ihm schlecht. Von Haus zu Haus hatte er sich als Schlosser, als Mechaniker angeboten; aber nirgends wagte man ihn anzustellen, weil die Deutschen über alle Arbeitskräfte Listen führten. Heute wollte er Manon aufsuchen.

      Helene seufzte.

      „Da werde ich nun hören, wie’s ihr die Zeit über ergangen ist. Aber es graut mir vor jeder Begegnung mit ihm. Er hat einen Hass auf die ganze Welt — wenigstens auf alle, denen es besser geht als ihm.“

      Léonie wusste von Didelot, dass Antoine sich von seiner Freundin Adèle unterstützen lieh. Solange sie Geld habe, sei alles gut, aber wenn sie dann wieder in die Bar müsse, um zu verdienen, gerate er immer ganz aus dem Häuschen.

      „Dann ist er eifersüchtig, wisst ihr!“

      Sie schraken zusammen, denn man hörte in der Küche sprechen. Didelot hatte Besuch bekommen.

      Helene lauschte.

      „Antoine —!“ sagte sie stockend und erblasste.

      Sofort erhoben sich die drei Damen. Das kleine Sonnenfeuerwerk in der Prunuskugel war auch schon erloschen, und es wurde empfindlich kühl. Wie eine zwitschernde Vogelschar verliess der Besuch den Fabrikhof. Helene trat in die Pförtnerswohnung und entzündete in ihrem halbdunklen Zimmer die Petroleumlampe. Das Herz klopfte ihr. Nebenan, in der Kuche, in der Didelot wohnte, weilte Antoine. Er sprach laut und erregt. Natürlich würde er mit ihr reden wollen. Es war besser, sie ging gleich hinein, als dass er wie neulich anklopfte und bei ihr eintrat. Wenn er seine Freundin in der Bar wusste und seine Eifersucht in Absinth ertränkte, den er sich trotz der Strafbestimmungen der Deutschen noch immer zu verschaffen wusste, dann musste man alles vermeiden, um ihn zu reizen.

      Der ehemalige herrschaftliche Schofför steckte in einem blauleinenen Arbeitsanzug, die schwarze Schildmütze hatte er zurückgeschoben, so dass die dichten, schwarzen Haarbüschel ihm in die niedere Stirn hingen. Er rauchte eine Zigarette, war aber schon beschäftigt, eine neue zu drehen. Unter Rauchen, Spucken und Räuspern berichtete er.

      „... und ich soll Sie auch grüssen, Frau Martin. Und sie hätte Ihnen alles vergeben, lässt sie Ihnen sagen. Und wenn Sie Geld brauchten, könnten Sie’s haben. Und sie würde ihre Freundin Geneviève Laroche zu Ihnen schicken. Und warum Sie sich hier in der Fabrik vergraben hätten? Sie könnten es doch viel besser haben. Und gelacht hat sie, lustig war sie ...“

      „Antoine!“ Ganz bleich vor Schreck sah sie den kleinen, schwarzen Franzosen an. „Sie hatten mir doch versprochen, nichts zu verraten —?!“

      „Es kam halt so.“ Er spie an Didelot vorbei im Bogen aus. „O, wir hatten eine sehr spannende Unterhaltung. Eine feine Frau, eine schöne Frau. Ja, die weiss die Feste zu feiern, wie sie fallen. Ich erzählte schon Herrn Didelot. Was, Alterchen?“

      Der Einarmige klopfte seine Pfeife aus und stopfte sie neu, indem er sie zwischen die Knie klemmte. „Sie hätten die hundert Francs nehmen sollen, Antoine, das wäre klüger gewesen, statt sich zu verzürnen.“

      „Pah, hundert Francs. Damals, als sie’s noch mit ihrem Vetter hielt, dem Major, da war ich’s doch, der ihnen im Keller die Regimentskasse eingemauert hat. Vierzigtausend waren darin. Mich mit hundert abspeisen? Sie hätte die Kasse Laroche gegeben, der braucht das Geld für Unterstützungen. Und grossmütig: ich sollte auch auf die Liste kommen, wie alle französischen Soldaten, die sich hier noch verborgen hielten. Da bekäme ich neun Francs die Woche. Sie hätte ihr Konto bei der Bank aufgebraucht. Ja, aber Champagner trinken sie dort. Und elegante deutsche Offiziere liegen bei ihr im Quartier. Und da wird nicht gespart. Die kleine Liddy ist auch nicht geizig mit dem, was sie hat. Bande —! Dreitausend hab’ ich verlangt. Ja, da machte sie Augen.“

      „Vielleicht hat sie’s wirklich nicht,“ sagte Helene, schwer atmend. „Sie sagten doch, Antoine, Sie wollten ihr