Paul Oskar Höcker

Die Stadt in Ketten - ein neuer Liller Roman


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Zeit, über die ein Menschenalter hingegangen war, an Frühlingswanderungen in der jung erwachenden Natur Flanderns. Bekümmert, mitleidig und voll Verstehens sagte er: „C’est le printemps, madame!“

      Eine Antwort kam nicht. Die junge Frau weinte noch immer. Allmählich klang es etwas ruhiger, leiser. Didelot machte einen Gang durch die Küchenstube. Dann zog er die Wanduhr auf. Darauf wartete er ein Weilchen stillgeduldig. Da das leise Weinen aber nicht aufhörte, schlürfte er auf der knarrenden, sandbestreuten Diele zur Tür, harrte hier abermals einer Weisung, die nicht kam, einer Erklärung, die er nicht erwarten konnte, einer Gelegenheit, über den Besuch von Fräulein Laroche zu sprechen. Sie weinte, weinte ... Da zog er denn endlich so geräuschlos, als das verquollene Holz es zuliess, die Tür ins Schloss, nahm die Laterne auf und begann seinen seit so vielen Jahren gewohnten Rundgang durch die zerstörte Fabrik, in der es nichts mehr zu bewachen gab ...

      Die Fliegerabwehrbatterie bei Madeleine war neu aufgestellt. Theo West, der Fliegerleutnant, der kürzlich Staffelführer geworden war, kam auf einer Autofahrt vom Oberkommando der Armee dort vorbei, liess halten und machte dem Batterieführer seinen Besuch. „Ich hab’ sie bisher immer nur aus der Vogelschau gesehen,“ sagte er zu dem bayerischen Landsturmoberleutnant, „da drängt’s einen doch, ihr einmal so ganz gemütlich die Vorderflosse zu drücken, der aufmerksam-freundlichen Revolverkanone.“

      Der fünfzigjährige Batterieführer war daheim Professor der Mathematik. Der Krieg hatte ihn wieder jung gemacht. Nachdem er in den ersten Monaten eine Feldbatterie im Bewegungskrieg geführt hatte, erschien ihm diese neue Tätigkeit wegen der Erprobung all der wissenschaftlichen Berechnungen besonders anregend. Weit vor der Stadt gelegen, einsam, ohne Anlehnung an die Gärten und Landhäuser der reichen Industrievorstadt, bot die Batteriestellung für einen Weltmenschen wenig; aber der weisshaarige Oberleutnant brauchte weder Geselligkeit noch Naturschönheit, noch Ablenkung, der Dienst und seine Mathematik füllten ihn vollkommen aus. Übrigens hatten sich’s seine Leute hier leidlich bequem gemacht. Ein erst im Rohbau fertiggestellter, grosszügig angelegter Landhausbau diente ihnen als Quartier. Aus verlassenen Häusern in der näheren und weiteren Nachbarschaft war allmählich alles herbeigeschafft worden, was dazu dienen konnte, den Winter erträglich zu machen. Mit einigem Stolz zeigte er dem jungen Flieger, dessen Name in der Armee schon so rühmlich bekannt war, die Anlage. Vom Batterieplatz hatte man kaum zweihundert Schritt bis zum „Kasino“, das in dem wohl als Musiksaal gedachten, baulich am weitesten vorgeschrittenen Erdgeschossraum des Landhauses eingerichtet war. Die kalkweissen Wände wiesen flott hingezeichnete Spottbilder auf.

      „An Talenten ist kein Mangel in der Batterie,“ sagte der Bayer, „einer meiner Geschützführer ist Dekorationsmaler am Münchner Hoftheater, der Fernsprecher ist Redakteur vom ‚Simpel‘, der Schreiber ist einer von der Sternwarte, und der Zugführer — schauen S’, das ist der, den s’ da mit der Klampen abgemalt haben — der hat noch im vorigen Sommer in Bayreuth am ersten Pult mitgegeigt. Die einzige Entschuldigung für so viel Talent — hat unser Kronprinz neulich gesagt und hat gelacht — ist die, dass die Batterie auch gut schiessen kann. Wir sind doch hier seine Leibbatterie. Aber das obere Stockwerk müssen S’ sich noch anschauen, Herr Kamerad. Ich hab’ den Zugang vernageln lassen, weil’s schad drum wär’, wenn mein Kanoniervolk mit den tranigen Kommissstiefeln da herumtrampeln sollt’... Parkett, spiegelblank alles, und eingebaute Möbel, Kirschholz mit Thujaeinlage, geschliffene Kristallscheiben, echtes Material, ein ganz vornehmer Geschmack, muss man schon sagen.“

      Der Flieger lachte. „In neuen Villen hier in Frankreich sonst eine Seltenheit. Mein Gott, was für elenden Kitsch hab’ ich hier schon auf Schlössern und in Grossstadthäusern gesehen! Was nicht Louis ist oder Empire — das ist rettungslos ödester Fabrikreinfall.“

      „’s ist auch kein Eingeborener, der sich das Schloss hat dahersetzen wollen, sondern ein Zugereister. Scheint mir so eine Art internationaler Grossmogul. Auch englischer Einfluss dabei. Grossartige Badezimmeranlagen. So was kann man hier in Lille lange suchen. Auf zweihundert Häuser eine Badewanne — und da funktioniert todsicher der Badeofen nicht. Wenn ich den Mann von der Mairie recht verstanden hab’, ist’s ein Schwiegersohn von dem Kommerzienrat Kampff, wissen S’, dem Begründer der deutschen Kampff-Werke ... Landwirtschaftliche Maschinen und so ein Zeugs.“

      Theo West, der sich nur mit geringer Aufmerksamkeit in dem halbfertigen Hause umgesehn hatte, blickte nun überrascht auf.

      „Kampff — Kampff-Werke ... Ist seine Tochter etwa eine Frau Martin? Helene Martin?“

      Der Professor zuckte die Achsel. „Vor einer Viertelstunde war ein halbes Schock Weiber hier. Ich hab’ grad geschlafen, mein Bursche hat mir’s erst hernach gesagt, er hat mich nicht wecken wollen. Ja, dabei sei auch die Besitzerin gewesen. Sie hätten sich einmal ein bissl im Haus umsehn mögen ... Mein Wachtmeister ist aber sehr scharf, der duldet so was nicht und hat sie abblitzen lassen. Ohne meine Einwilligung dürft’ kein Fremder die Stellung betreten. Da könnte ja sonstwer kommen und herumschnüffeln.“

      „Ausgeschlossen, dass die Besitzerin dabei war,“ sagte der Flieger. „Die ist längst in Deutschland, die Frau Martin. Ich sprach noch gestern abend mit meinem Bruder über sie. Er hat sie seinerzeit kennengelernt. Ei, das sollte mich doch wundern ... Hat Ihr Wachtmeister sie wirklich selbst gesprochen?“

      „Auf eine Zigarettenlänge müssen S’ jetzt eh’ schon ins Kasino eintreten, Herr Kamerad. Ein Kirsch gefällig? Es hat auch Cordial Médoc. Was, Alkoholgegner sind S’? Ja, ja, die Herren Flieger ... Ich lass’ den Niemayer ’rüberkommen, er kann ja mal Meldung erstatten.“

      Während sie in den lustig ausgestatteten Kneipraum eintraten, berichtete Theo West, was ihm im Gedächtnis haften geblieben war. Frau Martin war bei der Beschiessung von Lille im vorigen Oktober in ihrem Wohnhaus am Boulevard de la Liberté verschüttet worden; sein Bruder, der die Pionierarbeiten leitete, hatte bei ihrer Befreiung mitgewirkt und sich hernach mit ihr angefreundet. Es hatte sich ergeben, dass sie Jugendfreunde waren: Frau Martins Onkel, der Organist Karl Maria Kampff in Wohlfahrtsweier bei Durlach, war der Musiklehrer der vier Gebrüder West in Gottesaue gewesen.

      „Ich erinnere mich ganz deutlich, mein Bruder hatte sich noch ins Zeug gelegt dafür, dass die junge Frau den Reisepass nach Deutschland bekam. Sie hatte keine Mittel mehr — war ganz abgebrannt — ihr Mann in Paris ...“

      „Da kommt Niemayer, der hat sie ja gesehn.“

      Der Wachtmeister war der Meinung, dass die vier Frauenspersonen heute nachmittag bloss so aus Neugierde — vielleicht auch um die Batteriestellung auszukundschaften — sich hier hatten eindrängen wollen. „Man hat doch seine Menschenkenntnis,“ sagte er, überlegen schmunzelnd, „und von den vieren sah mir keine nach Schlossherrin aus. Ich hab’ ihnen gesagt, sie sollten in einer Stunde wiederkommen, wenn der Herr Batterieführer da sei, hab’ ich gesagt. Na, und da zogen s’ auch gleich weiter. Auf Roubaix zu sind sie. Bis jetzt haben s’ sich noch nicht wieder blicken lassen.“

      „Das muss ich dem Hans erzählen!“ Theo West schüttelte ungläubig den Kopf. „Mein Bruder sagte noch gestern, soundso oft habe er den Versuch gemacht, irgendeine Nachricht über sie zu bekommen ... Freilich hält’s ja schwer, mit der Heimat in Verbindung zu bleiben, wenn einer so herumgewirbelt wird wie der.“

      „Er ist Pionier? Hans West — warten S’ einmal, den hab’ ich auch schon kennengelernt. Wo ich mit meiner Batterie draussen gelegen hab’. Ja, ein Oberleutnant West war’s, der da an der Stellung mitgearbeitet hat. Grüssen S’ ihn doch, wann Sie ihn sehen!“

      „Er ist heute auf dem Flugplatz. Endlich hat er einmal ein ruhigeres Pöstchen. Er soll in Lille den Hauptmann bei der Fortifikation vertreten, der erkrankt ist. Natürlich hofft er zum Frühjahr nach Russland zu kommen. Er will ja immer dabei sein, wenn wo was los ist ... Haben Sie schönsten Dank für die Führung, Herr Professor. Wenn ich morgen früh aufsteige, zu den Engländern hinüber, dann ist mir’s eine innige Beruhigung, die Batterie hier in so sicheren Händen zu wissen. Ich guck’ auch einmal herunter.“

      „Ich kann nicht garantieren, dass ich Sie von hier unten aus erkenn’,“ meinte der Professor. „Also, wann ich nicht gleich hurra schrei’, dann dürfen