Paul Oskar Höcker

Die Stadt in Ketten - ein neuer Liller Roman


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wieder.

      Kaum eine halbe Stunde später hielt das eisengraue kleine Gefährt abermals vor der Batteriestellung. Diesmal entstieg ihm Theos Bruder, der Pionier.

      Und zwischen dem Rohbau und dem gegen Sicht von oben durch Tannenreisig geschützten Wachtraum begegnete er den vier Damen aus Lille, die von dem Mathematik-Professor und seinem Wachtmeister soeben einem eingehenden Verhör unterzogen wurden.

      Hans West kam bestürzt — erst noch unsicher, dann in wachsender Erregung — auf Helene zu. Beide Hände hielt er ihr hin. Sein Ton war herzlich, als er sie begrüsste. Und in starker Bewegung sah er sie an, fast erschüttert. Es war nicht mehr die junge schöne Frau. Sie trug die Merkmale des Leidens, des Entbehrens. Indem sie jetzt die Lider senkte — vielleicht aus Scheu vor den andern —, warfen ihre schweren, langen Wimpern noch tiefere Schatten in ihr blasses und schmales Gesicht.

      „Frau Martin — Sie noch hier in Lille?! — Ja, warum haben Sie mir denn niemals Nachricht gegeben? ... Und wie geht es Ihnen jetzt? Gesundheitlich? Und wie haben Sie den langen grässlichen Winter hier überstanden? ... Das sind Bekannte von Ihnen? Wollen Sie mich vorstellen? ... Ist es wahr, das sollte hier Ihr Haus werden? ... Ich fasste es gar nicht, als mir mein Bruder sagte, Sie seien nicht in Deutschland ... Herr Professor, ja, denken Sie ...“

      Die Unterhaltung des Wachtmeisters Niemayer mit den drei Begleiterinnen der jungen Frau war weniger lebhaft, auch weniger liebenswürdig abgelaufen. Frau Babin blieb sehr gemessen, fast hoheitsvoll. Sie hatte links Léonie, rechts Yvonne an den Arm genommen. Mit der Miene einer Fürstin blickte sie über den Wachtmeister hinweg, keine seiner Fragen beantwortete sie, bis endlich der Batterieführer, der noch von der stürmischen Begrüssung der jungen Villenbesitzerin durch den Bruder des Fliegers ganz verdutzt war, das Wort an sie richtete. Der Professor sprach ein grammatikalisch richtiges, aber sehr umständliches Französisch. Die drei Damen blickten einander fragend an, zum Zeichen, dass sie nicht verstanden; alle drei zogen die Augenbrauen hoch; sie sahen dadurch einander verblüffend ähnlich.

      Es kam endlich so etwas wie eine Vorstellung zustande. Aber die drei Französinnen blieben Eis. Frau Babin setzte auch eine auffallend fremde Miene auf, als sie Helene vorschlug, sie würden einstweilen vorangehen.

      Helene merkte gar nicht, dass Vorwurf aus dem Ton klang. Sie war viel zu stark bewegt von dem unvermuteten Wiedersehn. Nach ihrem Unfall bei der Beschiessung von Lille hatte sich Hans West in so herzlichfreundschaftlicher Weise ihrer angenommen. Er war für sie ein Stück der Heimat geworden, die sie durch ihre Ehe mit dem weltbürgerlichen Flüchtling verloren hatte.

      „Ich konnte Ihnen ja keine Nachricht geben,“ sagte sie mit einem melancholischen Lächeln. „Die Herren auf dem Passamt hatten gewechselt. Keiner nahm sich meiner an. Und es hiess nur immer wieder: es sei allen Heeresangehörigen streng verboten, irgendwelche Nachrichten zu vermitteln. Da musst’ ich mich denn bescheiden.“

      „Und Sie wohnen nun wieder bei Ihren Freunden? In der Inkermanstrasse? Oder am Boulevard Vauban?“

      „Ach nein, nein. Ich hab’ sie seitdem nicht mehr gesehen.“

      „Seitdem nicht mehr gesehen?“ Er zog die Stirn in Falten. „Aber wie haben Sie dann gelebt? Wovon? Wo? Wer hat Ihnen geholfen? Ist denn keiner, keiner dagewesen, der mir auch nur ein Wort hätte sagen können, einen kleinen Wink geben? ... Frau Martin, ich habe ja so oft den Versuch gemacht ... Auch in Magdeburg, auf den Kampffschen Werken, hat niemand etwas von Ihnen gewusst. Ich schrieb nach Mainz, nach Düsseldorf. Immer vergeblich. Sie seien in Paris, hiess es. Über die Schweiz habe Ihr Mann einmal den Versuch gemacht, mit seinen Frankfurter Verwandten in Beziehung zu kommen. Das war alles, was sie erfahren hatten. Ach, Sie müssen mir ja so viel, so viel erzählen ...“

      Frau Babin hatte mit ihren beiden Töchtern inzwischen den Ausgang erreicht. Überflüssigerweise begleitete der Professor die Damen bis zum Tor. Es war ein stolzherablassender Blick, mit dem sie sich von dem Deutschen verabschiedeten.

      Erst als Helene allein mit dem jungen Offizier war, entsann sie sich der seltsamen Art der drei. Einen Augenblick ward sie unsicher. Sie musste ihren Freundinnen doch wohl den Zusammenhang erklären ... Und dabei huschte ihr’s durch den Sinn, dass Frau Babin ihr auf dem Herweg gestanden hatte, dass sie kein Geld bei sich trug, und die Vorstellung ängstigte sie, die drei müssten den endlos langen Weg bis zum Tor und durch die ganze, grosse Stadt bis zum anderen Ende von Lille zu Fuss zurücklegen ... Aber Léonie oder Yvonne, so beruhigte sie sich, waren doch wohl sicher im Besitz der paar Sous ... Wie ausgewischt war dann gleich wieder diese kleine Sorge: Hans West hatte sie ins Haus geführt, und im Eingang zu dem Kasinoraum beugte er sich auf ihre Hand und küsste sie und sprach in so warmem, herzlichem Ton zu ihr.

      „So glücklich bin ich, Frau Martin, so glücklich, dass ich Sie hab’ wiedersehn dürfen!“

      Seit Monaten die ersten deutschen Worte. Ihr war ganz wunderlich zumute. Es kam ihr vor, als würde sie aus einer Gefangenenzelle freigelassen. Der einzige Umgang mit gebildeten Menschen, den sie seit einem Vierteljahr hatte, war der mit Frau Babin und deren Töchtern, allenfalls mit Challier oder Dubois, dem Bauunternehmer. Sie hatte sich in ihrer Verbannung schon ganz unters Pack gestossen geglaubt. Nun fühlte sie sich seelisch gestreichelt, da sie wieder ihre Muttersprache hören und sprechen durfte. Und es tat so wohl, wieder einmal einen lichten Raum mit weiss gedeckten Tischen, hellen Vorhängen und Blumen zu sehen.

      Der Professor war stolz, dass das Kasino heute Damenbesuch aufzuweisen hatte. Er liess Kaffee besorgen. Das war doch einmal ein Erlebnis; er konnte seiner Frau schreiben, dass er die Besitzerin des Schlösschens hier in ihren eigenen Räumen empfangen hatte. Seine Frau würde natürlich eifersüchtig sein. Eine Französin! Wenn er nun gar schrieb, dass sie kaum dreiundzwanzig Jahre zählte, eine vollendet schöne Pariser Figur hatte und seidenweiche lange Wimpern ... Nein, das wollte er lieber doch nicht schreiben. Aber es war auch wieder nicht nötig, zu verraten, dass sie „eigentlich“ eine Deutsche war. Denn — wie er seine Frau kannte — verminderte das in ihren Augen das Prickelnde des Abenteuers ihres Mannes, auf das sie im Grunde doch stolz war.

      In dem Augenblick, in dem der Bursche des Batterieführers das Kaffeegeschirr hereinbrachte, ging die Alarmklingel. Der Bursche, der gleichzeitig Munitionsträger war, stellte seine klirrende Last hastig hin — und kaum zwanzig Sekunden darauf machte der erste Schuss der Abwehrkanone das ganze Gebäude zittern.

      Helene Martin fuhr die ersten paar Male wohl stark zusammen; aber rasch gewöhnte sich ihr Ohr an die Erschütterung. Es war ja so ein ganz absonderliches Erlebnis, eine Rückkehr in Kreise, die ihr schon so weltenfern erschienen waren. In der Gesellschaft der Franzosen, die so schwer unter der deutschen Herrschaft litten, hatte die dem Deutschen innewohnende Mischung von Taktgefühl, Schwäche, Mitleid, Verständnis und Gutmütigkeit sie immer wieder davon abgehalten, die Gerechtigkeit der Massnahmen ihrer ehemaligen Landsleute zu verteidigen, zu erklären. Ihr Schweigen zu den Anklagen war aber mehr und mehr als Billigung aufgefasst worden. Sie hatte die Gewaltherrschaft ja allerdings selbst so grausam einschneidend empfunden. Hier aber fühlte sie sich wieder einmal geborgen. Ja, das Bewusstsein, dass deutsche Geschütze es waren, die den am Himmel auftauchenden Feind vertrieben, war ihr eine gute Beruhigung. Sie blickte durch das Rundfenster — ach, hier hatte George nach einem Entwurf von Baily Scott einen lauschigen Blumenerker herzaubern wollen — und mit Spannung sah sie den zerberstenden weissen Schneeballen nach, die dicht bei der schwarzen Fliege in die blassrote Luft hineingesetzt wurden von der Abwehrbatterie des bayerischen Professors.

      „Ein paar Wochen wird mein Kommando wohl dauern,“ sagte der Oberleutnant. „Jetzt freu’ ich mich darüber. Als es hiess, ich komme wieder zum Gouvernement, da wollte mir’s gar nicht passen. Was sollte ich in Lille? Aber nun bleibt mir doch die Genugtuung: ich kann ein bisschen für Sie sorgen. Sie haben mir doch Ihre Freundschaft erhalten, wie?“

      Wie sie am Fenster stand, im vollen Lichte, hatte ihre Erscheinung etwas geradezu Rührendes. Auch das unmoderne, schon stark abgetragene Kleid wirkte da mit. Bei seiner Durchfahrt durch Brüssel hatte er die eleganten Belgierinnen in ihrer neuesten Frühjahrsmode auf den Boulevards gesehen: sie trugen kurze, flotte, weite Röcke. Helene ging noch in demselben dunkeln, knappgearbeiteten, schlichten Gewand, in dem er sie im Oktober