sie links und rechts auf die Wange und war von einer bezaubernden Herzlichkeit. Mit inniger Teilnahme erkundigte sie sich nach dem Unfall, den Frau Martin bei der Beschiessung von Lille erlitten hatte; von Broussart wusste sie, dass sie damals unter den Trümmern des Hauses verschüttet worden war. In ihrer aufgeregten Art klang es, als ob ihr soeben selbst das grösste Unglück widerfahren sei. Der Hauptmann trat daher in die Tür und musterte sie mit einem kurzen Blick.
Endlich kam Frau Gal auf den Zweck ihres Besuchs zu sprechen. Man habe in ihrem Hause drei Offiziere mit ihren Burschen einquartiert, die Herren kämen abends um Elf oder Zwölf nach Hause, unterhielten sich dann noch, und schon um sechs Uhr früh stellten sich auf der Treppe die Burschen aus den Mansarden ein und wichsten die Stiefel ihrer Herren. Das ertrügen ihre Nerven nicht, die sowieso schon unter dem ewigen Geschiesse litten; sie könne weder malen noch singen noch Klavier spielen, wenn sie keine Nachtruhe mehr fände.
Der Hauptmann lachte dröhnend, als ihm Frau Martin den Inhalt des so dramatisch geführten Gespräches wiedergab. „Wenn es hier Nerven zu schonen gibt, dann sind mir die der deutschen Herren unbedingt die wichtigeren,“ sagte er. „Und mir schwant: die unglückliche Einquartierung leidet mehr unter der jungen Hausherrin. Heiliger Brahma, war das ein Wasserfall!“ Das Gesuch ward natürlich abgelehnt. „Und künftighin, Frau Martin, wenn die Leute mit gar zu dummen Anliegen kommen: kurzerhand rausschmeissen. Fertig.“
Helene musste anerkennen, dass der Hauptmann in vielen anderen Fällen eine gerechte Rücksicht walten liess. Wohnungen, in denen alte Leute, Kranke, kinderreiche Familien lebten, blieben von Einquartierung frei. Viele Häuser waren verschlossen, die Besitzer entflohen. Auch sie waren zunächst noch nicht belegt worden. Bis dem Hauptmann hinterbracht wurde — von Franzosen, die sich darüber ärgerten, dass es ihren Nachbarn besser gehn sollte als ihnen —, dass zahlreiche Besitzer ihre Häuser zugemacht hatten und zu Bekannten gezogen waren. Die Mairie wurde sofort benachrichtigt, im Umsehen meldeten sich darauf die Besitzer, käseweiss vor Angst, und der Hauptmann sorgte dafür, dass sie von nun an häufig in die Lage kamen, Gastfreundschaft üben zu müssen. Fortgesetzt wechselten jetzt die Truppen an der Front und in der Etappe. Nachdem man die paar Wintermonate hindurch von grösseren Kampfhandlungen hier in Flandern gar nichts mehr gehört hatte, schien mit dem Eintritt der besseren Jahreszeit da und dort ein grosser Schlag geplant zu sein. Der häufige Truppendurchzug liesse darauf schliessen, meinte Laroche.
Das war für Helene immer das peinlich-unsichere Gefühl im Verkehr mit Laroche: dass er in seiner lebhaften Art sie über hundert Dinge ausfragte, die zu ihrem Dienst gehörten, und dass sie nie wusste, wie weit sie in ihren Antworten gehn durfte — und welchen Gebrauch er davon machen würde.
Die Begegnung mit der kleinen Frau Gal hatte sie schnell wieder vergessen, aber Dr. Broussart passte sie einmal, als sie vom Dienst kam, an der Sperre der kleinen Strasse ab, in der sich der Eingang der Kommandantur befand. Er begleitete sie auf ihrem Weg durch die mächtigen Torbogen der Mairie bis zum Republikplatz. Der grösste Teil dieses Viertels war im vorigen Herbst in Trümmer geschossen worden. In der einsinkenden Dämmerung sah sich das Bild der Ruinen mit den verkohlten Bäumen, die in den vernichteten Gärtchen standen, ganz gespenstisch an.
„Ist es Ihnen nicht ängstlich, abends hier allein zu gehen?“ fragte er die junge Frau.
„Man begegnet fast keiner Menschenseele. Ab und zu einem biederen Landsturmmann. Die tun mir nichts.“
„Und Sie fürchten auch nicht, dass Einwohner ein Attentat auf Sie ausüben könnten, weil Sie in deutsche Dienste getreten sind?“
Sie zuckte die Achsel. „Ich helfe ihnen doch — versuche zu erklären und zu vermitteln, um beiden Teilen gerecht zu werden.“
„Gerecht. Hm. Frau Gal fand, Sie hätten sich ihrer Angelegenheit ruhig etwas wärmer annehmen können. Der Kapitän hat den Antrag rundweg abgeschlagen?“
„Rundweg. Und hat stürmisch dabei gelacht. Wenn Frau Gal während des Krieges weder zum Malen noch zum Musizieren käme, so wäre das weiter nicht tragisch zu nehmen.“
Verstimmt ging er neben ihr weiter. „Sie haben eben doch keine Ahnung von Kultur, die Deutschen. Trinken, schlafen, Blechmusik machen, das füllt ihr Leben hier in der Etappe aus.“
„Ich habe es in anderem Lichte gesehen, Broussart. Ich habe hier Männer kennengelernt, die die höchste Achtung verdienen.“
„Hüten Sie sich, Frau Martin, sich von den Boches einfangen zu lassen.“
„Einfangen?“
„Ihr Mann ist französischer Soldat. Die Lillerinnen, die sich während des Krieges mit Deutschen einlassen, kommen auf die schwarze Liste. Sie ist — leider — schon sehr gross. Aber die Vernichtung all der gebrandmarkten Frauen — in gesellschaftlicher, moralischer und wirtschaftlicher Hinsicht — ist unabwendbar.“
Er sagte es in fast drohendem Ton. Sie blickte ihn ernst und würdig an. „Ich verwehre es Ihnen, Broussart, in mein Leben und mein Leiden Einblick zu nehmen. Das trage ich ganz allein. Und Rechenschaft lege ich niemand ab als nur mir selbst.“
Eine Weile blieb es wieder still zwischen ihnen. Dann begann er allerlei von den freiwilligen Helferinnen im Militärhospital zu erzählen und von neuem steigerte sich dabei seine Erregung. Am schlimmsten habe es Frau Manon Dedonker getrieben. Die stehe jetzt auf der schwarzen Liste obenan.
Helene blieb gelassen. „Es hat eine Zeit gegeben, wo mir Manon wirklich nahestand. Wir waren in Dinant die besten Freundinnen. Wir zwei und Geneviève. Aber Manons Wege sind in andere Richtung gegangen.“
„Ja, wahrhaftig, wählerisch war sie nicht. Seitdem ihr Mann in deutscher Kriegsgefangenschaft steckt, ist sie nun schon in dritter Hand.“
„Ach, Broussart, warum erzählen Sie mir das alles? Sie ahnen nicht, wie es mich quält.“
„Glauben Sie, mich begeistert es? Sie hätten unsere hübschen Liller Pflänzchen bei der Krankenpflege mit erleben sollen. Bei den armen Piou-Pious wollten sie nicht bleiben. Und das Getue und Gekichere immer. Auch Frau Manon ist ja nur deswegen zum Roten Kreuz gekommen, weil sie Bekanntschaften machen wollte. Da ist ein kleiner Erbprinz aus ... Weiss der Teufel, woher, man kann doch nicht all die Hunnenstaaten behalten ... Ja, und an den hat sie sich herangemacht, es war schamlos. Die anderen Schwestern, die eifersüchtig waren, haben es angezeigt, und die Folge ist nun, dass alle französischen Schwestern entlassen worden sind.“ Er lachte kurz und trocken auf. „Die Krankenpflege hat darunter ja nicht gelitten, aber es ist beschämend für die Liller Damenwelt. Wo bleibt die Treue, die unsere Kämpfer von ihren Frauen verlangen können!“
Nun konnte Helene doch nicht länger stumm zuhören. „Wie urteilt Frau Gal darüber?“
„Frau Gal?“ Er war stehngeblieben. Gross sah er sie an. „Frau Gal ist Patriotin. Sie würde sich doch nie mit einem Boche abgeben? Wo ihr Mann irgendwo im Elsass für das Vaterland kämpft.“
„Und — Sie selbst, Broussart, der Sie der glühendste Patriot sind, verehren Sie Frau Gal vielleicht nicht doch leidenschaftlicher, als es ihrem Mann dort irgendwo im Elsass lieb sein würde, wenn er’s wüsste?“
Er wich mit seinem Blick aus und ging weiter. „Es handelt sich darum, dass es in Lille leider so viele Damen bester Kreise gibt, die in ihrem Kriegs-Strohwitwentum vergessen, was sie Frankreich schuldig sind.“
„Und sich — ihrer Frauenwürde.“
Ihre Stimme klang herb und stolz. Er wusste zunächst nichts zu erwidern.
Als sie in der Rue Inkerman an Laroches Haus ankamen, sagte er achselzuckend: „Man ist Patriot. Natürlich. Aber doch kein Philister.“
An diesem Abend war es Helene fast unerträglich, Laroche mit anhören zu müssen. Er brachte wieder aus dem Café Boulevard allerlei aufregende Nachrichten. Die deutsche Soldatenzeitung, die jetzt im Hause des „Echo du Nord“ gedruckt wurde, hatte soeben Sonderblätter an allen Ecken der Stadt anschlagen lassen: von einem grossen deutschen Sieg über die Russen. Laroches Zuträger freilich waren genau darüber unterrichtet, dass diese Nachrichten erlogen seien