Paul Oskar Höcker

Die Stadt in Ketten - ein neuer Liller Roman


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bin ein müder, vergrämter Mensch geworden, lieber Freund,“ sagte sie, „und meine Wege sind jetzt so ganz, ganz andere, dass es für Sie kaum mehr irgendeine Verbindung zu Ihrer alten Jugendbekannten gibt. Ich habe mich auch gefreut, Sie wiederzusehen, herzlich gefreut; aber das Wiedersehen ist zugleich ein Lebewohlsagen.“

      Er schüttelte den Kopf. „Ich suche Sie auf. So leicht werden Sie mich nicht los. Ich muss sehen, wie Sie leben.“

      „Nein, das sollen Sie nicht. Ich will es nicht. Unter keinen Umständen.“

      Ihr Ton machte ihn unruhig. „Hat Ihre Umgebung das Licht zu scheuen, Frau Martin? Wo leben Sie?“

      Sie sah ihn starr und ernst an, fast streng. Dann stiess sie aus: „Im Elend. Irgendwo. Bei den Wällen.“

      „Etwa — auf dem Fabrikhof?“ Er entsann sich der unheimlichen Gegend im Südosten der Stadt, wo die Beschiessung Hunderte von Häusern in Trümmerstätten verwandelt hatte. Da er ihr Schweigen für Zustimmung nehmen musste, fuhr er fort: „Aber das ist doch kein Aufenthalt für Sie! Um Gottes willen! Mit Ihren früheren Freunden haben Sie sich erzürnt? Warum? Ihr Deutschtum hat Sie auseinandergebracht. Aber wovon haben Sie gelebt?“

      Sie wehrte sich innerlich noch. Doch dann sagte sie es ihm: „Ich habe Wäsche genäht. Für ein Geschäft. So — jetzt wissen Sie alles. Und es wird Ihnen daraus klar werden, dass ich bis zum Ende dieses grauenvollen Krieges in meiner Verbannung bleiben muss.“

      „Nein, Frau Martin, den Grund sehe ich nicht ein.“

      „Ich will keine Almosen. Ich muss jetzt abwarten, wie mein Mann sein Schicksal gestaltet hat. Das seine — und damit das meine.“

      „Sie haben nichts mehr von ihm gehört?“

      „Nichts mehr. Ich weiss nur, dass er im Oktober in Paris gewesen sein muss.“

      „Sie wissen mehr, Frau Martin. In Ihren Augen steht ein so tiefer Schmerz ... Haben Sie doch Zutrauen zu mir!“

      Helene seufzte. „Ich fürchte für ihn ...“

      „Sie lieben ihn noch?“

      Eine ganze Weile schwieg sie. Tränen waren ihr in die Augen getreten. Sie rannen einzeln über ihre Wangen. Sie hob die Hand nicht, um sie wegzuwischen. „Ich nehme an, dass ich wohl Nachricht von ihm hätte, wenn sie ihn wieder in ein Gefangenenlager gebracht hätten — etwa, weil sie die Naturalisation so kurz vor dem Krieg nicht anerkennen wollten.“ Immer zögernder sprach sie. „Aber weil ich keine Nachricht von ihm habe, so muss ich wohl glauben — oder fürchten ...“

      „Sprechen Sie doch, Frau Martin! Was fürchten Sie?“

      „Dass George ins französische Heer eingetreten ist, um — Schwierigkeiten auszuweichen.“

      „O — das wäre!“ Mit grossen Augen sah er sie an. „Arme Frau!“

      Der Professor kam von seinem Dienst zurück. Ein paar Schrapnelle hatten ausgezeichnet gelegen.

      „Beim fünften Schuss waren wir auf fünfzig Meter heran, aber da bog er aus, der Schweinekerl ...“

      Verlegen lachend unterbrach er sich.

      „Verzeihung, man kommt so ganz in den rauhen Kriegston hinein, wenn man so lang ohne Damen ist. Aber das festliche Ereignis heut muss gebührend gewürdigt werden ... Jesses, nun hat das Kamel von Ordonnanz noch nicht einmal den Kaffee serviert? Ei, den soll ja gleich das heilige Gewitter ...“

      Helene hatte ihr Taschentuch gezogen und ihre Augen getrocknet. Abwehrend dankte sie. Nein, es sei ihr unmöglich, länger zu bleiben. Sie müsse ihren Freundinnnen nach. Jetzt werde es auch schon dunkel und ihr Weg sei noch weit.

      Der Batterieführer erhob noch lebhafteren Widerspruch als der Gast. Der erbot sich natürlich, sie zu begleiten; aber das schlug sie von vornherein aus. Man konnte ja nicht wissen, dass sie deutscher Abkunft war; den Französinnen aber, die sich hier an der Seite von deutschen Heeresangehörigen zeigten, denen erging es schlimm; der Hass sei ja unausrottbar.

      „Aber es ist doch ausgeschlossen, Frau Martin,“ sagte Hans West mit erregter Stimme, „dass ich mich mit dieser kurzen Begegnung zufrieden gebe.“

      „Wenn ich Sie nun bitte?“

      „Sie müssen mir gestatten, dass ich Sie aufsuche.“

      „Das schadet mir dann in dem Kreis, in dem ich nun einmal zu leben gezwungen bin.“

      „Dann werden Sie diesen Kreis verlassen, Frau Martin. Glauben Sie denn, wir deutschen Barbaren werden nicht Mittel und Wege finden, um einer Landsmännin zu helfen?“

      „Ich bin Ihre Landsmännin nicht mehr, lieber Freund. Ihre Behörde hat mir darum rundweg den Pass nach Deutschland verweigert. Ich muss mein Schicksal nun schon tragen.“ Sie reichte ihm die Hand. „Aber ich danke Ihnen für den guten Willen.“

      „Frau Helene —!“

      Sie duldete nicht, dass er sie vors Haus begleitete, gar dass er sie im Auto nach Hause fuhr, wie er ihr vorschlug.

      Der Mathematiker war enttäuscht von dem kurzen Besuch. Und noch mehr davon, dass der junge Pionier sich nun auch nicht länger halten lassen wollte. Es hätte ihn doch interessiert, mehr zu hören über die Besitzerin seines „Schattohs“. Er gab dem Kameraden das Geleite bis ans Auto. Knatternd machte das kehrt und fuhr dann nach dem Flugplatz zurück.

      Auf allen Teilen des breiten Boulevards herrschte noch starker Verkehr. Die Mitte gehörte dem Militär. Autos, Motorräder, Feldpostwagen, Proviantkolonnen — Staubwolken mit sich reissend, strebten sie nordwärts und südwärts. Überfüllt, noch auf den Trittbrettern besetzt von Feldgrauen, sausten die hellgelben Wagen der Strassenbahnen von Roubaix und Tourcoing vorbei. Auf den verschiedenen Fusswegen zog abgespanntes Sonntagsvolk vom Nachmittagsspaziergang mit müde trippelnden Kindern der Stadt zu ...

      Helene fand erst auf der Grand’ Place eine Möglichkeit, mit einer der Strassenbahnen, die zu den jenseitigen Toren fuhren, mitzukommen. Alle Wagen waren überfüllt. Das Trüpplein ihrer Nachbarinnen hatte sie unterwegs nirgends mehr gesehen. Natürlich wollte sie sie noch aufsuchen, um ihnen Aufschluss über die Begegnung mit dem deutschen Offizier zu geben.

      Aber das ward dann noch ein ängstlich-erregtes Warten vor dem Haus, in dem Frau Babin wohnte. Sie hatte das aus zwei Stuben und Küche bestehende Erdgeschoss des schmalen Torgebäudes der stillstehenden Brauerei in der Rue Trochu inne. Challier hatte ihnen die Wohnung verschafft. Niemand öffnete, als Helene klingelte. Kinder, die im Tordurchgang spielten, behaupteten, die Damen seien noch nicht heimgekehrt.

      Im Dämmerlicht sah Helene die drei dann endlich ankommen. Es war ein jammervolles Bild. Yvonnes leidender Fuss versagte den Dienst. Sie ward von Mutter und Schwester halb gestützt, halb geschleppt.

      Und Helenens Befürchtung traf zu: Sie hatten den ganzen Weg laufen müssen, weil sie das Fahrgeld nicht mehr besassen.

      Eine unheimliche Stimmung herrschte in dem engen Raum. Leise stöhnend streckte sich Yvonne im Bett der Mutter. Sie besassen nur das eine. Die Töchter schliefen sonst auf einer Matratze, die sie abends aus dem Verschlag bei der Küche herauszogen. Die Lampe qualmte. Nur ein Rest Öl war noch da. Challier, den Léonie herbeigerufen hatte, brachte dann noch eine Kerze. Er ging schliesslich, um einen Arzt zu holen.

      Helene fand keine Gelegenheit, mit einer von ihnen über ihre eigenen Angelegenheiten zu sprechen. Frau Babin hatte wieder ihre eisige Unnahbarkeit. Und Helene empfand wohl die stumme Anklage heraus: Ihr massen sie die Schuld daran bei, dass Yvonne über ihre Kräfte angestrengt worden war, denn sie hatten sich auf ihr Mitkommen verlassen.

      Als der Arzt kam, schickte er die Damen aus dem engen Schlafzimmer. Während der Untersuchung, bei der man Yvonne manchmal in ihrem silberhellen Kinderton aufschluchzen hörte, trat Helene zu Frau Babin, an die sich Léonie eng anklammerte. Sie suchte nach der Rechten der schwergeprüften Frau. „So innig leid tut mir’s, Frau Babin,“ sagte sie.

      Aber sie erschrak über sich selbst: sie