Paul Oskar Höcker

Die Stadt in Ketten - ein neuer Liller Roman


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      „Broussart hat sie gestern untersucht. Es müsse wohl amputiert werden, meint er. Furchtbar.“

      Auch Geneviève seufzte. „So ein hübsches, junges Ding.“

      „Frau Babin schob es nur auf die Übermüdung neulich. Als ob alle Schuld mich treffen sollte. Aber er hat ihr alles ausführlich dargelegt: Knochentuberkulose, die Liller Krankheit. Ja, wenn man die Kleine noch tüchtig pflegen könnte, dann ginge es wohl eine Weile besser ... Aber Hoffnung hat er gar nicht.“

      „Und wenn Sie nun auch noch Babins verloren haben, Hélène?“ fragte Laroche und begann wieder die Bälle zu schieben, die mit leisem Klack gegeneinander rollten.

      „Hans West hat mir einen Vorschlag gemacht, über den ich nun schon seit Tagen sinne und sinne ... Er ist ein alter Jugendfreund von mir — das heisst: ich war ein eckiges Pensionsmädel, als er schon ein junger Kriegsschüler war ... Er ist bis zum heutigen Tage mein ehrlicher Freund geblieben — und doch weiss ich nicht, ob es das rechte für mich ist.“

      In Laroches Augen blitzte es wieder.

      „Er will Sie natürlich ganz auf die andere Seite hinüberziehen. Es täte mir aber weh, Hélène, wenn es ihm gelänge.“

      „So ist es nicht,“ sagte Helene.

      Wie verträumt, suchend, griff ihre Hand nach dem Ball. Sie umklammerte die Kugel, konnte sich aber nicht entschliessen, sie ins Rollen zu bringen.

      „Es wäre ein Amt, in dem ich auch der Stadt helfen könnte. Nur ein kleiner, bescheidener Posten. Als eine Art Dolmetscherin. Aber ich könnte da auch die Wünsche — die Sorgen und die Hoffnungen — mancher Liller Bürger verdolmetschen.“

      Nun sah er sie erwartungsvoll an. Auch Geneviève hatte wieder den Kopf gehoben. „Eine Anstellung bei der Mairie?“

      „Bei der Kommandantur. Die Quartierkommission will eine Dame anstellen, die hier Bescheid weiss und zwischen der Militärbehörde und der Stadt vermittelt.“

      Eine Weile schwiegen sie, Laroche hatte sich tief auf das grüne Feld gebeugt, den linken Ellbogen aufstützend und die Stirn in die Hand lehnend. Während er mit der Rechten die Bälle laufen liess, überlegte er.

      Geneviève hatte die Feder hingelegt und kam näher. Aus ihren hellgrauen, dunkelbewimperten Augen musterte sie die Freundin überrascht.

      „Das wäre —!“

      Und erwartungsvoll wandte sie sich an ihren Vater.

      „Was sagst du dazu?“

      Laroches Blicke folgten aufmerksam den Kugeln.

      „O, ich meine: Die Aufgabe ist gut und würdig. Eine Stelle, von der aus viel getan werden kann. Härten vermindern, Verständigung herbeiführen ... Mit ihrem Takt, mit ihrem feinen Herzen würde Hélène das Amt in gutem Sinne verwalten.“

      Helene atmete tief auf.

      „Es ist mir ordentlich eine Erleichterung, dass Sie das auch so auffassen. So — wie ich es mir dachte. Frau Babin hat mir gleich die Freundschaft aufgekündigt, als ich ihr davon sagte. Nicht einmal mehr eintreten liess sie mich bei Yvonne. Und — ich hatte die Kleine doch so lieb.“

      Laroche hielt ihr die Hand hin. „Nehmen Sie den Antrag an, Hélène! Sie können in dem Amt Gutes stiften. Und ziehen Sie hierher! Zu uns. Fleurette schläft jetzt bei meiner Frau. Benjamin hat das Bodenstübchen. Das Kinderzimmer im zweiten Stock steht leer. Sie schlafen Tür an Tür mit Geneviève. Und morgens bringen Sie uns den Sonnenschein zum Frühstück herunter. Die Kinder werden wieder fröhlich mit Ihnen. Und ich auch. Es ist oft schon sehr, sehr trübe hier gewesen. Überlegen Sie nicht lange. Sagen Sie zu. Dort — und hier.“

      Auch Geneviève sprach auf sie ein. Sie hatte ja nie eine andere Meinung als ihr Vater.

      Helene hatte es kaum erwartet gehabt, dass ihre guten Absichten so richtig und so rasch verstanden werden würden. Die Vorstellung, aus dem Armeleutegeruch endlich wieder in behaglich-bürgerliche Verhältnisse zu kommen, machte sie glücklich; sie hatte ja so schwer gelitten unter dem Aufenthalt in dem trostlosen Quartier.

      „Ich — bin Ihnen sehr, sehr dankbar, lieber Freund,“ sagte sie. „Jetzt fühl’ ich’s, dass Sie’s gut mit mir meinen.“

      „Daran haben Sie also doch einmal gezweifelt, Hélène?“ fragte er lächelnd.

      Berthe, der stupsnasige Backfisch, kam hereingesaust.

      „Ma ist schon so ungeduldig — Tante Hélène soll sofort kommen, sofort, sonst hat Ma gleich wieder ihre Migräne.“

      „Das ist eine Drohung — aber auch ein Versprechen,“ meinte Laroche.

      Und Geneviève erklärte: „Für Ma bist du interessanter als jedes neue Theaterstück, hat sie erst gestern gesagt. Und da die Musen nun schweigen, bist du deines Erfolges ganz sicher. — Ma war nämlich manchmal sehr, sehr eifersüchtig.“

      „Ach, sprich doch nicht davon, Geneviève,“ wehrte Laroche ... „Ich alter Mann!“

      Geneviève hatte den Schalk im Nacken. „O, nicht auf dich eifersüchtig, Papa. Auf Monsieur West.“

      Nun lachten sie alle drei.

      Die ersten paar Tage sass Helene in dem zugigen Vorraum des grossen Bankhauses, das jetzt für die deutsche Kommandantur eingerichtet war. An den Schaltern drängten sich die Feldgrauen und die Liller und Lillerinnen. Hier bekamen die Unteroffiziere und Mannschaften, die sich auf dem Durchmarsch befanden, ihre Quartierzettel, hier die Offiziere, dort war ein Schalter eingerichtet für Heeresangehörige mit längerem Kommando, da gab es eine Wechselstelle für Liller Stadtscheine, das Notgeld, eine Auskunftsstelle, Meldestellen, Prüfungsstellen für Beitreibungsscheine. Es war ein ewiges Hin und Her. Der Hauptmann, der vorübergehend das Einquartierungswesen in Gemeinschaft mit der Mairie zu verwalten hatte, musste dem grössten Sturm standhalten; an ihn gelangten tausend Wünsche, Bitten und Beschwerden. Der Fernsprecher schwieg nie. Immer wieder kam der Hauptmann aus seinem engen Geschäftszimmer in den noch engeren Glaskasten des Lichthofs, um mit dem Unteroffizier, dem Schreiber, der Ordonnanz zu verhandeln und der Dolmetscherin seine Entscheidung zu diktieren.

      Schliesslich erschien es ihm bequemer, ihr einen Platz in seinem Arbeitszimmer anweisen zu lassen. Und nach abermals ein paar Tagen merkte er heraus, dass er es mit einer gebildeten Frau zu tun hatte. Im Drang der Geschäfte hatte er sich um die Lillerin, die da mit der Mairie vermitteln sollte, nicht weiter gekümmert. Einer der Adjutanten klärte ihn nun auf: soweit er selbst über sie von Oberleutnant West unterrichtet worden war, der sich für ihre Anstellung eingesetzt hatte.

      Ihre Tätigkeit bestand hauptsächlich darin, Schriftstücke zu übersetzen und die Liller zu empfangen, die der Einquartierungskommission ihre Schmerzen mündlich vortragen wollten. Bei solchen Empfängen ging ihr rasch der krasse Gegensatz zwischen den Deutschen und den Franzosen auf. Mit unendlichem Wortschwall überschütteten die Einheimischen die Empfangsdame, verschwendeten Höflichkeitsworte in kleiner und kleinster Münze, begannen zunächst von allen möglichen Dingen zu reden, die mit der Sache gar nicht zusammenhingen, und kamen immer erst auf Umwegen auf den Zweck ihres Besuches zurück. Ganz anders der Hauptmann: klipp und klar, in wenig Worten, wollte er unterrichtet sein. Und seine Entscheidung fiel ebenso kurz und fest und unumstösslich. Höflichkeitsumschweife gab es bei ihm nicht. „Sie müssen sich noch mehr der militärisch kurzen Ausdrucksweise befleissigen, Frau Martin, wir haben hier keine Zeit, mit den Leuten ein grosses Theater aufzuführen.“ Unter den unzähligen Lillern und Lillerinnen, mit denen sie im Verlauf ihres Dienstes in Berührung kam, befanden sich nur wenige, die ihr persönlich bekannt waren. Einmal schickte die hübsche, kleine Frau Gal ihre Karte herein. Das war die junge Gattin eines Universitätslehrers, der im Felde stand. Sie hatte früher von einem Vetter Laroches, dem jungen Arzt Broussart, öfter von ihr gehört. Er schwärmte für ihr tizianblondes Haar. Seitdem sie Strohwitwe war, hatte sich die Freundschaft der beiden noch vertieft. Broussart, dessen ärztliche Tätigkeit nur gering war, sass fast den ganzen Tag bei ihr. Sie malte und musizierte,