Paul Oskar Höcker

Die Stadt in Ketten - ein neuer Liller Roman


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geraden, dunklen Brauen die vier wie im Hass sie anstarrenden Augen.

      „Wir verstehen uns wohl nicht mehr,“ sagte Frau Babin tonlos.

      Mutter und Tochter hatten die freie Hand zurückgezogen. Sie wollten keine Gemeinschaft mehr mit einer Frau, die die Freundin von einem dieser Hunnen war.

      In tiefer, innerer Zerrissenheit trennte sich Helene endlich von ihnen. So inniges Mitleid mit Yvonne erfüllte sie — und ihrer Mutter und Schwester war sie kaum gram, weil sie ihren Stolz und ihre Anklage verstand ... Aber da regte sich nun wieder diese lang vergessene Sehnsucht in ihr ... Und es ward ihr so schmerzlich klar, dass sie kein Vaterland mehr besass, keine Heimat.

      Nun sass Helene wieder bei ihren alten französischen Freunden in der Inkermanstrasse. Aber sie empfand: sie waren einander fremd geworden.

      Laroche sprach gekränkt. Die Gefühle, die er für die Freundin seiner Tochter gehegt, waren seltsam gemischt zwischen väterlicher Besorgnis und jähen Wallungen, die den trotz kinderreicher Ehe unbefriedigten Fünfzigjährigen überfallen konnten.

      So herzlich hatte er sich damals der verlassenen jungen Frau angenommen — ihr plötzliches Verschwinden musste er sich wie eine misstrauische Absage auslegen. Gewiss war damals die Freundschaft mit dem jungen deutschen Offizier schuld gewesen an dem ihm sonst unerklärlichen Bruch. Lange, lange hatte die Eifersucht an ihm gezehrt.

      In Laroche glühte ein jugendliches Feuer, das ihn auch auf dem Gebiet der Politik schon oft in heisse Kämpfe gedrängt hatte. Er konnte nicht wie so viele Liller der besseren Kreise lau der Fremdherrschaft zusehen; es drängte ihn, den Landsleuten zu helfen. Seine tapfere älteste Tochter unterstützte ihn bei seiner unermüdlichen Werbetätigkeit. Noch so viel Flüchtlinge lebten hier in der Verborgenheit: Soldaten, die sich bei der Einnahme der Stadt der Gefangenschaft entzogen hatten und in ihren armseligen Verstecken nun bittere Not litten.

      Laroche war reich, seine Weingüter brachten grosse Erträge, aber seine Grosshandlungen in Armentières und Arras lagen jenseits der Schützengräben und waren für ihn unerreichbar. So konnte er den Unglücklichen nicht in genügendem Masse helfen.

      Zum Glück hatte er die Kasse des Territorialregiments, das zuletzt auf der Zitadelle gelegen, für die Unterstützung mit verwenden können; die Zuwendungen der anderen vermögenden Bürger, an die er sich gewandt, blieben in sehr bescheidenem Rahmen. Er lebte nur seiner vaterländischen Pflicht. Seine nach zahlreichen Wochenbetten immer kränkliche, immer wehleidige Frau, die ihm auch geistig nicht ebenbürtig war, machte kaum Forderungen an ihn geltend. Sie brauchte ihn nur, um ihm vorzuklagen, wie sich von Tag zu Tag die wirtschaftlichen Verhältnisse schwieriger gestalteten — Hammelfleisch gab es schon gar nicht mehr, Eier waren kaum zu bekommen, Butter kostete bereits acht Francs, und es war dabei ein Drittel Wasser.

      Die fünfzehnjährige Berthe, die dreizehnjährige Louise, die zehnjährige Madeleine, auch der neunjährige Benjamin hatten bis jetzt unter der mager gewordenen Verpflegung noch nicht sichtbar gelitten; aber die Jüngste, die nervenschwache Fleurette, war nur noch ein Schatten von ehedem.

      Helene hatte sie alle wiedergesehn, die Blondköpfe, die so gar nichts Französisches besassen, und über deren lustige Apfelgesichter sie sich früher immer so herzlich gefreut hatte.

      Jetzt lag selbst über den Kindern diese trübe, dumpfe Unfreiheit. Auch sie fühlten sich durch die Herrschaft der Deutschen beengt. Es gab keine Spaziergänge mehr ins äussere Zitadellenwäldchen, keine Autofahrten zu den Schlössern der verwandten Fabrikbesitzer im Dreistädtebezirk, keine Picknicks in den Gärten der befreundeten Familien in Lambersart. Und alles, was deutsch war oder mit Deutschen irgendwie Beziehung hatte, war ihnen zum mindesten verdriesslich. Sie entsannen sich immerhin viel fröhlicher Begegnungen mit „Tante Hélène“, der ihr Vater so ritterlich huldigte, und sie waren gut erzogen genug, um den Besuch artig zu begrüssen.

      Frau Laroche hatte wieder ihre Migräne, sie lag mit verschwollenen Augen zu Bett und konnte sich nicht zeigen; aber Helene müsse unter allen Umständen zu ihr hinauf, drängte Geneviève, sonst wäre Ma schwer gekränkt.

      „Und meine Frau wird Ihnen auch zureden, Hélène,“ sagte Laroche, indem er die Hände der blassen jungen Frau in die seinen nahm und durch Streicheln und Pätscheln zu wärmen suchte, „sie wird Ihnen klarmachen, dass Sie sich an Ihrer Jugend, an Ihrem ganzen Leben versündigen, wenn Sie da draussen in dem entsetzlichen Viertel bleiben. Was ist das für ein Stolz, keine Hilfe in Anspruch zu nehmen. In diesen Zeiten. Wo der furchtbare Krieg in alle Daseinsverhältnisse so tief einschneidet, dass ein Millionär zeitweise kaum seinen Barbier bezahlen kann. Wird es Ihr Mann Ihnen danken, wenn er erfährt, dass Sie wie eine arme kleine Näherin für Geschäfte gearbeitet haben, nur um sich keinen Kredit geben zu lassen? Was hat uns um Ihr Vertrauen, um Ihre Zuneigung gebracht? Geneviève ist kein weicher Mensch. Aber als sie damals hörte, Sie wollten nach Deutschland, wie hat sie da geweint. Und mir ist es in jenen Tagen so weh ums Herz gewesen — ach, Hélène, damals bin ich alt geworden.“

      Helene musste nun doch beschämt lächeln. Sie sah den Vater ihrer Freundin voll an. Er war nicht alt. Seine schönen, klugen, ausdrucksvollen Augen hatte sie immer gern gehabt. Auch seine Gesichtszüge waren jung, sie waren durchgeistigt, innerlich geadelt. Freilich fiel ihr auf, dass sein Haar in den letzten paar Monaten grau geworden war.

      Das Schicksal der Stadt, das Schicksal seines Vaterlandes zehrte an ihm. Sie musste ihn schon um seiner Überzeugung willen achten. Aber heute verstand sie doch nicht mehr, dass sie in den Zeiten des Glücks — vor dem Kriege — seine Huldigung, die doch nicht nur rein väterlich war, in ihrem übermütigen Siegesbewusstsein so selbstverständlich hingenommen, vielleicht sogar ermutigt hatte ...

      Sie sah eine schwere Pflicht vor sich. Es galt heute, ganz offen zu sein.

      Seit dem Sonntagsausflug mit Babins, der den für Yvonne verhängnisvollen Abschluss gefunden hatte, war ihr ja nicht nur von Geneviève und ihrem Vater zugesetzt worden, aus ihrer selbstgewählten Verbannung herauszutreten; auch Hans West ruhte nicht, täglich hatte er sie aufgesucht, und immer lockender hatte die Stimme getönt, die ihr neue Lebensmöglichkeiten im deutschen Kreise schilderte.

      „Sie sind gut zu mir, Laroche,“ sagte sie, indem sie ihre Hände nach einem festen Druck den seinen entzog, „ich habe auch nie daran gezweifelt. Aber die Gastfreundschaft — so, wie Sie mir sie anbieten — kann ich nicht annehmen. Ich kann nicht mehr müssig sein. Ich würde mich unsagbar unglücklich fühlen, wenn ich hier nur so als wohlbehütete, gutgepflegte Nichtstuerin leben sollte. Die Arbeit ist das, was mir über die innere Zerrissenheit hinweggeholfen hat, über diese Zeit sonst unerträglichen Wartens.“

      Die Kinder waren wieder gegangen. Geneviève sass an Laroches Schreibtisch und ordnete in den Listen. Laroche hatte seinen Arm in den der jungen Freundin gelegt und wanderte langsam mit ihr um das Billard, das mitten in dem grossen Arbeitsraum stand. Ab und zu blieb er stehen und schob, ohne sie loszulassen, mit der linken Hand Bälle, sehr geschickt. Und sie griff unwillkürlich mit in das Zufallsspiel ein.

      „Sie könnten Geneviève helfen, wenn Sie wollten,“ sagte er. „Sie kann es so kaum mehr bewältigen.“

      Für eine Sekunde schloss sie die Augen, wie in einem Schmerz. Dann legte sie die Hand auf die Elfenbeinkugel, rollte sie langsam über das grüne Feld und erwiderte: „Es würde mich nur wieder in innere Zwiste führen.“

      Eine Weile ging das Spiel weiter. Plötzlich fing er beide Kugeln mit der linken Hand ab und presste Helene mit dem rechten Arm leicht an sich. „West ist bei Ihnen gewesen? Ihr Freund?“

      „Ja. Sie wussten? Woher?“

      „Glauben Sie, dass es mich nicht genug bewegt hätte, um Ihnen nachzuspüren?“

      „Ach — lieber Freund!“

      Helene seufzte und entzog ihm ihren Arm. Dabei wandte sie sich nach Geneviève um.

      „Was mag man dort wieder alles erzählt haben. Ich erfahre ja das wenigste. Didelot ist Kavalier. Wirklich, ich hatte nie geahnt, dass so viel Zartheit in einem ehemaligen Fabrikarbeiter wohnen kann. Und welch schweren, schweren Stand er schon immer hatte.