Rachael Denhollander

Wie ich das Schweigen brach


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sie den ersten Schritt, der nötig war, um den Täter zu stoppen. 16 Jahre nach der eigenen Gewalterfahrung sah sie plötzlich eine Möglichkeit, dass ihre Stimme gehört wurde, und diese setzte sie mit aller Entschiedenheit ein. In den schweren Monaten vor und während des Prozesses war sie bereit, auf so viel Lebensqualität zu verzichten, eigene Retraumatisierung in Kauf zu nehmen und der Öffentlichkeit tiefste Einblicke in ihre Privatsphäre zu gewähren. Sie ging den ersten Schritt, damit weitere Betroffene folgen konnten. Nur auf diese Weise gab es überhaupt Hoffnung auf ein gerichtliches Verfahren. Nur so konnte der berühmte Sportmediziner und Arzt der US-Turnerinnen Larry Nassar in seinen kriminellen Machenschaften gestoppt werden. Rachael Denhollander, deren Geschichte auch für den deutschsprachigen Raum höchste Relevanz hat, gebührt unser ganzer Respekt und Dank.

      In ihrem Buch beschreibt die Autorin eine Kultur des Missbrauchs, die die sexualisierte Gewalt gegen mindestens 156 junge Mädchen und Frauen ermöglichte. Genau wie sprichwörtlich ein »Dorf« nötig ist, um ein Kind zu erziehen und ins Leben zu begleiten, so ist ebenfalls ein »Dorf« nötig, um ein solches Kind zu missbrauchen. Und wiederum ist ein »Dorf« nötig, um einen Missbrauchstäter zu stoppen. Fassungslos ist sie schließlich nicht nur über das Ausmaß der Gewalt, sondern auch über all das, was in den großen mächtigen Institutionen die Gewalt rund um Nassar ermöglichte und was nicht getan wurde, um den Missbrauch zu stoppen – obgleich es möglich gewesen wäre.

      Rachael Denhollander erlebte Missbrauch auf unterschiedlichen Ebenen und zu unterschiedlichen Zeitpunkten in ihrem Leben. Auch im Kontext von Gemeinde, die ihre Macht und ihren Einfluss seinerzeit nicht nutze, um sie und andere Kinder zu schützen, und auch nicht, um den Täter zur Verantwortung zu ziehen. Stattdessen verlor man sich in theologischen Diskussionen darüber, welche Schritte »schriftgemäß« waren, und weigerte sich, mit Experten zusammenzuarbeiten. Auf diese Weise wurde der Missbrauch nicht ernst genommen und schließlich vertuscht. Die Gemeindeleitung entzog sich ihrer Verantwortung und vernachlässigte ihre Fürsorgepflicht. Eine Erfahrung religiösen Missbrauchs, die zusätzlich zu verkraften war.

      Eine weitere Episode begann direkt vor der Aufdeckung des großen Missbrauchsskandals bei den US-Turnerinnen. Rachael und ihr Mann Jacob gehörten in dieser Zeit zu einer Gemeinde, die gerade dabei war, sich einem bestimmten Gemeindenetzwerk anzuschließen. Das Problem war, dass in diesem Gemeindenetzwerk nur wenige Jahre zuvor zahlreiche Vorwürfe darüber laut geworden waren, dass Pastoren und Gemeindeleiter Beschuldigungen sexueller Übergriffe routinemäßig falsch handhabten. Die eigene Gemeindeleitung nahm die Pastoren des Netzwerkes jedoch automatisch in Schutz, obgleich man keinerlei sichere Informationen hatte, dass die vielfältigen Vorwürfe nicht berechtigt waren. Dies wurde von den Denhollanders hinterfragt. Ihr warnendes Hinterfragen sowie ihr gewohntes Engagement, sich in den sozialen Medien zu Themen des Missbrauchs zu äußern, führten in kürzester Zeit dazu, dass sie ihrer Ämter in der Gemeinde enthoben wurden. Man warf ihnen vor, dass sie Schaden anrichteten. Rachael und Jacob verloren damit jeden Rückhalt ihrer Gemeinde, weil sie mit ihrer Wahrnehmung und Erfahrung verantwortungsvoll umgegangen waren. Sie erlebten, was Betroffene in religiös missbräuchlichen Settings typischerweise erfahren: Menschen, die Probleme ansprechen, werden selbst als Problem behandelt!

      In den beschriebenen Szenarien wird eine überaus große Not in unserer Welt deutlich, im säkularen Kontext ebenso wie in christlichen Settings. Unterschiedlichste Formen des Missbrauchs sind nur da dauerhaft möglich, wo das Umfeld mitmacht. Wo es zu unbequem ist, genau hinzuschauen und sich mit wichtigen Themen zu beschäftigen. Wo wir Unrecht nicht wahrhaben wollen und uns weigern, Schuld und Mitschuld beim Namen zu nennen. Wo sich unsere Orientierungslosigkeit weigert, fachliche Hilfe zu suchen, und wo Beratungsresistenz boomt. Wo wir über sexuellen und religiösen Missbrauch lieber nicht aufklären, weil Organisationen und christliche Gemeinschaften dann ja angegriffen werden könnten. Wo wir vor den nötigen Konsequenzen Angst haben und deshalb schweigen. Der Schein muss gewahrt bleiben. Haben wir im Blick, dass wir dadurch Betroffene im Stich und Täter weiter gewähren lassen und unsere eigene Glaubwürdigkeit riskieren?

      Durch verschiedene offengelegte Skandale ist zumindest das Thema der sexualisierten Gewalt auch in Europa massiv in die öffentliche Aufmerksamkeit gerückt. Viele säkulare und kirchliche Organisationen arbeiten mit Hochdruck an Präventiv- und Schutzkonzepten gegen sexuellen Missbrauch. Jedes Engagement in diesem Kontext ist wertvoll. Gleichzeitig braucht es an vielen Orten noch eine ehrliche Aufarbeitung dessen, was bereits geschehen ist.

      Das Thema des religiösen Missbrauchs ist währenddessen noch lange nicht verstanden. Die Vernachlässigung einer Fürsorgepflicht durch die Gemeindeleitung – wie im Buch beschrieben – ist eines seiner Gesichter. Genauso wie das Phänomen der Beschämung und Diskreditierung derer, die Probleme ansprechen.

      Rachael Denhollander wurde zu einer mutigen Stimme für Tausende Betroffene. Ihre ehrliche Auseinandersetzung mit vielen wichtigen Fragen berührt. Sie handelte nach den Werten ihres Glaubens, die in folgenden Bibelworten zum Ausdruck kommen:

      »Du aber tritt für die Leute ein, die sich selbst nicht verteidigen können! Schütze das Recht der Hilflosen! Sprich für sie und regiere gerecht! Hilf den Armen und Unterdrückten!« (Sprüche 31,8-9 Hfa).

      »Lernt wieder, Gutes zu tun! Sorgt für Recht und Gerechtigkeit, tretet den Gewalttätern entgegen und verhelft den Waisen und Witwen zu ihrem Recht!« (Jesaja 1,17 Hfa).

      Wie schön wäre es, wenn wir alle aus dieser Geschichte lernen könnten – in unserer Gesellschaft und ganz besonders in christlichen Settings aller Art! Wenn wir alle im Blick auf Dynamiken sexualisierter Gewalt und toxischer Spiritualität ehrlich werden, wenn Machtmissbrauch jeder Art verstanden und beendet wird, könnte es sein, dass nicht nur das Leid unzähliger Betroffener gewürdigt wird (was ihnen so sehr zusteht), sondern dass es in Zukunft mehr sichere Orte gäbe, an denen Menschen leben können. Und dass Kirchen und Gemeinden ihre Glaubwürdigkeit wiedererlangen, wo sie diese durch Missbrauch oder einen falschen Umgang damit verloren haben.

      Unser Handeln hat Gewicht für diese Zeit, in der wir leben. Und es hat Ewigkeitsrelevanz, für uns und andere.

      Ich schließe mit den Worten, die Rachel Denhollander selbst in ihrem Finale wählt:

      »Es gibt noch so viel zu tun. So viel Böses zu bekämpfen, so viel Heilung zu erreichen, so viele Verletzte zu lieben. Entscheiden wir uns immer wieder dafür, ungeachtet der Kosten das Richtige zu tun […] Die Dunkelheit ist da und wir können sie nicht ignorieren. Aber was wir tun können ist, uns von ihr zum Licht weisen zu lassen.«

      Inge Tempelmann

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      Anmerkung der Autorin

      Dieser Bericht enthält meine Darstellung der Ereignisse, die mich dazu bewegten, gegen meinen Peiniger auszusagen. Ich möchte den Schaden aufdecken, den Missbrauchstäter anrichten und der entsteht, wenn Missbrauch verharmlost oder ignoriert wird. Einige Namen und persönliche Daten habe ich geändert, um die Privatsphäre einzelner Personen zu schützen. Bei der Beschreibung der Ereignisse stütze ich mich nicht nur auf meine Erinnerung, sondern auch auf meine persönliche Korrespondenz, Medienberichte, Gerichtsprotokolle sowie medizinische und juristische Unterlagen. Wie es bei allen Autobiografien der Fall ist, ist dies meine ganz persönliche Version der Geschichte.

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      Prolog

      4. August 2016, 10:32 Uhr

      Sehr geehrte Damen und Herren …

      An diesem Morgen hatte ich nicht vorgehabt, eine E-Mail zu schreiben. Mit drei Kindern unter fünf Jahren musste und wollte ich meine Zeit tagsüber damit verbringen, die schlichten, aber reichen Freuden mit den Kleinen zu genießen – und nur wenn es möglich war ein paar Stunden meiner eigenen Arbeit dazwischenzuschieben. Mein Mann Jacob war