konnte verstehen, was sie damit meinte. Aber ich wusste auch, dass die meisten es nicht verstehen würden.
»Okay, ich habe noch eine Frage.« Sie machte eine Pause. »Hast du darüber nachgedacht, zur Polizei zu gehen?« Wieder fing mein Herz an zu klopfen. Es gab tatsächlich zwei Fragen, mit denen ich mich nicht befassen wollte, und natürlich hatte meine Mutter beide gefunden.
»Ich weiß nicht, was ich tun soll«, sagte ich und spürte Verzweiflung in mir aufkommen. Unsere Füße zertraten die heruntergefallenen Ästchen der großen Ahornbäume, die unsere Straße säumten.
»Noch eine Runde?«, fragte meine Mutter.
Ich nickte. Noch immer dachte ich über ihre letzte Frage nach. »Ich weiß einfach nicht, was ich tun soll, Mama. Die Polizei erhebt fast nie Anklage gegen solche kleinen Verbrechen. Die Wahrscheinlichkeit, dass irgendetwas unternommen wird, ist nahezu bei null. Nur, dass er dann weiß, dass er nicht erwischt wird, obwohl mir klar ist, was er getan hat.
Meine Mutter nickte. »Hast du über die Tatsache nachgedacht, dass er es wahrscheinlich wieder tun wird, so wie sicher schon viele Male zuvor?«
Diese Tatsache belastete mich mehr als alles andere. »Ja. Und es macht mir wahnsinnige Angst. Aber Mama, wenn er es schon oft getan hat, hat doch bestimmt schon irgendjemand den Mund aufgemacht, vielleicht sogar schon mehrere. Aber er tut es immer noch, was bedeutet, dass bisher noch niemand zugehört hat. Wieso sollte jetzt jemand auf mich hören?«
Meine Mutter seufzte erschöpft. »Ich weiß nicht, wie wir irgendwen dazu bringen sollen, uns zu glauben.« Ich war dankbar, dass sie die Realität nicht beschönigte.
»Die MSU und USAG werden viele Gründe haben, es vertuschen zu wollen«, fügte ich hinzu und beendete so ihren Gedanken. »Ich kann nicht gegen beide Organisationen ankämpfen. Ich wüsste nicht einmal, wie ich genügend Druck aufbauen könnte, um sie dazu zu bringen, mich überhaupt ernst zu nehmen.«
Es fühlte sich wie ein unüberwindbares Hindernis an. Wie sollte eine einzige Person gegen zwei riesige Institutionen mitsamt der internationalen Berühmtheit und Beliebtheit eines Missbrauchstäters ankommen?
»Was, wenn wir zur Presse gehen?«, fragte meine Mutter.
Den gleichen Gedanken hatte ich auch schon gehabt. Vielleicht könnte es funktionieren. Es war das Jahr 2002, und die von Boston Globe durchgeführte Untersuchung des Missbrauchsskandals in der katholischen Kirche erschütterte immer noch die ganze Welt.
»Das wäre die einzige Möglichkeit, genügend Druck aufzubauen, um gehört zu werden. Wenn wir andere Betroffene erreichen könnten … die Situation seiner Kontrolle und der Kontrolle der Organisationen entreißen könnten … Aber wie sollen wir das anstellen?«
Und wieder wussten wir beide, dass wir in einer Sackgasse waren.
»Ich meine, können wir nicht einfach zum örtlichen Nachrichtensender fahren und ihnen die Geschichte erzählen?«, fragte sich meine Mutter.
Ich schüttelte den Kopf. »Journalisten übernehmen solche Geschichten nicht einfach so. Man muss Beweise haben, und mein Wort wird nicht genug sein.« Ich hielt inne. »Wenn irgendjemand aufdeckt, was Larry tut, wird das landesweit in den Nachrichten sein, so berühmt wie er ist. Ich weiß ehrlich gesagt nicht, ob ich damit umgehen kann, dass mein Missbrauch zu einem nationalen Nachrichtenbeitrag wird. Selbst wenn wir versuchen, meine Identität zu schützen, kann es gut sein, dass mein Name bekannt wird.«
Ich wusste, dass es vielleicht die einzige Möglichkeit war. Tief in meinem Innern wusste ich, dass ich diese Chance ergreifen würde, wenn es sein musste. Aber ich brauchte zuerst einen realistischen Ausweg, und den sah ich einfach nicht. Kein Medienunternehmen würde eine Geschichte aufgreifen, ohne Beweise dafür zu haben. Und die Wahrscheinlichkeit, dass mir überhaupt geglaubt werden würde … ging gegen null.
»Aber was, wenn er es wieder tut?«, fragte meine Mutter noch einmal.
Ich fühlte, wie mich Verzweiflung erfüllte. »Das wird er wahrscheinlich, aber ich habe keine Ahnung, wie ich ihn aufhalten soll. Eine anonyme Stimme wird niemals genug sein.«
Meine Mutter schwieg. Wir beide kannten die Realität.
Es gab nichts, was wir tun konnten.
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