Rachael Denhollander

Wie ich das Schweigen brach


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nicht. Aber ich wusste, dass er genau das tun würde. Die Zeit verdichtete sich, während meine Gedanken sich vor Fragen überschlugen und ich meine eigenen Instinkte hinterfragte, weil es Larry war.

      Ohne eine Pause, ohne auch nur eine Sekunde zu zögern, massierte er weiter und seine Hand wanderte nach oben. Plötzlich wie in einem Strudel aus Verwirrung und Angst schrie ich, dass er aufhören sollte, aber es kam kein Ton heraus. Panik überkam mich, und einen kurzen Moment lang wurde der Raum dunkel und ich verlor das Bewusstsein. Benommen und desorientiert spürte ich, wie er mich endlich zurückdrehte und meinen BH wieder schloss.

      »Ich denke, das reicht. Du kannst dich wieder aufsetzen!«, säuselte er fröhlich.

      Was ist gerade passiert?

      Er half mir an den Rand der Liege, noch immer fühlte ich mich benommen und verwirrt. Meine Gedanken und mein Körper standen wie unter Schock, sodass ich kein Wort herausbekam. Und selbst wenn, was hätte ich sagen sollen?

      Was ist da gerade passiert?

      Wer ist das? Dieser olympische Arzt, der sich um mich gekümmert hatte. Der Ehemann der süßen schwangeren Frau, die ich erst vor Kurzem getroffen hatte. Der Vater einer Tochter, die bald zur Welt kommen würde. Wer ist das? Ich war sechzehn. Er ging auf die vierzig zu.

      Geistesabwesend saß ich auf dem zerknitterten Papier und antwortete knapp, wenn es notwendig war, während er meiner Mutter Anweisungen für die weitere Physiotherapie gab. Alles, was ich über Larry wusste, alles, was er gesagt und getan hatte, wirbelte durch meinen Kopf. Ich konnte den Mann, den ich kannte, nicht mit dem in Einklang bringen, der mich gerade an Stellen und in einer Weise berührt hatte, von denen ich sicher war, dass er es nicht hätte tun sollen. Völlig mechanisch beendete ich den Termin und ging hinaus. Ich wollte ihm nicht zeigen, wie beschämt und verängstigt ich vor wenigen Minuten gewesen war, und tat alles, was ich konnte, um normal zu erscheinen. Heute weiß ich, dass ich versucht hatte, ihn, wenn es mir nicht gelungen war, ihn von meinem Körper fernzuhalten, zumindest von meiner Seele fernzuhalten. Ich konnte meine Gedanken und Gefühle schützen. Ich konnte ihn daraus aussperren.

      Wem hat er das noch angetan?

      Es war, als könne ich mich schützen, indem ich keine zusätzliche Aufmerksamkeit auf meine Scham zog. Wie immer hatte ich ihn angelächelt und ihm gedankt, bevor wir gingen.

      Als ich in jener Nacht im Bett lag, überschlugen sich meine Gedanken. Interpretiere ich zu viel hinein? Könnte es einen Grund für seine »Behandlung« gegeben haben? Nein. Larry hatte eine Absicht hinter dem, was er getan hat. Es war berechnet gewesen. Ich wusste, dass es so war. Und ich wusste, was das bedeutete. Der Larry, den ich zu kennen geglaubt hatte, war nicht der echte Larry. Wie ist das möglich? Auch nur zu denken, dass jemand ein Sexualstraftäter war, war eine unglaublich schwere Anschuldigung.

      Wie eingebildet bist du eigentlich, dass du glaubst, er würde dich attraktiv finden? Damals wusste ich nicht, dass es bei sexuellem Missbrauch nicht um äußerliche erotische Anziehungskraft geht. Es geht um Kontrolle. Jeder kann ein Ziel sein. Sogar Teenager in der unbeholfenen Phase ihrer Pubertät. Aber was, wenn es doch nur das übermäßig sexualisierte und dramatische Denken meines jugendlichen Verstandes war? Wenn ich mich irrte, würde ich nicht nur Larry ruinieren, sondern auch mich selbst.

      Aber ich irrte mich nicht.

      Die ganze Nacht über rang ich mit mir selbst und schüttelte immer wieder den Kopf, als könnte ich so die streitenden Stimmen aus meinen Gedanken verbannen. Wie ein kleines Kind, das ungestüm die Münzen aus seinem Sparschwein schüttelt. Ich ballte meine Hände zu Fäusten, bis sich meine Fingernägel in die Handflächen bohrten. Der Schmerz gab mir etwas, worauf ich mich konzentrieren konnte, und half mir, mich zu orientieren.

      Ich wusste die Wahrheit, aber sie half mir nicht weiter. Sie stellte alles auf den Kopf, was ich zu wissen geglaubt hatte. Jede Überzeugung, die ich gehabt hatte. Jede Interaktion. Jedes Wort. Jeden Kommentar. Ich wusste die Wahrheit, aber sie brachte keine Ruhe, sie brachte Verwirrung, Orientierungslosigkeit, Wut. Wer ist dieser Mann? Die Person, die mich an jenem Nachmittag so berechnend missbraucht hatte, und die Person, die jeder kannte, die ich zu kennen geglaubt hatte – wie passten diese beiden Seiten zusammen? Und was sollte ich tun?

      Während ich zwar wusste, dass etwas mit mir geschehen war, das nicht in Ordnung war, war mir jedoch noch nicht klar, dass auch die Penetration und alles, was ich als »Beckenbodentherapie« abgestempelt hatte, alles andere als legitim gewesen war. Ich war mir nur sicher, dass es niemanden kümmern würde, wenn eine Jugendliche begrapscht worden war. Man musste sich nur umschauen, um das zu wissen. Die sexuelle Belästigung und Objektifizierung von Frauen, die schmutzigen Witze, das »Umkleidekabinen-Geschwätz«, das sexuell aggressive Verhalten von Männern – all das wurde ständig heruntergespielt.

      Ich wusste auch, dass das, was passiert war, von vielen wahrscheinlich eher als Kompliment denn als Verbrechen angesehen würde – wenn mir überhaupt jemand glaubte. Traurigerweise hatte ich Ähnliches schon einmal erlebt, ausgerechnet in der Kirche, in der ich aufgewachsen war.

      Ich erinnere mich so gut daran, als wäre es gestern gewesen. Die Gemeinde war klein, nur ein paar hundert Leute, und jeder kannte jeden. Meine Mutter spielte Flöte und gelegentlich sang sie in einem der Musikteams mit. Schon früh war ich für meine Liebe zu Kindern bekannt, nach dem Gottesdienst unterstützte ich tatkräftig die oft müden Mütter, indem ich mich um ihre Babys kümmerte oder während Besprechungen mit ihren Kleinkindern in der Kinderkrippe spielte. Unsere Familie war Teil einer eng verbundenen Kleingruppe zum Bibelstudium, deren Treffen immer ein Höhepunkt der Woche war. Meine Eltern hatten schon lange vor meiner Geburt enge Freundschaften mit Gemeindemitgliedern aus der Gruppe geschlossen, ich war im gleichen Alter wie ihre Kinder, und so waren wir zusammen aufgewachsen. Die Gemeinde war ein Teil unserer Familie, und wir waren ein Teil von ihr.

      Doch etwas änderte sich, als ich sieben Jahre alt war. Nach der Sonntagsschule lief ich nicht mehr direkt zum »Briefkasten« – eine Wand voller Fächer, auf denen die einzelnen Familiennamen standen –, um nachzusehen, ob Mitteilungen oder Newsletter darin waren. Ich hüpfte nicht mehr durch die Gänge und fuhr mit dem Finger die Linien zwischen den riesigen, cremefarben gestrichenen Backsteinen nach und rannte nur noch selten mit den anderen Kindern über den saftig grünen Rasen. Viel mehr Zeit verbrachte ich damit, mich in der Damentoilette zu verstecken. Dann saß ich dort, zitterte und wünschte, jemand würde fragen, was los war. Aber gleichzeitig wusste ich, dass ich keine Ahnung hatte, was ich sagen sollte, wenn jemand danach fragte.

      Ich war missbraucht worden, von einem Studenten aus unserer Kirche, der mich auch danach noch weiterverfolgte. Er hatte es getan, als er mich während einer Bibelstunde der Gemeinde auf seinem Schoß sitzen ließ. Niemand außer mir wusste davon. Ich war mir nicht sicher über das, was passiert war, außer dass ich schreckliche Angst gehabt hatte und mich körperlich krank fühlte. Genauso wenig konnte ich erklären, warum ich mich so fühlte. Also hielt ich mich auf der Toilette auf, dem einzigen Ort, an dem er mich nicht finden konnte. Bis er eines Tages nicht mehr kam, vermutlich weil er das Studium abgeschlossen hatte und umgezogen war. Aber irgendwie kehrte die Normalität auch dann nicht wieder ein, nachdem er gegangen war. Die Bibelgruppe, zu der wir gehörten, löste sich irgendwann auf, die Erwachsenen, die ich liebte und denen ich vertraute, wirkten plötzlich unnahbar und distanziert. Einige unserer engsten Freunde gingen fort, um eine neue Gemeinde zu gründen, und diejenigen, die blieben, standen uns als Familie nicht mehr nahe. Über ein Jahr später verließen auch wir die Gemeinde, die Gründe waren vage und unklar. Ich war am Boden zerstört und frustriert, dass ich nicht verstehen oder erfahren konnte, was geschehen war.

      Erst Jahre später, als ich etwa zwölf Jahre alt war und die lebendigen Erinnerungen an damals einfach nicht abschütteln konnte, erzählte ich meiner Mutter, was dieser Mann getan hatte. Sie schwieg lange und sagte dann leise: »Es tut mir so leid.« Wir sprachen darüber, ich stellte Fragen und bekam endlich die Antworten, nach denen ich gesucht hatte. Aber sie gefielen mir nicht.

      Irgendwann erfuhr ich, dass der Mann, der mich missbraucht hatte, gebeten worden war zu gehen, weil mehrere Studentinnen sich über sein Verhalten beschwert hatten. Aber es war schon viel früher Alarm