war er gefährlich nahegekommen. Ein Missionars-Ehepaar und eine Gruppe von Seelsorgern, die sich besonders mit dem Thema »Sexuelle Gewalt« befassten, hatten die Warnsignale bemerkt: die übertriebene, zielgerichtete Aufmerksamkeit und die große körperliche Vertrautheit, mit denen Täter auf ganz typische Art und Weise Kinder manipulieren und versuchen, eine emotionale Verbindung aufzubauen. Sie hatten die Gemeinde daraufhin gewarnt, ohne zu wissen, dass bereits ein Missbrauch passiert war. Meine Eltern hatten sofort reagiert, indem sie entsprechende Maßnahmen ergriffen, um mich zu schützen, denn auch ihnen waren manche seiner Verhaltensweisen unangenehm aufgefallen. Sie hatten bereits einige Grenzen gesetzt, den Kontakt aber noch nicht ganz abgebrochen, weil sie an ihren Befürchtungen zweifelten. Sie wussten, wie schwerwiegend es war, auch nur einen Verdacht zu hegen, dass jemand ein Sexualstraftäter sein könnte. Dank derer, die den Mund aufgemacht und sofort reagiert hatten, war ich vor einem noch schlimmeren Missbrauch bewahrt worden, dafür werde ich ihnen für immer dankbar sein.
Doch ich erfuhr auch die andere Seite der Geschichte. Viele unserer Freunde aus der Gemeinde, von denen einige Älteste waren oder andere wichtige Positionen hatten, erkannten die Entscheidung meiner Eltern nicht als Schutzmaßnahme an. Da ich nichts von einem Missbrauch gesagt hatte, wurde ihre Reaktion als Anschuldigung ohne Beweise angesehen. Auch das Fachwissen der Seelsorger wurde abgelehnt, weil sie Unterlagen von Psychologen und lizenzierten Therapeuten verwendeten, die »außerhalb der Schrift« waren, darauf konnte man nicht vertrauen.
Einige der Leute, die Alarm geschlagen hatten, einschließlich meiner Mutter, hatten selbst einmal Missbrauch erlebt. Manchmal setzten die Skeptiker genau das als Waffe gegen sie ein: »Missbrauchsopfer übersexualisieren immer alles«, sagten sie. »Sie stülpen allem um sie herum ihre Erfahrungen über.« Aus diesem Grunde könne man auch ihnen nicht vertrauen.
Und es ging nicht nur um mich. Das Thema »Sexuelle Gewalt« und wie damit umgegangen werden sollte, hatte der Gemeinde schon lange Zeit schwer im Magen gelegen. Der erbitterte Streit darüber, welche Methoden in der kirchlichen Beratungsstelle für sexuellen Missbrauch angemessen und biblisch waren und welche nicht, hatte die Mitglieder schon seit Jahren gegeneinander aufgebracht. Meine Mutter erzählte mir, dass in demselben Gebäude, in dem von sexueller Gewalt Betroffene weinten und mit Seelsorgern beteten, andere Gemeindemitglieder Kassetten verteilten, die die Experten und das entsprechende Arbeitsmaterial, mit dem die Seelsorger arbeiteten, angriffen. Sie wurden als unbiblisch und gottlos abgestempelt. Bald ging es so weit, dass gewisse Kleingruppen keine Mitglieder der Beratungsstelle mehr in ihren Bibelstunden haben wollten.
Und die ganze Zeit über, während die Feindseligkeit in der Gemeinde ihren Höhepunkt erreichte, stellte dieser Mann mir nach.
Wie so oft hatten fehlgeleitete Theologien und die Weigerung, in solchen Angelegenheiten mit Experten zusammenzuarbeiten, dazu geführt, dass der sexuelle Missbrauch in den eigenen Reihen erst übersehen und dann vertuscht worden war. Ich war damals nicht die einzige Betroffene. Auch andere ernst zu nehmende und glaubwürdige Vorwürfe dieser Art des Missbrauchs waren unter den Teppich gekehrt worden. Für eine kleine Gemeinde von ein paar Hundert Mitgliedern war sexuelle Gewalt zu einem vorherrschenden und doch wohlbehüteten Geheimnis geworden. Jedes Mal, wenn ein Missbrauchstäter entlarvt oder ein Skandal aufgedeckt wurde, war die Reaktion die gleiche: Den Täter in aller Stille ausschließen. Es vertuschen. Niemandem davon erzählen. Meine Eltern kannten viele der Details nur, weil sie clever genug waren, um zu erkennen, dass die Methoden des Ausschlusses keinen Sinn ergaben. Zudem standen sie den wichtigsten Gemeindeleitern nahe genug, um Antworten verlangen zu können.
Die Informationen, die meine Mutter mir damals weitergab, nachdem ich ihr erzählt hatte, was passiert war, beantworteten Fragen, die mich jahrelang beschäftigt hatten. Sie erklärten auch das kühle Verhalten einiger Leute, das ich zuvor nicht verstanden hatte. Und sie waren mir zu einer Lektion geworden, die ich nie vergessen habe und sogar mit in Larrys Behandlungszimmer nahm: Wenn du es nicht beweisen kannst, sag nichts, denn es wird dich alles kosten.
Als ich in der Nacht, nachdem Larry mich missbraucht hatte, im Bett lag, dachte ich daran zurück, was meine Mutter mir darüber erzählt hatte, warum wir unsere Gemeinde verloren hatten. Schon damals wurde mir klar, wie unzulänglich viele Gemeinden mit sexuellem Missbrauch umgehen: Der Widerwille, es zu glauben. Die Weigerung, mit Experten zusammenzuarbeiten. Die Diskriminierung derer, die es tun. Verschwiegene Geheimhaltung, um das makellose Bild »des Evangeliums« zu bewahren, obwohl Gerechtigkeit die Liebe Christi doch viel besser demonstrieren würde. Und ich ahnte, dass die Situation außerhalb der Gemeinde nicht anders war.
Wenn unsere eigenen Freunde nicht bereit gewesen waren, den Bedenken meiner Eltern über einen Studenten Glauben zu schenken, wie würde dann die breite Öffentlichkeit jemals dem Wort einer namenlosen sechzehnjährigen Turnerin gegen einen weltbekannten olympischen Arzt glauben. Sosehr meine Gemeinde negative Presse verhindern und ihren Ruf wahren wollte – eine der zehn renommiertesten Universitäten der Vereinigten Staaten, wie die Michigan State es war, und ein olympischer Dachverband wie USAG wollten es sicherlich noch mehr. Und sie hatten die Macht, alles unter den Teppich zu kehren, was ich melden würde. Meine Mutter und ich wussten aus der Erfahrung des früheren Missbrauchs, den wir erlebt hatten, dass Missbrauchstäter, die sich mächtig und unerreichbar fühlen, in der Regel dazu neigen, ihre Aktivitäten zu verstärken. Wenn ich es versuchte und scheiterte, würde das ernsthafte Konsequenzen für weit mehr Menschen als nur für mich bedeuten können.
In den nächsten Tagen dachte ich darüber nach, es meiner Mutter zu erzählen, was bei Larry passiert war. Ich wusste, dass sie mir glauben würde. Aber ich hatte zu viel Angst, um es in Worte zu fassen, Worte würden es so viel wirklicher machen. Und die Verwirrung, die mich in jenem Moment erfasst hatte, war immer noch da. Ich wusste nicht einmal, wie ich klar denken sollte. Außerdem gab es nichts, was sie würde tun können. Selbst ihre Stimme würde meiner nicht mehr Macht verleihen, gegen die Institutionen und Personen, die Larry umgaben, anzugehen.
Es gab nichts, das ich tun konnte.
Ein paar Tage später erkannte ich, dass ich ein weiteres Problem hatte – ich sollte weiterhin zu Larry in die Behandlung gehen. Wenn ich aufhörte, müsste ich es begründen, was mir unmöglich erschien, also beschloss ich, Larry einfach zu sagen, dass es meinem Rücken besser ginge. Er konnte ein letztes Mal meine Handgelenke behandeln, und wir würden es dabei belassen.
Als er beim nächsten Termin ins Behandlungszimmer kam, schien es, als hätte sich nichts geändert, zumindest nicht für ihn. Das gleiche einnehmende Auftreten, der gleiche Small Talk, der gleiche Blickkontakt mit meiner Mutter und mir. Nachdem ich ihm mitgeteilt hatte, dass es meinem Rücken besser ginge, schien er froh zu sein und zögerte keinen Augenblick, sich stattdessen auf meine Handgelenke zu konzentrieren.
Nur eine Sache war wirklich neu. Larry war endlich geworden, worauf er gewartet hatte. Er war Vater geworden.
»Komm her, komm her!«, beharrte er beinahe im Flüsterton. Aufregung lag in seiner Stimme. »Komm schon!« Er bedeutete mir, an der Tür zu stehen zu bleiben, und schlüpfte für einen Moment hinaus. Dann kehrte er mit einem winzigen, weichen Bündel zurück. »Ich weiß, dass du sie gerne sehen wolltest, und ich muss einfach mit ihr angeben!«
Sein Gesicht strahlte vor Stolz, als er mir seine neugeborene Tochter zeigte. Seine Frau war kurz vorher zu Besuch gekommen, und als Larry sah, dass ich da war, hatte er sie auf dem Handy angerufen und gebeten, noch mal in die Praxis zurückzukommen, damit ich das Baby sehen konnte.
»Willst du sie halten?«, fragte er, obwohl er die Antwort schon kannte, da er wusste, wie sehr ich Kinder liebte. Er legte mir das Baby in die Arme und flüsterte: »Sie ist wundervoll.«
Seine Erstgeborene hatte eine winzige Knopfnase, feine Augenlider, die im Schlaf geschlossen waren, und dunkles Haar wie Larry. Ein zartes Händchen schaute aus der Decke hervor, in die sie eingewickelt war. »Sie sieht Ihnen ähnlich«, flüsterte ich.
Das war das letzte Mal, dass ich Larry sah. Er forderte mich nicht mehr auf, einen weiteren Termin zu vereinbaren. Meine Handgelenke waren noch nicht in Ordnung. Vielleicht konnte man an diesem Punkt wirklich nichts mehr tun – vielleicht aber hatte er auch das Interesse verloren. Oder er hatte einfach nur bekommen,