Rachael Denhollander

Wie ich das Schweigen brach


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Ich war etwa zwölf Jahre alt und litt an schwerem, hartnäckigem Asthma. Die Klinik schrieb eine jährliche Untersuchung vor, bei der nicht nur mein Arzt, sondern auch ein Sozialarbeiter und ein Kinderpsychologe anwesend waren. Da das Krankenhaus einer Hochschule angehörte, begleiteten den Arzt manchmal ein oder zwei Studenten.

      Das Homeschooling-Konzept war in den Neunzigerjahren noch nicht besonders weit verbreitet. Wenn die für mich zuständigen Ärzte erfuhren, dass ich zu Hause unterrichtet wurde, stellten sie mir für gewöhnlich viele Fragen. Deshalb hatte ich das etwas gemeine Verlangen, alle Klischees in Bezug auf den Hausunterricht auszupacken, nur um zu sehen, wie sie reagieren würden.

      »Du schaffst es noch, dass wir beide gemeldet werden!«, sagte meine Mutter mit einem Grinsen. Wir lachten immer noch, als der Psychologe und ein Student das Behandlungszimmer betraten und fragten, was denn so lustig sei. Ich erzählte es nicht, obwohl ich wusste, dass sie leider oft gute Gründe hatten, Fragen zu stellen.

      Eigentlich liebte ich diese Klinik. Mein Lungenarzt war großartig, und seine Krankenschwester Margaret mochte ich schon, seit ich ganz klein war. Kurz nach diesem Besuch wechselte Margaret in eine Forschungsabteilung, aber sie kam auch später noch jedes Mal vorbei, um mich zu sehen, wenn ich einen Termin hatte.

      Ich liebte es auch, zu Hause unterrichtet zu werden, und das nicht nur wegen des vielen Materials, das es für Insider-Witze bot. Die Möglichkeiten, die sich daraus ergaben, waren unbezahlbar. Meine Eltern glaubten an den Wert von Fleiß und einer positiven Arbeitshaltung, deshalb hatte ich neben der Schularbeit auch mehrere Jobs, für die ich verantwortlich war. Mit elf Jahren ging ich babysitten, und bevor ich Teenager wurde, hatte ich schon einen Teilzeitjob als Kindermädchen. Das bedeutete manchmal, dass der Unterricht abends, am Wochenende oder früh am Morgen stattfinden musste, damit ich meine Aufgaben erledigen konnte, bevor ich fürs Babysitten abgeholt wurde. Doch es bedeutete auch, frühzeitig mit Zeit und Geld umgehen zu lernen.

      Meine Mutter las uns jeden Tag laut vor, und auch mein Vater kam oft dazu. Er konnte uns Ausschnitte aus Der Hobbit und Herr der Ringe mit einer Gollum-Stimme vorführen, dass wir Gänsehaut bekamen. Als ich auf der Mittelstufe war, meldete ich mich über eine lokale Homeschool-Vereinigung für einen Rhetorik- und Debattierkurs an, mit dem ich eine weitere Liebe entdeckte. Ich hielt nicht besonders gerne informative Vorträge, aber überzeugende Rhetorik und Debattieren waren eine ganz andere Sache. Ich lernte, wie man Fragen anhört und beantwortet, wie man ein Gegenüber ins Kreuzverhör nimmt, wie man Beweise sammelt und einsetzt und wie man Informationen nutzt, um einen Fall aufzubauen. Ich liebte die intellektuelle Herausforderung, die dafür notwendig war.

      Meine Eltern versuchten bewusst, mich und meine Geschwister in die Gesellschaft zu integrieren und uns zu dienstbereiten Menschen zu erziehen. Praktischerweise ermöglichte uns unser flexibler Stundenplan, an einer Vielzahl von freiwilligen Tätigkeiten teilzunehmen. Wir sollten lernen, Menschen jeden Alters und jeder Herkunft mit Offenheit und Liebe zu begegnen und mit ihnen ins Gespräch zu kommen – nicht als besonderes Projekt, sondern als Bestandteil des täglichen Lebens.

      Mit etwa zehn Jahren organisierten meine Freundinnen und ich einmal ein Familienfest, um Geld für eine gemeinnützige Organisation zu sammeln, die sich um Frauen in Krisensituationen kümmerte. Wir Mädchen hatten Stunden damit verbracht, Schmuck zu basteln, um ihn zu verkaufen – je knalliger und greller, desto besser. Es gab Spiele, eine Verlosung und unseren Stand voll ziemlich nutzloser, selbst gemachter Handarbeiten, die die Leute aus reiner Gutherzigkeit kauften, um den Dienst zu unterstützen.

      Michelle und ich kannten uns schon seit jenem schicksalhaften Tag in unserem Garten, als wir uns feierlich die wichtigste Frage stellten, die sich zwei Fünfjährige stellen können: »Willst du meine Freundin sein?« Wir stimmten beide zu. Ihre ältere Schwester Sarah wurde automatisch Teil unserer Clique, kurz darauf schlossen sich Katie und Jessie unserem Trio an. Über die Jahre hinweg fanden wir viele Möglichkeiten, uns gegenseitig herauszufordern und zu amüsieren. Zum Beispiel die Übernachtungen, bei denen wir an mehreren aufeinanderfolgenden Nächten von Haus zu Haus zogen. Das hatte alle möglichen Abenteuer zur Folge – Sackhüpfen in einem halben Meter Neuschnee in der Winterlandschaft von Michigan, spätabendliche Schnitzeljagden im Supermarkt und mitternächtliche Gespräche im Überfluss.

      Meine Eltern versuchten uns Kindern beizubringen, in einer Art und Weise zu lieben, die ich zu der Zeit noch nicht ganz verstand. Sie lehrten uns, dass wir im Leben mit so ziemlich jedem auskommen würden, wenn wir auch in Konflikten und schwierigen Lebenssituationen lernten, anderen mit Liebe und Hilfsbereitschaft zu begegnen. Und sie hatten recht. Wir kannten all die normalen Zankereien unter Geschwistern, aber wir lernten auch früh, Kompromisse zu schließen, uns zu entschuldigen und in guter Weise miteinander umzugehen. Unsere Eltern lebten uns vor, dass die Liebe die Grundlage für alles war und nicht die Autorität. Liebe unterdrückt nicht, Liebe strebt danach, zu kommunizieren und zu verstehen. Liebe ist demütig und gibt Fehler zu, sie versucht, den Schaden zu beheben. Liebe beschützt.

      Hinter alldem stand die Liebe zu Jesus Christus. Meine Eltern hatten die verblüffende Fähigkeit, Wahrheiten aus der Bibel in fast jede Situation einzuflechten. So wurde mir die Tatsache, dass ich eine Sünderin war und Vergebung brauchte, durch ein äußerst ungewöhnliches Mittel bewusst: Toilettenpapier.

      Ich war im stattlichen Alter von drei Jahren und fasziniert von den Kartonrollen, auf die das Toilettenpapier gewickelt war. Man hatte so viele fantasievolle Möglichkeiten, wenn man ein paar dieser Mehrzweck-Papprollen besaß. Eines schicksalhaften Tages war plötzlich keine leere Toilettenpapierrolle mehr zu finden, und ich brauchte für das aktuelle Abenteuer, das ich mir in meinem störrischen kleinen Kopf ausgedacht hatte, unbedingt eine. Also schlich ich ins Badezimmer – ganz leise, da ich wusste, dass mein Vorhaben streng verboten war – und lief auf Zehenspitzen zu der vollen Toilettenpapierrolle. Hinter der geschlossenen Tür begann ich nun verstohlen, das Papier abzuwickeln, um an die ersehnte Papprolle darunter zu gelangen – bis ich nach einiger Zeit bemerkte, dass meine illegale Aktion eine ziemlich offensichtliche Spur hinterlassen hatte, die sich quer über den Fliesenboden zog. Unbeirrt legte ich eine Pause ein und begann stattdessen, meine Arbeit zu vertuschen, indem ich all das abgewickelte Papier einfach direkt in die Toilette stopfte. In dem Moment, als ich mich kurz fragte, ob sich wohl alles hinunterspülen lassen würde, fand mich meine Mutter – noch immer eifrig die Toilette vollstopfend.

      Mama, die sehr gut darin war, Parallelen zu ziehen, fragte mich ganz ruhig, was ich denn tun würde. Ich kannte das Wort dafür: Sünde. Ich hatte mich entschieden, gegen das zu rebellieren, was mir gesagt worden war.

      Während wir auf unserer karierten Couch saßen und die Morgensonne durchs Fenster hereinschien, stellte meine Mutter den Zusammenhang für mich her. Ich war nicht die Einzige, die ungehorsam gewesen war, auch Adam und Eva waren es gewesen. So wie sie ohne Erfolg versucht hatten, ihre Sünde zu verbergen, waren auch meine Bemühungen, meine »Sünde« zu vertuschen, erfolglos gewesen. Und auch wenn ich noch so viel Gutes tat, würde das die begangene Schuld nicht rückgängig machen. Ich verstand. Ich setzte die Puzzleteile zusammen und erkannte in meinem kleinen Kinderherzen, wie sehr ich einen Retter brauchte. Auf der Stelle tat ich Buße für meine Sünde, bat Jesus, mir zu vergeben – und wurde so zum schlimmsten Albtraum unseres Pastors: eine sture Dreijährige, die darauf bestand, getauft zu werden.

      Meine Sünden waren mir vergeben worden und ich wusste genau, was nun zu folgen hatte. Ich sollte es öffentlich verkünden, dass ich nun zu Jesus gehörte, und allen weitererzählen, was er getan hatte. Also eilte ich am nächsten Sonntag eifrig zu unserem Pastor und erklärte ihm, was geschehen war und was ich nun tun wollte. Für ihn jedoch schien die Angelegenheit weniger eindeutig zu sein. Er druckste herum und erklärte meinen Eltern schlussendlich, dass er Kinder erst mit mindestens acht Jahren taufte. Ich war frustriert und am Boden zerstört.

      »Er hindert mich daran, Jesus zu gehorchen!«, protestierte ich. »Glaubt er denn nicht, dass ich wirklich gerettet bin?«

      Am darauffolgenden Sonntag redete ich erneut auf ihn ein. Ebenso am nächsten und am übernächsten. Doch er blieb standhaft, und mein verzweifelter Wunsch, gehorsam zu sein, wurde nur noch größer. Irgendwann erkannte mein Vater, dass ich keine Ruhe darüber finden würde, bis ich getan hatte,