Rachael Denhollander

Wie ich das Schweigen brach


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dachte eine Weile darüber nach, dann sagte sie: »Wir könnten fragen, ob es irgendwelche zusätzliche Arbeiten in der Turnhalle gibt, die wir übernehmen könnten, um die Gebühren zu reduzieren.«

      Mein Puls beschleunigte sich. Ja! Es wird funktionieren!

      »Aber was ist, wenn du dich verletzt?«, fragte sie dann und brachte mich wieder auf den Boden der Tatsachen zurück. »Dein Vater und ich wollen, dass du das tun kannst, was dir Spaß macht. Aber nichts ist so wichtig wie deine Gesundheit und deine Sicherheit, mein Schatz. Wenn wir das durchziehen, musst du darauf gefasst sein, dass du dich so schlimm verletzen könntest, dass es unklug sein würde weiterzumachen.«

      Meine Eltern scheuten sich nicht davor, auch schwierige Themen anzusprechen, also diskutierten wir an jenem Abend über alle Eventualitäten, bevor wir eine Entscheidung trafen. Wir sprachen über die Sicherheitsvorkehrungen, die wir treffen würden, um mich vor falschen Vorstellungen bezüglich meines Körperbildes zu bewahren, wie wir die Kommunikation offen gestalten würden, damit ich mit allen Bedenken zu meinen Eltern kommen könnte, wie ich mit dem Druck umgehen würde, einen »Turnerinnenkörper« zu erreichen und dem Wunsch, meinem Trainer gefallen zu wollen. Auch meine Bereitschaft, den Sport aufzugeben, wenn es in meinem besten körperlichen, geistigen oder emotionalen Interesse lag, kam zur Sprache, welche Grenzen es für die Trainer geben sollte, wenn sie mir Hilfestellung gaben oder mich dehnten, wie ich die Privatsphäre in der Umkleidekabine wahren würde und welche Arten von Themen ein Trainer nie mit mir als Sportlerin besprechen sollte. Wir sprachen über alles.

      Am Ende entschieden wir, es zu versuchen, die Ermahnung meiner Mutter stets vor Augen: »Wenn dein Vater und ich irgendetwas sehen, das uns Anlass zur Sorge um deine Gesundheit oder Sicherheit gibt, bist du schneller raus, als du dir vorstellen kannst.« Sie wusste, dass es schwierig sein würde, mich von diesem Sport abzubringen. »Und ich bin bereit, wenn nötig deinen Zorn mir gegenüber zu riskieren, um dich zu schützen.«

      Uns all dessen bewusst, unterschrieben wir den Papierkram, bezahlten die erste Rate der Gebühren und kauften meine ersten Zughilfen (ein spezieller Handschutz mit kleinem Holzstab in der Nähe der Fingerspitzen, mit deren Hilfe man sich besser am Stufenbarren festhalten kann – WIE SIE DIE OLYMPIATEILNEHMER TRAGEN! Ja, zu diesem Zeitpunkt in meinem Leben dachte ich immer in Großbuchstaben an sie).

      Um ehrlich zu sein, ich hatte große Angst, als ich zum ersten Mannschaftstraining ging. Die Turnhalle war erst kürzlich in eine ehemalige Autowerkstatt umgezogen und besaß nun eine Tumbling-Bahn in (fast) voller Länge, eine verlängerte Anlaufbahn für Sprünge, einen zweiten Stufenbarren und eine Mannschaftskabine. Diese letzte Besonderheit war eigentlich nur ein winziger Raum mit einer Wand voll hölzerner Ablagefächer, aber trotzdem war es die Mannschaftskabine.

      Unser winziges Team bestand aus neun Mitgliedern, angefangen von aufstrebenden Athletinnen auf Level 5, wie mir, bis hin zu unserer einzigen Turnerin auf Level 9. Ich war fast die Älteste und mit Abstand die Schlechteste, eine Tatsache, die mich ziemlich unsicher machte.

      Meine Nervosität ließ jedoch schnell nach, als die erfahreneren Mädchen mich durch das selbstständige Aufwärmen und die Stunde mit Konditionsübungen führten, mit der jedes dreistündige Training begann. Sie beantworteten alle Fragen, die eine brennende Perfektionistin mit der Angst, Fehler zu machen, beschäftigten, und erzählten freundlicherweise selbstironische Geschichten von ihren ersten Tagen in der Mannschaft. Daher fühlte ich mich nicht ganz so dumm, als sich meine Beine nach der ersten halben Stunde Muskeltraining in Wackelpudding verwandelten (obwohl das nichts war im Vergleich zu dem Muskelkater, den ich in den nächsten zwei Wochen haben sollte).

      Nach und nach wurde das Mannschaftsleben zur Routine. Meine Hände waren von Blasen übersät, rissig und schwielig, auch dann noch, als meine Muskeln sich bereits an das intensive Konditionstraining gewöhnt hatten. Jeden Tag erledigte ich meine Schularbeit, ging babysitten und dann in die Turnhalle. Einmal die Woche – um einen Beitrag zu den Kosten meiner heiß begehrten Turnstunden zu leisten – half ich meiner Mutter, die ganze Einrichtung zu putzen.

      Mit der Zeit fühlte ich mich immer mehr als Teil des eng geknüpften kleinen Teams, das meine Erwartungen übertraf. Es gab keine Ego-Kämpfe, keinen Wettstreit zwischen Turnerinnen, keine fiesen Bemerkungen und keinen Spott über diejenigen, die keinen absolut perfekten Rückwärtsüberschlag machen konnten (und ja, damit meine ich mich). Stattdessen halfen sich alle Mitglieder gegenseitig und boten einander freundliche Korrekturen oder Umarmungen an, wenn jemand entmutigt war. Wir freuten uns über die Erfolge der anderen, halfen uns gegenseitig weiter, und unser Trainer trug dazu dabei, das alles zu ermöglichen. Er war ein Mann der leisen Töne, sanftmütig, zurückhaltend und ruhig. Sein »Sehr gut …«, das mit einem allmählich schwächer werdenden osteuropäischen Akzent gesprochen wurde, war das höchste Kompliment, das wir für eine gelungene Übung bekommen konnten.

      Die Turnhalle besaß keinen großen Schnickschnack, und es gefiel mir so. Wir machten das Beste aus dem, was wir hatten, auch wenn das im Winter hieß, bei unserer Ankunft einen Eiszapfen am Wasserhahn vorzufinden, weil die Heizung nur dann eingeschaltet war, wenn wir trainierten. Wir wuchsen enger zusammen, wenn wir »Mir ist so kalt, ich erfriere!« kreischten, und zitternd in die Umkleidekabine liefen, bis die Heizung in Gang kam. Dann stellten wir die wildesten Spekulationen darüber an, was wohl passieren würde, wenn auch das Wasser in der Toilette einmal gefrieren sollte. Glücklicherweise wurde die kleine Halle schnell warm. Innerhalb von wenigen Minuten schmolz das Eis, wir zogen unsere Jogginghosen aus und das Training begann. Im Sommer hatten wir das gegenteilige Problem – den Luxus einer Klimaanlage gab es nicht. Zu unserem Glück hatten wir dafür Garagentore, die sich vollständig öffnen ließen, sodass im vorderen Teil der Halle eine leichte Brise wehte. Aber wenn neun Turnerinnen drei Stunden lang bei über dreißig Grad trainierten, Brise hin oder her, konnte man die Luft in der Umkleidekabine schneiden.

      Fast täglich wurden wir von unserem Trainer ermahnt, gut zu essen und viel zu trinken, etwas, von dem ich heute weiß, dass es nur wenige Trainer tun. Die anderen Mädchen tranken Gatorade, aber ich bevorzugte – zur Entrüstung aller anderen – V8-Eistee für einen schnellen Kalorienkick während des Trainings. Unterm Strich kam das Leben in einen festen Rhythmus, und es war gut.

      Um am Ende des Sommers unseren Fortschritt zu beurteilen, ließ uns unser Trainer eine Reihe von Konditions- und Dehntests durchführen. Dazu gehörte das Seilklettern – eine Herausforderung, bei der eine Turnerin ihre Beine in perfekter L-Form ausstreckt und ein bodenlanges Seil nur mit der Kraft ihrer Arme hoch- und herunterklettert, ohne zwischendurch den Boden zu berühren.

      »Komm schon, du bist fast da! Du schaffst es!«, riefen wir, als eine unserer Teamkolleginnen zum dritten Mal in Folge nur mit den Händen das Seil erklomm. Sie keuchte, pausierte und streckte immer wieder ihre schmerzenden Arme aus. Endlich schaffte sie es auch dieses Mal wieder bis nach oben und schlug gegen den Metallbalken, an dem das Seil hing. Das metallische Geräusch hallte bis zu uns herunter und signalisierte ihren Erfolg.

      Auf ihrem Weg nach unten rief mein Trainer mit ruhiger Stimme: »Vorsichtig, vorsichtig.« Dann, mit einem leicht warnenden Unterton: »Pass auf deine Hände auf!«

      Nachdem sie ohne Seilbrand unten angekommen war, rief er freudig aus: »Wo kam das denn her?« Er deutete auf ihre drahtigen Arme und drückte gestikulierend seine Überraschung darüber aus, dass ihr winziger Körper die Kletterübung so gut gemeistert hatte.

      »Sie fühlen sich wie Wackelpudding an«, keuchte sie zurück.

      Er nahm ihre Handgelenke und schüttelte sanft die Erschöpfung aus ihren Armen.

      »Meine auch! Meine auch!«, fiel eine andere Teamkollegin ein und streckte ihre Arme aus. Er lachte und schüttelte bereitwillig auch ihre Arme.

      Ich wusste nicht, wie ungewöhnlich das war, bis zwei Wochen später eine Gastturnerin aus einem anderen Verein mit uns trainierte. Sie war jung, etwa elf Jahre alt. Wir übten Tumbling (eine Reihe von Überschlägen, Flickflacks, Salti und Schrauben), wobei je eine Hälfte unseres Teams in zwei verschiedenen Ecken der Halle stand. Meine Partnerin und ich waren bereits an der Reihe gewesen und warteten, bis das restliche Team wieder auf der anderen Seite angekommen war. Als die neue Turnerin