Rachael Denhollander

Wie ich das Schweigen brach


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Rücken und an den Kniesehnen ankämpfte. Ihre Mutter hatte es dem Trainer gegenüber erwähnt, bevor wir begannen, und beharrt: »Sie ist es gewohnt, sich durchzukämpfen.«

      Die Kleine lief los und warf sich mit unglaublicher Anstrengung in einen Salto mit einer ganzen Schraube. Meine Partnerin und ich schnappten nach Luft.

      »Sie wird sich ernsthaft verletzen«, flüsterte meine Teamkollegin mir zu. »Das ist nicht in Ordnung.«

      Und das war es auch nicht.

      Die Gastturnerin sprang gefährlich tief, was dazu führte, dass sie bei jeder Landung hart auf die Matte aufsetzte. Ihre Knöchel und Knie waren überstreckt, um den Aufprall abzufangen, der durch den falschen Winkel viel zu heftig war. Schlimmer noch, ihr Kopf war viel zu nah am Boden.

      »Sie könnte sich das Genick brechen«, sagte meine Partnerin kopfschüttelnd.

      Sogar ich konnte sehen, dass ihr Salto nicht annähernd straff genug war, um eine Schraube zu üben, wenn sie gesund gewesen wäre. Geschweige denn in verletztem Zustand.

      »Wer lässt sie so trainieren?«, fragte ich ungläubig. »Sehen die nicht, wie gefährlich das für sie ist?«

      »Sie ist eins von Johns Mädchen«, antwortete meine Kameradin resigniert.

      »Oh.«

      Wir wussten beide, was das bedeutete.

      »Eins von Johns Mädchen« bedeutete, dass sie eine Athletin bei Twistars war, einem der bekanntesten Turnvereine in unserem Bundesstaat. Der Leiter dieses Vereins war John Geddert, und in der Turnerwelt eilte ihm sein Ruf voraus. Seine Mädchen verletzten sich oft, meistens schwer. Fast alle von ihnen, sogar die Anfängerinnen, wurden von Problemen am Rücken, an den Knien und an den Kniesehnen geplagt. Teamkolleginnen und Eltern, die schon seit Jahren in der Welt des Kunstturnens waren, sagten, dass er seine Turnerinnen dazu drängte, Übungen zu machen, für die sie noch nicht bereit oder nicht stabil genug waren, was häufig zu noch schlimmeren Verletzungen führte. Er schrie, er schimpfte, manche Mädchen und Eltern in unserem Verein hatten gesehen, wie er mit Dingen warf, und es wurde gemunkelt, dass dazu auch manchmal seine eigenen Turnerinnen gehörten. Dieses Verhalten trat nicht nur während des Trainings auf – er tat es auch bei Wettkämpfen, direkt vor den Augen der Eltern, der anderen Trainer und der Richter von USAG.

      Aber niemand stoppte ihn.

      Weil John gute Ergebnisse erzielte.

      Johns Turnerinnen waren nur ein Mittel zum Zweck. Wenn eine Athletin verletzt war, war eine andere bereit, ihren Platz einzunehmen. Nach einem Wettkampf gingen wir einmal als Team zusammen aus und sprachen dabei ernüchtert darüber, wie sehr Johns Mädchen sich fürchteten zu essen, sogar nach einem Wettkampf. Ein paar aus meinem Team, die schon mit einigen von Johns Spitzenturnerinnen unterwegs gewesen waren, erzählten im Flüsterton, dass diese Mädchen oft nur ein paar Salatblätter auf dem Teller hatten, obwohl sie den ganzen Tag in Wettkämpfen angetreten waren. Sie wussten alle, dass sie beim nächsten Training gewogen werden würden, und auch, dass John sie immer beobachtete. 2

      Wenn diese Gastturnerin eine von Johns Athletinnen war, gab es nichts, was wir oder unser Trainer für sie tun konnten.

      In jenem Jahr las ich das Buch Little Girls in Pretty Boxes von Joan Ryan, einer Sportredakteurin der San Francisco Chronicle. Es war eine verurteilende Anklage gegen die Welt des Wettkampfturnens und Eiskunstlaufs, die den physischen, emotionalen und sogar sexuellen Missbrauch offenlegte, den die Autorin beinahe als ein Kennzeichen dieser Sportarten ansah. Sie argumentierte, dass kleine Mädchen in diesem Sport nicht mehr wert waren als die Medaillen, die sie gewinnen konnten, sodass sie ausgehungert, misshandelt und benutzt wurden, damit ihre Körper und Fähigkeiten perfekt blieben – wie »schöne Schachteln«. Das war es, was das Publikum sehen wollte.

      Mit jedem Kapitel, das ich las, spürte ich mehr einen Krieg in meinem Innern toben. Ich wusste, dass einige der Charakterisierungen von Trainern in diesem Sport wahr waren, weil ich selbst schon solche erlebt hatte. Doch als ich am Ende des Buches angelangt war, klappte ich es zu, setzte mich auf den kratzigen Berberteppich in unserem Keller und schüttelte den Kopf. Ich hatte ein ungutes Bauchgefühl und meine Gedanken überschlugen sich.

      Das kann nicht wahr sein, dachte ich. Es kann nicht alles wahr sein. Die Autorin muss übertrieben haben. Sie muss die schlimmsten Beispiele herausgepickt und all die guten ausgelassen haben. Obwohl ich den Gedanken, ob die Realität wirklich so hässlich sein konnte, bewusst von mir wies, verspürte ich weiterhin ein nagendes Gefühl in der Magengrube. Immer wieder drehte ich das Buch in meinen Händen um.

      Nichts, was sie sagt, ist ein Geheimnis, dachte ich. Wenn sie die Wahrheit sagt, sind die Beweise offensichtlich und nicht schwer zu finden. Sie hat sie gefunden. Wenn sie die Wahrheit sagt, weiß jeder bei USAG, dass diese Dinge passieren.

      Ich atmete tief durch und schüttelte wieder und wieder den Kopf, als wollte ich meine Zweifel und Bedenken abschütteln. »Es kann nicht wahr sein«, wiederholte ich laut. »Denn wenn es wahr und wirklich so schlimm wäre, dann wüssten es alle. Und wenn sie es wüssten, würden sie es stoppen, oder? Ganz sicher glaubt niemand wirklich, dass Medaillen mehr wert sind als kleine Mädchen.«

      Ich wiederholte es immer wieder und tröstete mich mit diesem Gedanken. Es kann nicht wahr sein, denn wenn es wahr wäre, würde es jemand stoppen. Jemand würde für diese Mädchen eintreten.

      Jemand würde es stoppen.

      Jemand würde es stoppen.

      Oder?

       [ Zum Inhaltsverzeichnis ]

      VIER

      »Ja!«, kreischte Erin und reckte eine Faust in die Luft.

      »Du hast es geschafft! Du hast es geschafft!« Sie schrie so laut, dass man es in der ganzen Halle hören konnte, während sie eine der Turnerinnen stürmisch umarmte. »Ich bin so stolz auf dich!«

      Es war Hochsommer und Erin hatte das Training für die Saison übernommen, damit der Betreiber der Turnhalle seine Familie in Europa besuchen konnte. Erin war bei Weitem die lebhafteste Trainerin, die man sich vorstellen konnte, und sie gab alles, um unser winziges Team und jede einzelne Person darin mit ihrer unübertroffenen Zielstrebigkeit zu formen und zu unterstützen. Natürlich erwartete sie dafür viel von uns, doch sie verband ihren Unterricht mit einem so intensiven Enthusiasmus, dass er die ganze Turnhalle mit Energie auszufüllen schien.

      »Stell dich da hin«, sagte sie eines Tages und zeigte auf eine Linie am Boden. Sie versuchte, mir zu erklären, in welchem Winkel ich aufkommen musste, um meinen Handstützüberschlag rückwärts mit der richtigen Streckung auszuführen. Ich stellte mich gehorsam an die Linie; dann kam sie zu mir her und stellte sich nur wenige Zentimeter entfernt vor mir auf.

      »Wenn wir fertig sind, solltest du das hier können«, erklärte sie und sprang ohne ein weiteres Wort rückwärts in einen Handstützüberschlag, wobei ihre perfekt gestreckten Füße dicht an meinem Gesicht vorbeiflogen. Weil sie es im richtigen Winkel gesprungen war, hatte ich nur den Luftzug und keinen kräftigen Tritt gegen meinen Unterkiefer gespürt. »Siehst du? Ich habe dich nicht getreten!«

      Ich nickte eifrig, obwohl ich mein Leben gerade buchstäblich vor meinem inneren Auge vorbeiziehen gesehen hatte. »Wenn du das jetzt versuchen würdest, würdest du mich umbringen«, erklärte sie grinsend. »Wenn ich ›Schultern zurück‹ sage, meine ich das auch!«

      Erin schaffte es in jenem Jahr nicht, meinen Rückwärtsüberschlag zu korrigieren, und das Problem lag eindeutig auf meiner Seite. Was sie jedoch erreichte, war noch viel wichtiger. Sie zeigte mir, wie ein guter Trainer in die nächste Generation investiert. Für Erin waren wir nicht nur Fähigkeiten und Ergebnisse, wir waren Menschen mit Herzen, Gedanken, Körpern und Seelen, die geformt werden wollten. Sie interessierte sich für uns, für die Entwicklung unserer Persönlichkeit und dafür, wer wir sein würden, wenn wir