Rachael Denhollander

Wie ich das Schweigen brach


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sie hatte recht. Mit ihren Worten und ihrem guten Beispiel brachte sie uns Dinge bei, die uns, bis der Sommer vorüber war, zu besseren Menschen gemacht hatten. Sie lehrte uns, wie wichtig es war, in jeden Einzelnen zu investieren und nicht nur in diejenigen, die vielleicht später die öffentliche Aufmerksamkeit erregen würden. Sie ermutigte uns, uns über die Erfolge unserer harten Arbeit zu freuen, über jede gut ausgeführte Übung. Und vor allem lehrte sie uns die kraftvolle Wahrheit, dass die Liebe die größte Motivation ist, die man haben kann. Wir alle blühten in jenem Sommer auf, weil unsere Herzen, Gedanken, Körper und Seelen sicher waren. Wir arbeiteten noch härter an unseren Fertigkeiten und Einstellungen, weil wir geschätzt wurden. Und wir lernten, Fleiß, Ausdauer, Konzentration und eine gute Arbeitsmoral auf eine Art und Weise kennen, wie wir es vorher nie erlebt hatten.

      Die Trainer, die ihre Turnerinnen benutzten, um Erfolg zu haben, zogen vielleicht die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich. Aber sie ließen leere Hüllen von kleinen Mädchen zurück, deren Körper und Gefühle so verletzt waren, dass manche von ihnen nie ganz wieder heil werden würden. Erin wurde nie zu einer berühmten Trainerin, aber sie und unser Vereinsleiter taten in jener winzigen Halle in Kalamazoo, Michigan, mehr Gutes, als die berühmtesten Trainer es je tun würden – Trainer, die in hochmodernen Komplexen arbeiteten und sich mit Trophäen schmückten, die mit dem Blut, dem Schweiß und den Tränen kleiner Mädchen erkauft worden waren.

      Dank des intensiven und gründlichen Konditions- und Techniktrainings unseres Trainers war die Verletzungsrate bei uns sehr niedrig. Aber selbst das reichte nicht, um mich ganz davor zu schützen. In jenem Sommer wurden die Schmerzen in meinen Handgelenken und meinem Rücken immer schlimmer. Kurzum: ich war nicht fürs Turnen gemacht. Ich hatte einen zu langen Oberkörper und ungelenkige Schultern, zudem hatte ich viel zu spät mit dem Sport angefangen. Mein Körper war schlichtweg abgekämpft von den ständigen Belastungen. Als es so schlimm wurde, dass ich morgens mit einem tauben Bein und einem ausstrahlenden Ischiasschmerz aufwachte, verschwendete meine Mutter keine Zeit mehr und brachte mich sofort zum Arzt.

      Kurze Zeit später saß ich auf dem zerknitterten weißen Papier einer Arztliege, glücklicherweise hatten wir einen Termin in einer der bekanntesten sportmedizinischen Kliniken der Region bekommen. Doch dieser Tag sollte einer der am meisten frustrierenden meiner Turnkarriere werden. Nicht unfreundlich, aber forsch und sehr geschäftsmäßig marschierte der Arzt herein. Es war offensichtlich, dass er andere Dinge zu tun hatte. Er stellte sich vor, schüttelte meiner Mutter und mir kurz die Hand und fragte: »Also, wo liegt das Problem?«

      Ich erzählte von den Schmerzen im Rücken und den Handgelenken, wies auf die Stellen an den Daumen, die oft taub waren, und zeigte ihm, bei welchen Bewegungen die Schmerzen schlimmer wurden.

      »Und dein Rücken?«, fragte er. »Was löst da die Schmerzen aus?«

      Ich beschrieb die Bewegungen und fügte hinzu: »Aber es kann auch schon wehtun, wenn ich einfach nur sitze, gehe oder alltägliche Dinge tue.«

      »Hmm.« Er warf einen Blick auf mein Krankenblatt und die kurze medizinische Vorgeschichte, die in der Aktenmappe notiert war. »Nun ja, die Sehnen und Muskeln sind wahrscheinlich entzündet und drücken deshalb auf die Nerven, was zu Schmerzen und Taubheitsgefühlen führt.« Dann sah er auf und sagte: »Kühlen wäre eine gute Sache.«

      Ich blinzelte. Kühlen? Er sagt das, als wäre es eine ganz neue Idee. Hat er nicht mitbekommen, dass ich Turnerin bin? Wir leben von Tapes und Eis.

      Er las noch einmal die Notizen und untersuchte meine Handgelenke etwas genauer. Ich wartete gespannt auf die dringend benötigte Klarheit und Anweisung. Endlich nickte er. Ich wappnete mich. Jetzt kommt es …

      »Ich denke, die Sehnen sind definitiv überanstrengt«, verkündete er selbstbewusst und klappte die Mappe zu.

      »Okay … ja«, stimmte ich zu, während ich versuchte, einen höflichen Ton zu bewahren. »Das Turnen ist sehr anstrengend. Was ich eigentlich wissen möchte ist, ob Sie irgendwelche Vorschläge haben, wie es besser werden könnte oder wie ich mich vor Verletzungen schützen kann.«

      Es gibt bestimmt etwas, das ich machen kann, dachte ich. Physiotherapie oder Tipps, was ich tun darf und was nicht. Dehn- oder Kraftübungen. Etwas, was ich an meinem Training verändern könnte!

      »Nun, du musst einfach alles ruhen lassen«, sagte er, als könnte er nicht verstehen, warum wir überhaupt dieses Gespräch führten. »Du musst eine Pause machen.«

      »Eine Pause … von allem?«, fragte ich. »Können Sie mir nicht sagen, was ich ohne Probleme machen kann und was nicht? Im Turnen ist eine Pause nicht wirklich möglich. Normalerweise machen wir zumindest so viel vom Training mit, wie wir können, während eine Verletzung heilt. Können Sie mir nicht sagen, was ich vielleicht doch tun kann?«

      Er blieb standhaft. »Mach einfach eine Pause«, wiederholte er lässig.

      Ich versuchte, meine Frustration zu verbergen. »Okay. Wie lange denken Sie, dass es dauern wird?«

      »Mmm … ich würde mit zwei Monaten anfangen.«

      »Zwei Monate?« Ich schrie fast. »Ich kann nicht einfach zwei Monate Pause machen!« Mühsam versuchte ich, die Fassung zu bewahren, aber diesen Kampf verlor ich schnell.

      »Tut mir leid.« Er zuckte mit den Achseln. »Das ist die einzige Möglichkeit.«

      Ich öffnete erneut den Mund und schloss ihn wieder, ohne ein Wort zu sagen. Es war zwecklos. Hier würde ich eindeutig nicht weiterkommen.

      Mama und ich meldeten uns ab und machten uns auf den Weg zum Auto.

      Ich war fustriert. »Das ist doch Blödsinn!« Ich ließ meiner Verzweiflung freien Lauf. »Wir haben noch nicht einmal irgendwas versucht, und er sagt mir einfach, dass ich zwei Monate Pause machen soll?«

      Meine Mutter war ratlos. Sie wusste, wie frustriert ich war, aber sie hatte auch keine andere Idee.

      »Es tut mir wirklich leid, Schatz«, sagte sie mitfühlend. »Ich weiß aber nicht, was wir sonst tun sollten. Es wäre dumm weiterzumachen, wenn du solche Schmerzen hast. Nichts ist es wert, einen bleibenden Schaden in Kauf zu nehmen.«

      Enttäuscht starrte ich auf die graue Fußmatte unseres Wagens. Noch am gleichen Tag bat ich meine Mutter, mich fürs Ballett anzumelden. So würde ich wenigstens die zwei Monate nutzen können, um meine Tanzkünste zu verbessern, damit ich, wenn ich in die Turnhalle zurückkehrte, wenigstens etwas getan hätte, das ich später vielleicht würde gebrauchen können.

      In jenen acht langen Wochen fühlte es sich an, als würde die Zeit nicht vergehen. Einmal die Woche ging ich für eine Stunde ins Ballett und fühlte mich total unterfordert. Meine Handgelenke und mein Rücken fühlten sich bald etwas besser an, aber sie waren ganz sicher noch nicht wieder belastbar. Am Ende der zwei Monate hatte ich genug. Ich musste es wenigstens wieder versuchen.

      An meinem ersten Tag zurück in der Halle eilte ich in die Umkleidekabine, stellte meine Sporttasche in mein Fach und atmete tief ein. Der vertraute Geruch von Kreidestaub, Lederriemen und verschwitzten Turnanzügen stieg mir in die Nase. Das war es. Hier gehörte ich hin.

      Nach zwei vollen Monaten Pause wieder anzufangen brachte meine Frustration jedoch auf ein ganz neues Level. Gib einfach dein Bestes, sagte ich mir immer wieder. An der verlorenen Zeit konnte ich nichts ändern, es war also sinnlos, mentale und emotionale Energie deswegen zu verschwenden. Das Einzige, worauf du Einfluss hast, ist das, was dir heute vor die Füße kommt.

      In den nächsten Wochen wiederholte ich dieses Mantra immer wieder und versuchte, das ungute Gefühl in meiner Magengrube zu ignorieren. Mit jedem Training wurden die Schmerzen in den Handgelenken und im Rücken wieder schlimmer. Es war, als hätten die zwei Monate Pause im Grunde gar nichts gebracht. Schon bald wurden meine Daumen wieder taub und morgens erwachte ich mit dem vertrauten Kribbeln im linken Bein. Ich kämpfte gegen die Hoffnungslosigkeit an. Was jetzt? Wir waren bereits in der besten Sportmedizin der Umgebung gewesen, und ich wusste genau, was ich hören würde, wenn wir wieder dorthin gingen.

      »Was soll ich nur