– nun war es ihnen wichtig, dass wir auch die dunklen Seiten des Lebens kennenlernten.
»So verhalten sich Menschen, die andere missbrauchen«, erklärten sie uns. »Alles dreht sich nur um sie. Sogar wenn sie sich entschuldigen, konzentrieren sie sich auf sich selbst – wie ihnen Unrecht getan wurde oder was sie ihrer Meinung nach alles richtig gemacht haben –, um so den Fokus vom Leid abzulenken, das sie verursacht haben. Sie übernehmen nie wirklich die Verantwortung für irgendetwas.« Solche Menschen schieben die Schuld immer auf andere, sagten sie. Aber die Liebe tut das nicht. Die Liebe kümmert sich zuerst um den Schaden, der der anderen Person zugefügt wurde. Und im Gegensatz zu Missbrauch entschuldigt oder verharmlost die Liebe kein Fehlverhalten.
»Wenn du jemandem wehgetan hast und dich entschuldigen musst, sagst du: ›Das und das tut mir leid‹, und fertig. Du machst einen Punkt. Du sagst nichts, um das, was du getan hast, zu rechtfertigen, zu verharmlosen oder zu entschuldigen. Du bist immer für deine Entscheidungen verantwortlich, unabhängig davon, was jemand anderes getan hat.« Diese Art von Liebe lebten mir meine Eltern jeden Tag vor.
Mit neun Jahren lernte ich so die Kennzeichen von Missbrauchstätern zu erkennen. Und noch etwas lernte ich aufgrund meines schweren Asthmas und meiner Allergien schon früh: dass selbst die gutmütigsten Ärzte Behandlungspläne verfolgten, die unangenehm sein konnten. Doch es sollte noch Jahre dauern, bis ich erkannte, wie geschickt sich die verschiedensten Muster von Missbrauch als Aufrichtigkeit tarnen und wie schön sie verpackt sein können.
DREI
»Du wirst enttäuscht sein«, sagte mein Vater ernst.
»Was ist?«, schrie ich fast durchs Telefon. »Haben sie verloren? Was meinst du damit?«
»Ich meine damit, dass du enttäuscht sein wirst.« Es kratzte in der Leitung.
»Oh nein …«, stöhnte ich. »Wie konnten sie verlieren? Sie lagen gestern Abend so weit vorn! Du musst mir erzählen, was passiert ist!«
»Auf gar keinen Fall«, lachte mein Vater. »Du musst warten, bis wir es heute Abend zusammen ansehen.«
»Du machst mich wahnsinnig!«
Es war der Sommer 1996. Die Olympischen Spiele fanden in diesem Jahr in Atlanta statt, und das Mannschaftsfinale der Turnerinnen war am Vorabend ausgestrahlt worden. Ich verfolgte den Sport schon seit einiger Zeit wie besessen. Die Turnerinnen, ihre Trainer, das Punktesystem, die internationale Konkurrenz … das alles war unglaublich spannend für mich. Ich kannte die Kürmusik jeder einzelnen Turnerin und meine Lieblingselemente ihrer Übungen, wusste, welche Turnerinnen so groß waren wie ich und welche bei diesen Spielen vielleicht Rekorde brechen würden. Ich hatte jeden Wettkampf verfolgt außer den vom Vorabend, an dem die Frauen im Mannschaftsfinale angetreten waren. Wie die ganze Nation hatte ich seit Monaten auf diesen vielversprechenden Wettkampf gewartet, es gab nur ein Problem. Das Mannschaftsfinale wurde spät nachts ausgestrahlt – und meine Eltern bestanden auf regelmäßige Schlafenszeiten.
Das muss man sich mal vorstellen. Es war das größte Ereignis im Turnen, unser Team würde vielleicht die erste US-amerikanische Frauenmannschaft aller Zeiten werden, die eine Goldmedaille gewann! Und meine Eltern schickten mich ins Bett.
Immerhin hatten sie mir versprochen, die Übertragung für mich aufzunehmen, damit ich mir jede einzelne Kür ansehen konnte. Wir würden es am nächsten Tag gemeinsam anschauen, sagten sie. Großartige Idee. Nur dass ich, als ich am nächsten Morgen aufwachte, aus dem Bett sprang und schrie: »Haben sie gewonnen? Was ist passiert? Haben sie gewonnen?« Die Antwort, die ich darauf erhielt, war: »Wir werden es alle gemeinsam ansehen«, was so viel bedeutete wie: »Und davor werden wir dir nichts verraten!«
Was noch schlimmer war: Gemeinsam bedeutete mit meinem Vater. Nach der Arbeit. Abends. Das hieß, dass ich den ganzen Tag warten musste, um zu erfahren, was passiert war.
Egal wie sehr ich drängte, meine Mutter weigerte sich, auch nur ein Wort darüber zu verlieren, wie das Finale am Vorabend ausgegangen war.
»Du musst es mir erzählen!«, jammerte ich mit beinahe verärgertem Unterton.
»Kommt gar nicht infrage«, antwortete sie, während sie ganz offensichtlich jeden Augenblick genoss. »Du wolltest das ganze Erlebnis, es unmittelbar mitverfolgen, also werde ich dir nichts sagen! Du musst es selbst herausfinden, wenn wir es heute Abend ansehen!«
»Ahh!«, rief ich.
Dann hatte ich einen brillanten Einfall. Ich wartete, bis Mama die Küche verließ, eilte zum Papierkorb und begann, die Zeitungen zu durchwühlen. In der Ausgabe von heute Morgen würde ich die Ergebnisse sicher finden.
Ha!, dachte ich triumphierend, während ich darauf achtete, keinen Lärm zu machen. Die Wahrheit war, dass ich Spannung hasste und es nicht ausstehen konnte, Dinge nicht zu wissen. Ich war eines der Kinder, die ein Wörterbuch benutzten, um jedes Wort nachzuschlagen, von dem meine Eltern sagten, dass sie es mir erklären würden, wenn ich älter wäre. Ich war eigenständig. Ich konnte die Antworten selbst finden. Ich würde einfach einen Blick auf die Ergebnisse werfen und meinen Eltern nichts davon erzählen, damit sie am Abend ihr Freude genießen konnten, mich zu »überraschen«. Wo war diese blöde Zeitung?
»Ach übrigens, wir haben die Tageszeitung versteckt«, rief Mama beiläufig vom Wohnzimmer herüber, »also such sie erst gar nicht.«
Meinen Eltern war wirklich alles zuzutrauen. Es dauerte eine Ewigkeit bis zum Abend. Endlich durfte ich in dem schwelgen, was das halbe Land – jeder, der keine Eltern hatte, die auf Schlafenszeiten bestanden – bereits am Vorabend genossen hatte. Begeistert kreischte ich bei jeder schön ausgeführten Serie von Überschlägen, jeder Reckübung und Schwebebalken-Kür, voller Ehrfurcht vor der absoluten Perfektion, die über unseren Fernsehschirm wirbelte. Der unglaubliche Fleiß und die harte Arbeit dieser jungen Frauen zahlten sich direkt vor meinen Augen aus, als sie eine Übung nach der anderen mit Bravour meisterten. Und wie der Rest der Welt schnappte ich erschrocken nach Luft, als Dominique Moceanu in der vorletzten Übung des Wettkampfs bei ihren beiden Sprunglandungen stürzte und somit drohte, das amerikanische Team in letzter Minute vom ersten Platz zu stoßen. Ich konnte mir kaum vorstellen, wie sie sich gefühlt haben musste. Ich wusste, dass sie sehr gut war, sehr hart gearbeitet hatte und ihr der Wettkampf sehr wichtig war. Jetzt blieb nur noch Kerri Strug übrig – mit dem letzten Sprung des Abends. Ich wusste, wie das Punktesystem funktionierte; noch ein gelungener Sprung würde dem Team den Sieg sichern. Aufgeregt beugte ich mich nach vorne. Jeder meiner Muskeln war angespannt, als sie die Anlaufbahn entlangsprintete, sich vom Sprungbock abstützte, darüberflog und dann … auch Kerri schaffte es nicht, präzise zu landen. Als sie für ihren zweiten Sprungversuch zum Startpunkt zurückhumpelte, war klar, dass sie sich am Fuß verletzt haben musste.
»Neeein. Nein, nein, nein!«, jammerte ich und hielt mir die Hände vors Gesicht. »Sie werden verlieren. Sie sind so nah dran und jetzt werden sie verlieren!« Das also hatte mein Vater gemeint. Aber es gab noch einen winzigen Hoffnungsschimmer. Noch war ein letzter Sprung ausstehend. Und wie am Vorabend sicher auch der Rest der Welt schrie ich vor Aufregung, als Kerri nach diesem letzten Sprung auf ihren Füßen landete, kurz stehen blieb und dann – offensichtlich von Schmerzen überwältigt – auf der Matte zusammenbrach.
Ich sah, wie die Trainer und ein Arzt zu ihr eilten. »Ich hab sie, ich hab sie, … ich hab sie«, hörte ich eine Männerstimme sagen.
Die Emotionen des Augenblicks waren förmlich spürbar. Diese jungen Mädchen hatten mit ihren perfekten Körpern geschafft, was keinem anderen US-amerikanischen Turnerinnen-Team je gelungen war. Sie hatten einen hohen Preis bezahlt, einschließlich der Verletzung einer Kameradin, aber sie hatten durchgehalten. Es war unglaublich.
Wieder einmal wusste ich, wie sehr ich diesen Sport liebte. Als ich klein war, hatte ich regelmäßig Turnstunden gehabt und war seitdem davon fasziniert. Ich konnte mich