Rachael Denhollander

Wie ich das Schweigen brach


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und überprüfte, wie mein Schützling darauf lag. Dann schob ich meine Finger unter die Kanten, holte tief Luft und stach die Nadel durch. Und wissen Sie was? Kein einziges Mal habe ich meine Puppe gepikst. Natürlich hatte ich jedes Mal, wenn ich übte, einen Anflug von Sorge, dass ich mir mit der Nadel selbst in die Finger stechen würde. Aber ich sagte mir einfach immer wieder: Das Wichtigste ist, das Baby zu schützen. Das ist meine Aufgabe.

      Fünf Jahre später bei McDonald’s war dieser Instinkt noch genauso stark.

      Das ist meine Aufgabe.

      So schnell ich konnte, kletterte ich die Rutsche hinunter und rannte zu dem älteren Jungen hinüber. Ohne zu zögern, packte ich ihn bei den Handgelenken, zerrte ihn von meinen Geschwistern weg und hielt meine Arme ausgestreckt, um mich von seinem schwingenden Fuß fernzuhalten. Zornig starrte mich der Junge an und versuchte sich zu befreien, während er mich anschrie, ihn loszulassen. Ich atmete tief durch, hielt ihn weiter fest und schlug nicht zurück. Ich war einfach nur fest entschlossen, meine Geschwister zu beschützen und sagte mit fester und ruhiger Stimme:

      »Hör auf. Du tust ihnen weh, und du bist alt genug, um es besser zu wissen. Wenn du noch mal meinst, jemandem wehtun zu müssen, sage ich es einem Erwachsenen.«

      Er versuchte, sich zu wehren, doch ich hielt ihn weiter fest.

      »Hör auf«, wiederholte ich. »Du bist alt genug, um es besser zu wissen.«

      Verärgert hielt er inne und grunzte dann ein trotziges »Okay!«.

      Meine Geschwister waren inzwischen außer Reichweite, also ließ ich los und der Junge stampfte davon. In dem Moment kamen unsere Mütter an die Tür, die von ihrem Tisch aus beobachtet haben mussten, wie ich den Jungen in Schach gehalten hatte.

      »Ist alles in Ordnung?«, rief meine Mutter.

      Ich warf einen Blick über die Schulter zu dem Jungen, der jetzt in einiger Entfernung vor sich hin schmollte.

      »Uns geht es gut«, versicherte ich ihr.

      Wir spielten weiter und ich war erleichtert. Meine Geschwister waren nicht verletzt, ich hatte meine Aufgabe erfüllt und das genutzt, was mir gegeben war, um sie zu beschützen – mein Alter, meine Kraft und meine Worte. Damals hatte ich gewusst, was ich zu tun hatte, weil mir eindringlich beigebracht worden war, dass man immer das Recht hat, sich selbst und andere zu verteidigen. Meine Eltern unterstützten mich darin, mutig für etwas oder jemanden einzutreten. Sie ließen es mich sogar üben, damit ich genau wusste, was ich zu tun und zu sagen hatte, wenn ich je dazu gezwungen sein würde.

      »Du hast immer das Recht, dich selbst und andere zu verteidigen«, hatten sie gesagt, »aber schlag niemals wütend um dich. Schlag nicht mit den gleichen Mitteln zurück und tu nur das, was nötig ist, um dich oder andere zu schützen.«

      Mit anderen Worten: Meine Motivation sollte Liebe sein – nicht Zorn oder Rache. Es sollte darum gehen, den anderen aufzuhalten, ohne den Wunsch zu hegen, ihm Schaden zuzufügen.

      Genauso brachten mir meine Eltern bei, dass Kinder, die sich schlecht benahmen, oft wütend und verletzt waren und es deshalb wichtig war, auch Mitgefühl für sie zu haben. Sie ermutigten mich, solchen Querschlägern die Wahrheit zu sagen und sie daran zu erinnern, dass sie verständiger sein konnten und sollten und dass sie für ihre Entscheidungen verantwortlich waren. Und sie erklärten mir, dass ich die Hilfe einer Autoritätsperson in Anspruch nehmen sollte, statt im Zorn meine eigene Form von Gerechtigkeit zu üben.

      Angesichts dieser frühen Lektionen – und der Tatsache, dass ich unglaublich stur und streitlustig war, wenn ich das Gefühl hatte, im Recht zu sein – glaube ich nicht, dass meine Eltern überrascht waren, als ich im Alter von acht Jahren verkündete, eines Tages Anwältin werden zu wollen, um Familien und Kinder zu beschützen. Wenig später setzte ich meinen ersten »Vertrag« auf.

      Eines Nachmittags stellte ich fest, dass meine Mutter zu viel Zeit am Telefon verbrachte, um eine Freundin in einer Krise zu unterstützen, und zu wenig Zeit damit, mir bei den Mathe-Hausaufgaben zu helfen. Ich erinnere mich noch sehr lebhaft daran, wie frustriert ich war. Dass ihre Gespräche wichtig waren, ahnte ich, aber, meine Güte, wenn sie von mir erwartete, dass ich meine Matheaufgaben machte, musste sie auch ihren Teil der Abmachung erfüllen! Wir brauchten einfach ein paar konkrete, definierbare Grenzen in diesem Haushalt. In meiner Verzweiflung nahm ich also ein Blatt Papier und einen Bleistift und setzte, angetrieben von gerechter Empörung, einen Vertrag auf. Ich entwarf eine Vereinbarung, in der sich meine Mutter verpflichten würde, eine festgelegte, begrenzte Zeit am Telefon zu verbringen und mir so lange wie nötig bei Mathe zu helfen. Im Gegenzug würde ich meine für das Schuljahr festgelegten Lektionen abschließen. Dann zog ich zwei Linien darunter, auf denen wir beide unterschreiben konnten, brachte den Vertrag meiner Mutter und machte ihr meinen Standpunkt klar. Von da an wurden meine Matheaufgaben stets fristgerecht unterstützt – und meine Eltern waren weiterhin der Ansicht, dass Jura die ideale Studienwahl für mich werden würde.

      Es war ein Segen, Eltern zu haben, die erkannten, dass aus Sturheit Ausdauer und Entschlossenheit werden kann, wenn man sie in die richtigen Bahnen lenkt. Wie meine Mutter mich oft erinnerte, sind unsere größten Schwächen oft auch unsere größten Stärken – solange wir richtig damit umgehen. Statt zu versuchen, diesen Teil meiner Persönlichkeit zu unterdrücken, brachten meine Eltern mir bei, wie ich ihn kontrollieren und zu meinem Vorteil nutzen konnte und gleichzeitig dabei meine Motivationen zu hinterfragen. Kämpfte ich nur für etwas, weil ich gewinnen wollte – selbst wenn ich im Recht war –, oder kämpfte ich für etwas, weil es mir um die Liebe zu Gott und dem Nächsten ging? Wenn ich einfach nur recht haben und gewinnen wollte, würde ich letzten Endes nur von Überheblichkeit angetrieben sein. Dann wäre ich versucht, ungute Kompromisse einzugehen, Fakten zu verdrehen, andere zu manipulieren und vielleicht sogar Teile der Wahrheit zu ignorieren. Wenn ich nur von dem Wunsch zu siegen angetrieben wäre, könnte meine Zielstrebigkeit für andere gefährlich werden – und letztendlich auch für mich selbst. Meine Eltern lehrten mich, dass ich mich davor schützen konnte, indem ich stattdessen die Liebe zu meiner Motivation machte. Liebe würde die Bereitschaft garantieren, die Wahrheit zu hören und zu sehen. Auch wenn das bedeutete, zugeben zu müssen, dass ich falsch lag. Liebe würde dafür sorgen, dass ich sogar mit denjenigen mitfühlte, die Unrecht getan hatten, gleichzeitig würde sie aber auch ein kompromissloses Streben nach Wahrheit ermöglichen. So wurden mir die Werkzeuge dafür gegeben, schon früh meine Meinung zu vertreten, und ebenso die Erlaubnis, diese Werkzeuge zu gebrauchen.

      Und das tat ich auch.

      Die Vorstellung, an der viele Menschen festhalten wollen – dass Missbrauchsopfer nicht wissen, wie sie ihre Meinung sagen sollen –, ist nicht wahr. Wir müssen uns von dieser Vorstellung trennen und stattdessen versuchen zu verstehen, was es wirklich ist, das die Opfer zum Schweigen bringt.

      Ein roter Faden in der gesellschaftlichen Reaktion auf Missbrauch ist das Argument: »Ich sage ja nicht, dass es ihre Schuld war. Ich sage nur, dass ich anders reagiert hätte.« Es fühlt sich sicherer an, zu glauben, dass Missbrauch nur denen passiert, die es »zulassen«. Aber genau genommen gibt man damit den Opfern die Schuld, indem man andeutet, dass sie den Missbrauch hätten stoppen können, wenn sie nur anders reagiert hätten. Dieser Trugschluss muss über Bord geworfen werden, wir sollten uns bemühen, zu verstehen, warum manche Opfer während oder selbst nach einem Missbrauch nicht dagegen angehen.

      Die Wahrheit ist, dass ich die nötigen Werkzeuge besaß und auch schon früh gelernt hatte, sie einzusetzen. Doch als es so weit war, reichten sie nicht aus, um mir zu helfen, gehört und ernst genommen zu werden.

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      ZWEI

      »Ich darf nicht sehr oft aus dem Haus gehen«, flüsterte ich schüchtern und kauerte mich im Bürostuhl zusammen. »Und es ist beängstigend für mich, in der Öffentlichkeit zu sein.«

      »Wag. Es. Nicht!«, drohte meine Mutter, während sie