Jakob Wassermann

Gesammelte historische Romane von Jakob Wassermann


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der Verbündeten, die Wächter erschraken, begriffen nicht, was im Zuge war und schlossen eilig das Tor. Wütendes Geschrei brandete an den schwarzen Mauern empor, wurde aufgenommen, erneut und wiederholt von den geteilten Armeen, die sich nun in eine einzige zusammenknäulten. Es wurden tausend, es wurden zweitausend, es wurden fünf-und achttausend, und noch immer waren die Gassen, so weit man sehen konnte, voll von den halbwüchsigen Gestalten. Die Vordersten hatten Steine aufgelesen und schleuderten sie gegen die Fenster, daß eine Viertelstunde lang nur helles Glasgesplitter zu hören war, andere rissen Pflöcke aus den Zäunen und fingen an, das Tor zu rammen, der Studiosus Barger, ein vagabundierender Malergesell namens Koselick und Peter Mayer übernahmen den Oberbefehl, die Gitterstäbe an den erdgeschössigen Fenstern wurden ausgebrochen, es gab kein Halten und kein Hindernis, die zahllosen schwachen Arme vereinigten sich zur Kraft von Riesen, das Eichentor hielt nicht stand, die Wachmannschaft ergriff die Flucht, wenige Minuten nachdem es acht Uhr vom Domturm geschlagen, ergoß sich die erregte Menge unter ohrenbetäubendem Stimmengetöse, Jubelgebrüll und Triumphgesängen in das verödete Haus, schob und wälzte sich in alle Gänge aller Stockwerke und ein tausendfacher Schrei: Der Junker! Der Junker! widertönte von den Gewölben. Peter Mayer, überall vornedran, machte die Zelle ausfindig, in der der Junker gefangen saß, er herrschte den Wärter um den Schlüssel an, schon war der Batsch an seiner einen, der Silberhans an seiner andern Seite, sie hoben ihre Pistolen gegen den Zaudernden, dreißig, vierzig Burschen hämmerten mit Knütteln an die Zellentür, der Silberhans drängte sich mit dem Schlüssel durch, die schwere Tür flog auf, da stand der Junker, blaß, still, unendlich erstaunt, hinter ihm der Pater Spe, aber die Eindringenden sahen bloß ihren Geliebten, stürzten auf ihn zu, zwei ergriffen ihn und hoben ihn auf ihre Schultern, die andern vollführten einen ausgelassenen Freudentanz, wir haben ihn, wir haben ihn, jauchzte es durch die Flure, über die Stiegen, sie trugen ihn wie aus dem Grab heraus in den leuchtenden Abend und wurden unterm Tor von einer die ganze Atmosphäre erschütternden Jubelsalve von den ungeduldig Harrenden empfangen, die so dicht standen wie Gras auf der Wiese.

      Im Gefängnis drinnen öffneten sich noch viele Türen. Eine Anzahl Bürger und Handwerker hatte mittlerweile gleichfalls das Gebäude besetzt, sie hatten sich unter dem Schutz des Aufruhrs ein Herz gefaßt und wollten sich ihrer Angehörigen versichern. Pater Spe schuf sich mühsam Raum, hielt Umfrage nach der Freifrau von Ehrenberg, entdeckte endlich mit Hilfe eines herumlungernden Bettelmönchs den eisernen Verschlag, wo sie in Gewahrsam lag, todesmatt, todesbleich, röchelnden Atems auf einem Bündel Stroh hingestreckt; es gelang ihm, den Mönch und einen buckligen Schlossergesellen zu bewegen, daß sie die Frau auf einer Bahre durch einen entlegenen Ausgang in das Haus des Propstes trugen, dort überzeugte er sich zuerst, daß sie gerettet werden konnte, wies die vor Freude keines Wortes mächtige Lenette an, was zu ihrer Pflege geschehen müsse, denn er nahm es darin an Kenntnissen mit jedem gelehrten Doktor auf, und kehrte sodann zur Münze zurück. Der Platz war leer, nur einige Nachzügler trieben sich in der Dunkelheit herum. Doch vernahm er von ferne noch immer das helle Jubelgebrause und folgte der Richtung, die ihm der wundersame Lärm wies. Er war noch nicht lang gegangen, da gewahrte er eine zum Himmel schlagende scharlachfunkelnde Feuergarbe, Häuser und Gassen hörten auf, er trat auf einen sanft ansteigenden Plan, die Bleichwiese, und bis zur Stadtmauer hinauf, deren Zinnen, efeubehangen in den schwarzblauen Äther hineinschnitten, war das ungeheure Gelände von den jugendlichen Aufrührern, Knaben und Mädchen, in verwirrendem Gewimmel bedeckt.

      Dahin hatten sie den befreiten Junker getragen, immer zwei auf ihren Schultern, und wenn den zweien die Last zu schwer geworden, hatten sie zwei andere abgelöst. Sie wurden aber nicht leicht müde, die nach diesem Liebes-und Ehrenamt strebten, es waren Bauernsöhne, starke Kerle. In der Mitte der Bleichwiese stand ein bemooster Stein, da ließen sie ihn herabgleiten und setzten ihn hin wie auf einen grünen Thron. Weil es allgemach finster wurde und sie ihn vor allem anschauen wollten, schleppten sie Reiser, Zweige, dürres Wurzelwerk und trockenes Laub herbei, schichteten alles zu einem riesigen Haufen und zündeten den an. Eine gewaltige Flamme lohte auf, die dann fleißig genährt wurde, bei ihrem Schein strömte das ganze Aufrührerheer auf der Bleichwiese zusammen, alle wollten den Junker sehen, im gefährlichen Gedränge kletterten manche auf die Pappeln, die in weitem Bogen gegen die Stadtmauer standen, andere rollten leere Fässer aus der Weinschenke des Kaspar Bösen-Schwechelhoff herbei und stellten sich drauf, wieder andere fanden endlich die Gelegenheit, dem Junker ihre Mitbringsel zu überreichen, Käse, allerlei Früchte, frischgebackenes Brot, Bretzeln, in Blätter gewickelten Honig, Dinge, die sie seit vielen Stunden in den Taschen oder im Ränzel mit sich herumtrugen und die sie nun gleichsam als Huldigungsgaben vor ihn hinlegten. Dabei stießen und drückten sie einander, kleine Mädchen schrien vor Angst, der Junker sah, daß er den allgemeinen Eifer zähmen mußte, damit kein Unglück geschah. Er erhob sich und winkte mit der Hand, Jubel über Jubel aus unzähligen Kehlen, sie verstanden sein Begehren und blieben still auf dem Fleck, wo sie waren. Da ließ sich der Junker auf die Knie nieder und hockte sich auf die Fersen zurück, das war ihnen vertraut, so war er oft vor ihnen gekauert, wenn er seine Geschichten erzählt hatte, sie erinnerten sich und knüpften Hoffnung an die Erinnerung, Augenpaar um Augenpaar heftete sich verlangend auf ihn, im Bogen ab und auf sah er die jungen hungrigen, vom hochflackernden Feuer außen, von Begeisterung und Erwartung innen glänzenden Augen, nicht nur in der einen Reihe vor ihm, sondern in vielen Reihen hintereinander, immer ein Augenpaar zwischen zwei Köpfen, weit hinein, bis die Dunkelheit der Juninacht die Züge verwischte, Augen wie Feuerkäfer, wie schimmernde Steine, wie Metall und farbige beseelte Kugeln, und auf einmal brach es aus: »Erzählt, Junker! Eine Geschichte, Junker!« in allen Stimmen und Stimmlagen, die zwischen neun und siebzehn Jahren möglich sind, brechender Alt, heller Diskant, Zwitscherlaut und Gurgelton, immer neu erhoben der nämliche Ruf, der Schlacht-und Wahlruf, von Mund zu Mund durch hundert Reihen durch, vom äußersten Rand herüber, obgleich sie dort nur eine Trompete hätten hören können, nicht eine erzählte Geschichte. Als der Junker schwieg, als er beklommen vor sich hinschaute, das Haupt immer tiefer sinken lassend, fingen sie abermals an: »Erzählt, Junker, erzählt!« – »Vom Meister Grimmerlein!« – »Vom Schatzgräber Bodenlos!« – »Vom Alräunchen und der Silberfee!« – »Vom König Grünewald!« – »Vom wundertätigen Brunnen!«

      Der Junker hob den befangenen Blick und ließ ihn suchend herumgehen, hilfesuchend schier, da gewahrte er unter den Kopf bei Kopf stehenden jungen Gestalten den Pater Spe, hoch und befremdlich verschieden von ihnen. Er hatte sich langsam durch sie Bahn gemacht, stand ruhig da, und aus seinen Augen, so anders als die Kinderaugen, erfahren und traurig, aus der Bewegung seines Mundes las, erriet, empfing der Junker die Mitteilung, auf die er mit schmerzlich gepreßtem Herzen gewartet hatte, und so gewartet, daß ihm alles dies nichts war, die Befreiung, der Jubel, der weite Himmel über der Welt, die werbenden Stimmen und strahlenden Blicke, alles nichts. »Botschaft von der Mutter bring ich und daß sie gerettet ist und leben wird«, hieß die Mitteilung. Er richtete sich auf, ein schwärmerisches Lächeln bebte um seine Lippen, und er sagte: »Ich will euch eine Geschichte erzählen, keine von denen, die ihr kennt, eine ganz andere, die Geschichte vom Junker Ernst von Ehrenberg, aber heut nicht, übers Jahr vielleicht, übers andere Jahr vielleicht, habt nur Geduld, um das eine bitt ich euch, nur Geduld … … … … … . .

       Caspar Hauser oder Die Trägheit des Herzens

       Inhaltsverzeichnis

       Erster Teil

       Der fremde Jüngling

       Bericht Caspar Hausers, von Daumer aufgezeichnet

       Eine hohe amtliche Person wird Zeuge eines Schattenspiels

       Der Spiegel spricht

       Caspar