stachelte ihn aus dem Schlaf. Er war jedem zu Diensten, der ihm nützen konnte, schmeichelte nach oben und nach unten, suchte sich bei jeder Gelegenheit in die Nähe der Leibwächter zu drängen und, ehedem ein harmloser, gutmütiger Mensch, war jetzt sein Wesen zerfressen und verzerrt von der Flamme der Ehrwut. Die älteren Leute verachteten ihn, die jungen machten sich über ihn lustig, den höhergestellten war er ein brauchbares Werkzeug.
Wohl zum hundertstenmal begann Charippos seine eintönige Wanderung. Seine Schuhe klappten hallend auf die Ziegelpflasterung des Ufers und der hellenische Mantel flatterte im Abendwind. Bisweilen blieb er stehen, lauschte, schüttelte den Kopf, sprach und gestikulierte vor sich hin. Dann blickte er angestrengt über das Bett des Kanals; nur selten und leise klatschte das Wasser gegen die ausgemauerte Uferwand oder die niedrige Treppe, an der die Barken anlegten.
»Charippos! Charippos!« rief da eine Stimme.
Der junge Tetrarch wandte sich hastig nach der Richtung, woher sie kam.
Atemlos eilte ein Grieche auf ihn zu. Während er den Helm abnahm und mit dem Ärmel des Gewandes die Stirne trocknete, sagte er, er habe Auftrag von Perdikkas. Charippos solle unverweilt ins Haus des Statthalters am Kanal Pikudu kommen. Den Befehl über die Wache möge er an den Hauptmann Agenor übergeben. »Beeile dich nur, Tetrarch,« sagte der Grieche, »ich führe dich, Babylon ist groß.«
»Was für ein Zeichen hast du von Perdikkas?« forschte Charippos zögernd.
»Ein Zeichen? warum das?« erwiderte der Grieche und streckte beide Arme mit devoter Ungeduld zur Seite. »Perdikkas war sehr erregt. Es handelt sich um Alexander selbst, es ist eine Angelegenheit, bei der er nur dir vertrauen will.«
Funkelnde Bilder erhoben sich vor Charippos. Er sah sich an Alexanders Seite, nicht weniger geehrt und geliebt als Hephästion, dessen arme Hülle dort im Sarge lag. Er rief den Roßknecht, doch der Grieche legte abwehrend die Hand auf seinen Arm.
»Wir können keine Pferde brauchen,« sagte er, »es würde uns hindern. Die Straßen sind zu voll. Ich führe dich verborgene Wege.«
Charippos ging zum Zeltlager und redete hastig mit Agenor. Dann folgte er dem Griechen, ahnungslos, daß dieser Weg zum Tode führe.
Die beiden waren noch nicht lange in der Richtung nach dem Euphrat verschwunden, als von der Trümmerstätte des Marduktempels her ein Schwarm von Weibern auftauchte. Mit lautem Geschrei kamen sie gegen den Lagerplatz. Dunkelhäutige babylonische Sklaven trugen die Pechfackeln voran.
Mit lodernden Augen fuhren die Söldner aus ihrem verstimmten Hinbrüten auf. Durstig stierten sie auf die fremdartigen Weiber, die in kurzen Tuniken einhergingen, das Haar aufgelöst über den Schultern.
Der alte Agenor trat den Vordersten entgegen und erhob den Arm. »Geweihter Raum!« rief er, »fort mit euch!« Eine hagere mänadenhafte Babylonierin warf sich auf ihn, schlang die Arme um seine Schultern, klammerte die Schenkel um seine Knie und schrie laut und wollüstig wie eine Besessene.
Unter den andern Frauen entstand wirres Geschrei. Auch die Sklaven erhoben ihre übeltönenden Stimmen, und einer fuchtelte mit der Fackel so unvorsichtig herum, daß er einen Zeltvorhang in Brand setzte. Einige Söldner, die sich der tosenden Weiber bemächtigt hatten, stießen ein Freudengebrüll aus. Die Ängstlicheren standen noch starr, die Rottenführer suchten dem Tumult zu steuern, aber bald sahen sie nichts mehr als ein wüstes Bild der Trunkenheit und aufregendsten Lust, so daß sie, mitergriffen, willenlos hineintaumelten und wie von einem Feuerhauch berührt, die Besinnung verloren. Über die Weingefäße beugten sich Weiber und hielten die Becher hoch über ihre Köpfe. Andere hatten die Gewänder abgeworfen und rannten splitternackt in einer Scheinflucht im Kreis um die lüsternen Verfolger. Betäubend waren ihre sonderbaren Rufe, ihr Girren, wenn sie sich umfangen fühlten, ihr silbernes vogellautartiges Lachen, wenn sie entschlüpften, ihr rasender Gesang bei den Umschlingungen. Eine hatte die ganze Fülle ihres weithängenden bläulichschwarzen Haares in Wein getaucht und während sie gravitätischen Schritts traumwandelartig sich biegend und drehend jeder Umarmung auswich, tropfte der rote Wein auf ihre Hüften und Schenkel nieder. Zwei Söldner folgten ihr, auf den Knien rutschten sie ihr nach, um den Wein von den kühlen Gliedern zu lecken. Da sprang ein riesig gebauter Makedonier auf sie zu, ergriff sie, hob sie auf die Arme und trug sie davon, während die nassen Haare über die Gesichter und Schultern der andern schleiften.
Einige tanzten. Sie wirbelten die Glieder herum, als wollten sie sie aus den Gelenken stoßen, dann fielen sie nieder und verharrten in lüsternen Stellungen. Zu alledem ertönte eine eigentümlich einschläfernde Musik. Es war, als ob aus einer Flöte, abgedämpft und sanfter, die Laute der Harfe kämen; schrille Klagetöne wechselten mit seufzenden, und bezaubernd schmolzen die leiseren Klänge dahin. Das war die Stimme der milden und zugleich schwermütigen Herbstnacht selbst, die um Babylon ihre dunklen Fäden wob.
Da verließ eine von den Frauen, die nur widerwillig und zum Schein die Rasende gespielt hatte, den Kreis des unzüchtigen Tumults, ohne einen Blick für die am Boden verschlungenen Körper.
Es war Drypetis.
Ihr Gesicht war bis zu den Augen verschleiert. Ihr adeliger Gang hatte jene Müdigkeit, die den Frauen aus sehr alten Geschlechtern eigen ist. Von solcher Abkunft zeugte nicht minder die anscheinende Gebrechlichkeit eines mädchenhaften überfeinen Körpers und die sphinxartige Haltung und Neigung des Kopfes auf dem zarten schlanken Hals.
Die Fackeln waren fast alle verloschen. Sie schritt gegen das Zelt, in dem Hephästions Leiche lag. Es war von den Wachen im Stich gelassen. Sie wußte es, war es doch ihr sorgsam berechnetes Werk, hatte doch sie selbst den ehrgeizigen Charippos fortlocken lassen, den sie einzig fürchten mußte.
Aufseufzend blieb sie stehen. Durch den Kriegs-und Leidenssturm hinausgestoßen aus der tiefen Träumerei ihrer königlichen Einsamkeit, war ihr ganzes Wesen bodenlos, gesetzlos und ruhelos. Nicht im Vergangenen mochte sie weilen, der Gegenwart lebte sie nicht mehr, von der Zukunft erwartete sie nichts. Als Hephästion gestorben war, wurde es ihr bewußt, daß sie ihn geliebt hatte in solchem Maß, daß Speise und Trank, Schlummer und Wachen, die Bedürfnisse des Körpers ihr nicht mehr als eines Traumes Traum waren, der Anblick der Welt ein Schattengebilde. Es gab Tage oder Nächte, beides war vor ihren Sinnen kaum geschieden, wo sie vor der furchtbaren Ischtar im Staube gelegen und die Haut blutig geschlagen hatte, und andere, wo sie beim priesterlichen Weihgesang die Glieder in das Grab voll purpurnen Mohns getaucht, das im Tempel des Herrn der Beschwörung gegraben ist.
Sie wollte Hephästions Leib wenigstens im Tode besitzen, dem sie im Leben nichts gewesen war, nicht einmal so viel wie eine Sklavin, die man anschaut, um sie für eine Nachtstunde aufs Lager zu schleppen, nicht einmal so viel wie ein flüchtig blitzender Stein, den man in die Hand nimmt und wieder fortwirft, nicht so viel wie ein rosa Wölkchen, an dem das erdensatte Auge zur Abendzeit Ergötzung findet, nichts, nichts. Sie wollte ihn sehen, ansehen, solange sie es vermochte, ungeschreckt von der Maske des Todes, sie wollte vor der Behausung knien, in der die lichte Seele geweilt, sie wollte die geliebte Hülle zu Uruk in der Totenstadt begraben, damit sie nicht dem Feuer verfalle und aus dem Himmel Zarathustras ausgeschlossen werde; – dann wollte auch sie sterben.
Die Sklaven kamen heran, die hinter den Musikanten wartend auf der Erde gelegen.
Unterdessen wanderte Charippos an der Seite des Griechen unverdrossen durch Gassen und Tore, über Brücken und weite Plätze. Der Bote verfolgte seinen Weg, ohne sich umzuschauen mit großer Eile. Sie kamen an verschlossenen Tempeln vorüber, vor denen riesige Altäre auf Löwenfüßen standen. Sie überschritten breite Straßen, die so gerade hinliefen, als wären sie mit dem Richtscheit ausgemessen. Der Schein der Laternen, Illuminationen, Fackeln und freibrennenden Feuer widerstrahlte prachtvoll und phantastisch auf den glasierten Tonziegeln hoher Mauern. Sie sahen Türme sich erheben, flammend im unbestimmten Rotlicht, wie aus Dunst erbaut, seltsamer Zierate voll, hochaufstrebend. An Palästen schritten sie vorüber, aus denen kein Laut drang; wie schlafend standen die ungeheuren Bauten auf weiten Terrassen, und menschenköpfige Löwen, sich aufbäumende Bronzeschlangen sahen herab, mit wunderlichem Leben begabt, das ihnen alle Schrecken der Bewegung, nur die Bewegung selbst nicht verlieh. Es tauchten