was stehst du da, was stehn wir da, worauf warten wir, nach Würzburg, gleich, gleich, mein Mantel, meine Schuh, nach Würzburg, zum Bischof, glotz mich nicht an, schnell, schnell!« Dabei lief sie barfuß und im Nachtgewand im Zimmer herum und griff besinnungslos nach allerlei Gegenständen, die sie alsbald wieder von sich schleuderte. Die Lenette, freudig betroffen von dem Ungestüm, auf das sie nicht vorbereitet war, hielt es gleichwohl für notwendig, sich dem entsetzten und angstvollen Eifer der Herrin entgegenzustellen und sie zur Geduld bis zum Morgen zu ermahnen, da es unmöglich sei, den Weg bei Nacht anzutreten, zu weit sei es für die zarten Füße der Freifrau, zu groß die Unsicherheit der Straßen, wenn Wallork gleich jetzt nach Rimpar gehe, um eine Kalesche zu holen, könnten sie in aller Frühe fahren und hätten nichts versäumt. Es bedurfte vieler Bitten und Beschwörungen, um die Freifrau zum Warten zu bewegen. Sie lief beständig auf und ab, als wolle sie die Zeit jagen, auf und ab mit gefalteten Händen und heiserem Flüstern.
Seit der Stunde, wo der Junker von ihr Abschied genommen, war in ihrem Innern die Sehnsucht zum Sturm angewachsen. Wie er vor ihr gestanden war und gewartet hatte, worauf gewartet? Sie wußte es so wenig wie er selbst, war alles wiedergekommen von jener einen unseligen Nacht, sie sah den roten dicken Hals des Vaters und um ihn geschlungen die Ärmchen des Kindes, sie hörte den nie verklungenen Schrei in ihrer Brust: so wirst du werden, Mann artet nach Mann. Nun suchte sie die Züge, lauerte bang auf das Gräßliche, das sie schon einmal ins bodenlose Elend hinuntergeschleudert hatte, traute keinem Augenschein, wagte keinen zu sehen. Als der Knabe sie dann verlassen hatte, dünkte ihr, sie habe ihn vergessen, sie schritt von Fenster zu Fenster, schaute in den Brunnen, schaute in den Himmel und vergaß, vergaß. Sie trällerte ein leichtsinniges Liedchen und vergaß, vergaß. Aber etwas in ihr wollte nicht vergessen, konnte nicht, er ist ja anders, sagte das Etwas, schau ihn doch an, hat ihn die Natur nicht wie zum Gegensatz erschaffen, als solle er das Bild seines Vaters austilgen? Und wieder vergaß sie, ließ sich hoffnungslos und müde machen von den vielen tückisch aufeinanderfolgenden Jetzts. Das Vergessen war stets mit dem Frieren verbunden, sie schlug mit dem Hammer auf die erzene Glocke, und als die Lenette kam, jammerte sie: mich friert. Draußen wars so heiß, daß die Katzen die Sonne mieden und die Vögel schläfrig wurden, Lenette murrte: »Das glaub ich nicht, Gnaden, daß Euch friert«, warf aber einen Arm voll Spreu in den Kamin und machte Feuer. Da kam nagend und plagend die Sehnsucht nach dem Entschwundenen, mit jeder Stunde ärger, sie konnte nicht mehr vergessen, seine Gestalt, sein Lächeln, seine Stimme, sein Dastehn, alles hatte was unsäglich Lockendes und Liebliches, der Vater wurde völlig zum Schatten, der Sohn allein war da, ihr Sohn, und sie klagte vor sich hin: »Ach vielleicht lebt er gar nicht, vielleicht hab ich ihn bloß geträumt, vielleicht war er mein erster und einziger Traum, und weil er nur in meiner Einbildung ist, weiß er nichts von mir, hat mich nie gesehn, kennt nicht mein Gesicht, ach Gott, was soll ich tun, wie soll ichs machen, daß er mich glaubt, daß ich ihm bin.« Unter so verstörten Anrufungen, die wie ein geisterhafter Widerhall der scholastischen Conclusionen des Pater Gropp waren, oder nachdem sie das silberne Figürchen gepackt und leidenschaftlich geflüstert hatte: gib mir einen Rat, holde Diana, eilte sie in der Nacht, mit der brennenden Kerze in der Hand, durch die Räume des alten Hauses, schließlich sogar auf den Dachboden hinauf, um durch eine Luke gen Süden zu schauen, wo sie die Stadt Würzburg wußte. Ungeheuer breitete sich die Finsternis zwischen den hölzernen Pfeilern, das vielfach überschnitten und verzweigt aufstrebende Gebälk sah aus wie das Wurzelgeflecht eines riesigen Baumes, der zu den Sternen hinaufwuchs, rings lagen Haufen unversponnener Wolle, Späne, Kehricht und Fetzenzeug, allerlei Gerümpel von Geschlechtern her, da war die Dunkelheit der Sommernacht draußen, in die sie die Blicke tauchte, wie kühles Bad, und wenn sie die Frösche quaken und das Käuzchen schreien hörte, die Tannenwipfel bis zum Horizont hin sich unter einem sanften Wind bogen, machte sie ihrem gepreßten Herzen Luft, indem sie ein Lied sang, nicht mehr das leichtfertige, ein ganz anderes, von dem sie nicht wußte, wo sie es zum ersten Mal vernommen hatte:
»Die Tränen mich ernähren,
sind meine Speis und Trank,
von Zähren muß ich zehren,
weil ich vor Liebe krank.
Ach wann doch wird erscheinen
der schön und weiße Tag,
daß ich nach stetem Weinen
einmal ausruhen mag.«
Lenette hielt ihr Versprechen, der Wagen war um sechs Uhr am Tor, sie dachte, der Magister solle die Gelegenheit benützen und mitfahren, aber der war schon anderthalb Stunden zuvor aufgebrochen. So setzte sie sich allein zu der Herrin in den Wagen, in ein verschossenes Capuchon gehüllt, da es zu regnen begonnen hatte. Gegen neun Uhr kamen sie in Würzburg an, im Maintal hatte sich das Wetter geklärt, als die schwerfällige Kutsche durchs Stadttor rasselte, lagen die Straßen wie golddurchwirkt in der Sonne. Überall standen die Leute in Gruppen beisammen, vor den Kirchen drängten sich schweigende Mengen, Erregung füllte die Gemüter, die Stadtknechte sahen finster drein, außer an den geschlossenen Gewölben der Kaufleute merkte man nichts vom Feiertag. Kein Wunder, die Raserei des Bischofs hatte in den letzten Tagen das Erträgliche überstiegen, keine Bürgerfamilie war mehr von den Angebern verschont, kein Zunftmeister konnte sein Handwerk in Frieden betreiben, vom Hochzeitstisch wurde die Braut weggeschleppt, den Säugling rissen sie von der Mutterbrust, und die Mutter zerrten sie vors Hexengericht, damit war ihr auch schon das Todesurteil gesprochen, ohne ewiges Siechtum durch die Folter kam sie auf keinen Fall ledig. Einheimische, Fremde, Matronen, Jungfrauen, adlige Damen, armselige Dirnen wurden in täglichen Bränden geopfert, es fehlten schon die Hände zum Mordgeschäft und das Papier zum Schreiben, wo von obrigkeitswegen gemordet wird, da muß auch geschrieben werden, das ist zu jeder Zeit und in jedem Jahrhundert dasselbe Ding, wenn der Schreiber nicht schreibt, kann der Henker nicht töten. Trotz des blauen Himmels, der sich über den verschichteten Dächern dehnte, lag was Fahles über der Stadt, ein unheimliches Glimmen in den Augen der Menschen, sie wandelten zu nah am Tode hin, es hauchte sie von unten her gespenstisch an, in der Luft war ein Flattern von unsichtbaren Flügeln, das waren die Seelen der Umgebrachten, die sich nicht trennen wollten von Weib, Kind, Eltern und Geschwistern. In einer Welt, in der die Wände zwischen Zeitlichkeit und Ewigkeit so dünn sind, daß sie zwischen heut und morgen zu bersten drohen, werden die Geister der Menschen über die Grenzen getrieben, von der Verzweiflung zur Ausschweifung ist nur ein Schritt, so waren alle Wirtshäuser dicht besetzt, das tobende Geschrei der Betrunkenen übertönte die Kirchenglocken, in den Gassen des untern Mainviertels, wo die Schiffer und Flößer wohnten, tanzten lachende Paare am Ufer entlang, die Schaubuden hinterm Juliusspital hatten schon zu der frühen Stunde Zulauf, namentlich das Kasperltheater und das Entenschlagen. Neben dem Strom der Hoffnungslosigkeit und dem trotziger Lust war noch einer zu spüren, der sich zwar in der Menge verlor, jedoch bald da, bald dort, auf einer Brücke, vor einem Garten, im Schutz einer Mauer, geheimnisvoll sichtbar wurde gleich wiederkehrenden Strudeln und von Stunde zu Stunde merklicher. Es war als ob gewisse Botschaften umhergetragen würden, als wäre von einem Punkt aus ein Befehl ergangen, der nach verschiedenen Seiten weitergegeben wurde. Manche Bürger blieben jeweils erstaunt auf der Gasse stehen, es dünkte ihnen, wie wenn heute doppelt, dreifach, fünffach so viele Kinder in der Stadt wären als sonst; sie erblickten unbekannte Gesichter, anfangs nur wenige, später Hunderte; woher die nur kamen, fragten sie sich. Es waren bei der auffallenden Bewegung nur Kinder zu sehen, neunjährige, zehnjährige, zwölfjährige, Knaben und Mädchen, auch ältere, dreizehn-, vierzehnjährige, aber die verhielten sich stiller, benahmen sich vorsichtiger. Um Mittag stand ein ganzes Rudel auf dem Domplatz, lautlos, als warteten sie auf wen; als sich ihnen der Feldwebel von der Schloßwache näherte, stoben sie auseinander wie die Sperlinge. In der Gegend des Münzgefängnisses war ein fortwährendes Laufen und Rennen, viele mußten sich in den Gebüschen und Felsenlöchern des Marienbergs versteckt haben, nach dieser Richtung verschwanden die meisten und tauchten an der großen Mainbrücke auf, wenn sie von oben kamen. Schon fingen die Leute an, über das ungewohnte Treiben zu reden und sich zu beunruhigen, aber wenn sie sich um Auskunft an die ihnen bekannten oder auch die eigenen Kinder wandten, erhielten sie keinen Bescheid. Es gab ein Stichwort, das an diesem Peter-und Paulstage von Mund zu Mund der schweifenden Verschwörerscharen flog, ein Wort, das nichts besagte und wahrscheinlich alles bedeutete, es hieß: Mariae Heimsuchung vor Sonnenuntergang.
Die Kalesche der