sie das gebrauchte Geschirr abräumte und in das Elektrofahrzeug verfrachtete, steckte sich Kollerup eine Zigarette hinter der Hütte im Schatten an und hörte durch ein geöffnetes Fenster, wie Onne mit ihr scherzte. Dann wurde das Bett gemacht und die kleine Nasszelle mit Toilette gereinigt. Als sie fertig war, surrte sie mit ihrem Elektrofahrzeug von dannen.
„Hey, Onne!“, rief Kollerup. Onne kam um die Ecke, mit Pinsel und Farbpalette bewaffnet. „Muss jetzt malen“, gab der kurz angebunden zum Besten. Gemeinsam ging Kolle mit ihm zur Staffelei. Wieder ein braun-schwarzes Untergangsbild. Dieses Mal lag ein Toter an einem Haus, das verdammt viel Ähnlichkeit mit dem Hotel hatte.
„Was wolltest du mir eigentlich sagen?“
„Nicht so wichtig.“
„Das klang aber eben anders.“
„Morgen.“
„Na gut. Musst du wissen. Ich bin dann mal drüben, mir die Kirche ansehen.“
„Gibt nich’ viel zu sehen. Is’n Schafstall jetzt.“
„Ach ja? Na denn ...“
„Gibt ja nich’ viel hier.“
„Schon mal deine Bilder irgendwo ausgestellt?“
„Ja.“
„Wo?“
„Och, New York und so.“
„Echt?“ Kolle konnte nicht glauben, dass solche Bilder reißenden Absatz fanden. Aber Kunst ist eben Kunst, dachte er sich.
„Ja. Mit denen hier aber nicht.“
„Welche denn?“
„War früher mal.“
„Was haste denn früher gemalt“?
„Abstrakte Bilder. Gefühle in Formen und Farben.“
„Aha.“
Da er den Eindruck hatte, dass er jetzt stören würde, verabschiedete er sich von Onne. Der stand völlig vertieft mit krauser Stirn vor der Leinwand und wirbelte wie irre mit einem Pinsel herum.
Da es inzwischen schon nach zwölf Uhr war – Kolle hatte nicht bemerkt, wie schnell die Zeit verflog –, ging er zum Hotel zurück. Mal sehen, ob es außer Muscheln und Fisch auch was Essbares gibt, grübelte er. Auf dem Asphaltweg rauschte ihm ein E-Bike fast in die Hacken.
„Ey! Kampfradler!“, rief er hinterher. Aber der Fahrer war schon um die Hotelwarft herum. Das darf ja wohl nicht wahr sein! Aber was ärgerte er sich eigentlich? Er hatte Urlaub.
Im Restaurantbereich gab es nur drei Gäste. Er achtete nicht weiter darauf und setzte sich an einen Tisch am Eingang zur Terrasse. Nee. Lieber draußen. Er stand auf und setzte sich unter einen Sonnenschirm. Ein leises Lüftchen regte sich und verstärkte noch das Gefühl, im Strahl eines Föhns zu sitzen. Drinnen war es kühler, weil die Klimaanlage auf Hochtouren lief, aber da er Raucher war, musste er sich der Hitze im Schatten aussetzen. So saß er und ließ seinen Gedanken freien Lauf. Der Onne war schon seltsam. Während er über das bizarre Treffen mit dem malenden Freizeitschafhirten sinnierte, dudelte im Hintergrund irgendein privater Radiosender. „Die ältesten und seltensten gespielten Titel der 70er-Jahre“, säuselte der Sprecher. Love is like oxygen von Sweet lief gerade. Selten? Kolle schüttelte den Kopf. Leider nur die Singleversion. Er blickte sich um. Jemand schien auf dem Tisch, an dem er saß, seinen Tablet-PC vergessen zu haben. Auf den anderen Tischen lag auch jeweils einer. Komisch. Er nahm sich das flache, an eine alte Kreidetafel erinnernde Teil der modernen Gesellschaft. Kaum hatte er ihn vor sich, erwachte das Display zum Leben.
„GUTEN TAG!“, brüllte ihn der Text an. Darunter dann: „Wenn Sie bestellen möchten, drücken Sie jetzt BESTELLEN“, wurde er aufgefordert. Er drückte auf BESTELLEN. Sofort erschien ein neuer Text: „Möchten Sie etwas essen oder trinken? Oder essen UND trinken? Oder dürfen wir Ihnen das Menü für heute Abend empfehlen? Dann drücken Sie den entsprechenden Button.“ Darunter gab es mehrere Möglichkeiten. Er drückte auf ESSEN UND TRINKEN. Eine kurze Liste der zur Mittagszeit angebotenen Speisen erschien. LUNCH stand darüber. Und daneben eine Liste mit Erfrischungen. Lunch? Er seufzte. Gute alte Zeiten! Mittags gab es was Anständiges! Aber er wollte nicht auffallen. Er hatte ja Urlaub! Alles inklusive. Er entschied sich für eine „Sandhexe vom Thunfisch“ und Salat „Schafskälte mit Grünzeugs“. Dazu eine Apfelschorle. Das kalte Bier von Onne lag ihm im schwer im Magen. Dann musste er seine Zimmernummer eingeben und den zehnstelligen Code seiner elektronischen Zimmerkarte eingeben. Zum Abschluss kam die Meldung, dass seine Bestellung bearbeitet werden würde. Er spielte noch ein wenig mit dem Gerät herum und sah sich das Menü für den Abend an. Überwiegend Fisch, Rotbarsch und Kabeljau in zehn verschiedenen Variationen. Als Fleisch gab es nur Rind. Angeblich „Salzwiesenrind“. Kolle lachte über diesen Scherz. Allerdings in acht Variationen. Gut, dann ist der Abend gerettet, freute er sich. Als Dessert gab es Fruchteis oder Panna Cotta. Auch in verschiedenen Varianten. Getränke, wie üblich in jedem Hotel, in großer Auswahl. Die Biersorte war ihm unbekannt, aber na ja, verdursten würde er nicht. Als er genug herumgespielt hatte, kamen sein Essen und das Getränk. Scheinbar hatte der Besitzer sämtliche Schönheitsköniginnen der Westküste Schleswig-Holsteins unter Vertrag. Seine Bestellung wurde von einer echten nordischen Schönheit serviert. Blonder Pagenschnitt, Sommersprossen und eine Figur, nicht zu sexy und nicht zu dürr. Dazu noch braune Augen. Leider war sie zu schnell wieder verschwunden. Kommt Zeit, kommt Rat, grinste Kolle und widmete sich seinem „Lunch“. Zu seiner Zeit sagte man „Imbiss“ oder, wenn es unbedingt ein Anglizismus sein musste, auch schon mal „Snack“. Aber wann war „seine Zeit“? Eher so 70er-Jahre, als das Leben aufregend war. Gut, heute war es auch noch aufregend. Aber es fehlte diese zitternde, innere Unruhe. Er mampfte am Sandwich herum, das zu seiner Zeit „belegtes Brot“ hieß. Das gerade aus den versteckten Lautsprechern wispernde Sweet Home Alabama wurde von einer Durchsage unterbrochen:
„Wir unterbrechen unser Programm für eine aktuelle Unwetterwarnung. An der Westküste kommt es heute Abend und in der Nacht zu Starkregen, heftigen Gewittern mit Orkanböen. Auch Tornados und gefährliche Windhosen sind möglich. Erwartet werden die ersten Ausläufer eines Sturmtiefs gegen 20 Uhr. Das Unwetter hat bereits auf der britischen Insel große Schäden angerichtet. Ein unerwarteter Tornado an der Ostküste hat mehrere Kraftwerke lahmgelegt. Mindestens zehn Ortschaften waren stundenlang von der Stromversorgung abgeschnitten. Wir melden uns wieder, wenn es Neues über das zu erwartende Unwetter gibt.“
Kolle sah zur Nordsee hinaus. Er fand, dass zu viel Panik gemacht wurde, wenn ein Gewitter im Anzug war. Einige Tagesgäste kamen vom Strand. Scheinbar wollten sie wieder zum Festland. Quengelnde Kinder mit genervten Müttern.
„Nein! Du hast gehört, was der Mann im Radio gesagt hat. Und wenn es losgeht, will ich zu Hause sein!“
„Aber Mama, ...!“
Kolle verdrehte die Augen. War er eigentlich auch so gewesen? Aber Mama! Ein Protest, der nichts bringt. Die Bedienung kam und räumte ab. Anschließend brachte sie ein Schild an der Verandatür an. „Heute Abend bleibt die Veranda geschlossen. Danke für Ihr Verständnis.“ Kolle war es egal. Er sah auf seine Uhr. Siestazeit. Als er an der Bar vorbeikam, lief dort der Fernseher. Katastrophenmeldungen aus dem Vereinigten Königreich. Er fand, dass das nun ziemlich übertrieben war. Aufgeregte Reporter standen vor rauchenden Resten einer Umspannstation und berichteten mit gespielt pathetischen Floskeln über die Schäden und die mögliche Zahl der eventuell verletzten Menschen. Ob es Tote gäbe, wurde der Korrespondent vor Ort vom Moderator gefragt, und man sah es dem Journalisten im Studio an, dass er gar nicht froh war, dass diese Frage mit einem Schulterzucken beantwortet wurde. Scheinbar waren nur Orte an der Ostküste betroffen. Da das Umspannwerk einen Teil des Stroms der Offshore-Windräder aufnahm, um ihn ins Land zu transportieren, war die Stromversorgung für drei Stunden abgebrochen. Die Anlagen in der Nordsee mussten vom Netz genommen werden, um nicht durch Überspannung den Schaden zu vergrößern. Dann wurde umgeschaltet auf überschwemmte Gebiete der Marschgebiete, die hier ohne Deiche offen der Nordsee gegenüberlagen. Kollerup schauderte bei dem Gedanken, so ganz ohne Deich zu leben. Gut, die Leute im Husumer Stadtteil Schobüll