Günter Wendt

Die letzte Fähre ging um fünf


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Eingang her. Onne!

      „Onne!“ Kolle freute sich, den Knirps zu sehen.

      „Den Schafen geht es gut!“, rief der Schafhüter.

      „Was ist los, Onne? Weißt du mehr?“

      „Ein Blitz muss im Generatorhaus eingeschlagen sein.“

      „Wir müssen sehen, ob wir den da draußen noch retten können, Onne“. Kolle deutete in Richtung Veranda.

      Zwei Angestellte kamen jetzt mit Taschenlampen. Kolle nahm eine, zwei weitere gab er an Onne und an den Hotelchef weiter.

      „Folgendes: Ihre Leute bleiben hier bei den Gästen. Jemand sollte sich um die Verletzten kümmern und kleinere Blessuren versorgen. Kaffee oder Tee wären jetzt nicht schlecht.“ Allgemeines Murmeln erhob sich. Stühle und Tische wurden wieder auf ihre Plätze gestellt. Das Küchenpersonal machte sich in der Küche zu schaffen und irgendwie kam wieder Normalität auf.

      Da der Eingang und somit das Foyer im Windschatten lagen, ließ Kolle es darauf ankommen und öffnete vorsichtig die Tür. Er wusste, dass auf der Leeseite eines Hauses im Sturm der Sog nicht zu vernachlässigen war. Die meisten Dachschäden durch sich lösende Dachziegel entstanden auf der windabgewandten Seite. Der Sog war vergleichbar mit dem Effekt, der oberhalb einer Tragfläche dafür sorgte, dass ein Flugzeug Auftrieb bekam. Die Hölle war eine nachtschwarze Regenwand.

      „Äh“, Onne zögerte.

      „Was?“, Kolle sah ihn an.

      „Ich hoffe, dass du nicht wasserscheu bist. Du bist ruckzuck durch bis auf die Haut“, sagte Onne mit unschuldigem Augenaufschlag.

      „Bin ich aus Zucker?“, fragte Kollerup.

      „Ich meine ja nur.“ Damit war die Sache erledigt.

      Nach zwei Minuten wünschte Kolle sich eine Regenjacke. Aber bei dem Sturm war es egal, ob man sich mit einer Regenjacke draußen aufhielt oder nicht, weil der Sturm, der jetzt zum Orkan geworden war, den Regen waagerecht vor sich hertrieb. Breitbeinig wie echte Seemänner auf einem stampfenden und rollenden Schiff, stramm gegen den Orkan, wankten sie zur Veranda. Stockfinster war es, nur die zitternden Lichtbalken der beiden Taschenlampen wiesen ihnen den Weg. Sie hätten genauso in einem schwarzen Windkanal sein können. Kolle ahnte es bereits, bevor sie um die nächste Ecke schlichen. Instinktiv riss er Onne zu Boden. Etwas Großes flog mit flappendem Geräusch über sie hinweg.

      „Das war knapp!“, brüllte Onne in Kolles Ohr. Auf Händen und Füßen krabbelten sie zur Veranda. Dort lag der Tote. Oder zumindest ging Kolle davon aus, dass der Mann tot war.

      Gesicht nach oben. Augen und Mund offen. Kein Puls, kein Atem. Seitdem der Mann an der Verandatür zusammengebrochen war, waren mindestens 15 Minuten vergangen. Die Farbe der Haut, der fehlende Puls und Kolles Intuition sprachen für seine Vermutung. Er sah zum Verandafenster und deutete den Zusehern im Restaurant mit einem Schulterzucken an, dass da nichts mehr zu machen sei.

      „Rein mit ihm!“, nickte er Onne zu, und beide hoben den schweren, schlaffen Körper an.

      Ein Blitz zuckte aus dem abziehenden Unwetter, und der Orkan ließ ein wenig nach. Aber immer noch blies er so heftig, dass sie beide sich lieber vorsichtig bewegten, als von fliegenden Gegenständen erschlagen zu wurden. Es war egal, sie waren jetzt eh so nass, als ob sie mit Kleidung geduscht hätten. Langsam wurde es Kolle auch zu kühl. Der Temperatursturz musste mindestens zehn Grad betragen, so kam es ihm jedenfalls vor. Als sie zur windabgewandten Seite kamen, wurde es schlagartig still. Ein Hurrikan, fragte sich Kolle. Er sah zum Himmel. Aus einem riesigen Loch im Himmel blinkten Sterne. Triefend nass patschten Kolle und Onne ins Haus und trugen den Toten durch das Restaurant.

      „Wir haben nicht viel Zeit!“, rief er in die Runde. „Wo ist der Kühlraum?“

      „Da lang! Hinter der Küche.“ Das Gesicht des Chefs wurde jetzt bleich wie Schnee. „Das ist ja der Wolters!“, rief er.

      „Wer ist Wolters?“ Kollerup sah ihn scharf an.

      „Unser Wattführer!“

      „Ex-Wattführer, meinen Sie.“

      „Ja. Er sollte heute eine Wattwanderung machen. Fiel ja aus.“

      „Was hat er dann hier noch zu suchen gehabt?“

      „Er hatte sich bei meiner Frau beschwert, und dann war es zu spät, um gefahrlos zurück durch das Watt zu laufen. Für solche Fälle haben wir ein Zimmer im Angestelltenhaus. Dort kann man dann übernachten.“

      „Egal. Ab in den Kühlraum mit ihm!“

      Zu dritt trugen sie die Leiche in den Kühlraum und legten sie auf einen Tisch.

      „Machen wir, dass wir hier rauskommen!“ Kollerup war total durchgefroren. Onne hatte in der Zeit die Fragen der Anwesenden beantwortet. Ein Hurrikan! Kannte man eigentlich nur aus dem Fernsehen. Aber hier? An der Nordsee? Wasserhosen, ja, die kannte man, oder die in der letzten Zeit auftretenden Tornados, die auf dem Meer riesige Wassermassen in große Höhen sogen. Aber vielleicht war es ja nur ein Orkan. So genau kann man das bei den heutigen Wetterkapriolen ja nie sagen.

      „Haben wir ein Netz, Onne?“

      „Kolle, du willst jetzt Fische fangen?“

      „Nein. Kein Netz“, kam ihm der Hotelchef zuvor.

      „Scheiße.“ Kolle dachte nach.

      Kollerup wandte sich an den Hotelchef. „Gibt es in diesem Haus Satellitenverbindung?“

      „Das hängt am Stromnetz und ist nicht autonom. Wer rechnet denn auch mit so einem Blitz, der alles lahmlegt?“ Fast schien es, als fühlte sich der Chef verantwortlich für den Blackout. „Das Einzige, was wir noch haben, ist das Gas für die Küche.“

      „Ich brauche eine Liste der Gäste.“ Kolle betete im Stillen, dass es eine solche Liste gab. Aber als er das Gesicht des Chefs sah, sank seine Zuversicht.

      „Aber Nele kann Ihnen sagen, wer eingecheckt hat. Warten Sie.“ Er wandte sich zum Restaurant und rief: „Nele! Komm mal bitte.“ Die schlanke nordische Schönheit mit dem blonden Pagenschnitt kam.

      „Ja?“ Große braune Augen sahen ihren Chef an.

      „Sag mal bitte dem Herrn Kommissar, wer alles eingecheckt hat.“

      Und sie begann ohne Zögern, alle Gäste aufzuzählen.

      „Moment, Moment!“, lachte Kolle und bat Onne, die Namen zu notieren. Der bekam ein Tablet und einen Stift, mit dem man auf dem Display schreiben konnte. Dauerte eine Sekunde, bis Onne die App aufgerufen hatte und bereit war.

      „So“, Kolle sah Nele an. Als sie fertig war, bekam sie bewundernde Blicke.

      „Eidetisches Gedächtnis“, hauchte der Chef des Hotels ergriffen. „Nele ist Gold wert.“

      „Das ist sicher hilfreich in Ihrem Beruf“, sagte Kolle trocken. Die Angesprochene schien das kaltzulassen.

      „Ist aber auch manchmal ein Fluch. Man vergisst so schnell nichts“, sagte sie und etwas schien sie plötzlich traurig zu stimmen.

      Insgesamt gab es zehn Zimmer im Hotel. Oben sechs und unten vier. Im Obergeschoss waren vier belegt, unten zwei. Dann bedankte er sich bei Nele und dem Chef.

      „Ach ja, ...“, ihm fiel etwas ein. „Wer kümmert sich eigentlich um die Haustechnik?“

      „Jan-Ole“, antwortete der Hotelchef. „Soll ich ihm sagen, dass er sich den Schaden mal ansehen soll?“

      „Ja. Gute Idee!“ Kolle nickte zufrieden. „Wie ist es mit der Verbindung zum Festland?“, wollte er wissen.

      „Das müssen wir sehen, wenn wir Strom haben. Das Festnetz ist jedenfalls tot. Und wann wir Strom vom Festland bekommen, wissen wir, wenn die Smartphones wieder über Satellit funktionieren.“ Der Hotelchef sah hinaus und meinte trocken: „Aber bei diesen dichten und hohen Wolken sieht es schlecht