Will Berthold

Ein Kerl wie Samt und Seide


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Wasser, Strom und Gas jetzt wieder halbwegs funktionierten, war nur einigen örtlichen Befehlshabern – innerhalb der Militär-Regierung ›Landkreis-Könige‹ genannt – zu verdanken, die, stillschweigend die Vorschriften umgehend, PGs weiter beschäftigt hatten, bis ein ›Informer‹ diesen Vorgang höheren Ortes denunzierte, worauf der Mann ersatzlos wieder gefeuert werden mußte. Unter diesen Umständen war es für jede Stadtverwaltung ziemlich aussichtslos, genügend Kräfte zu finden, Männer, die einen sauberen Fragebogen vorweisen konnten und doch etwas von ihrem Fach verstanden.

      Es gab sie natürlich, aber diese Leute waren zu alt oder zu gewitzt, um sich in so unsicheren Zeiten auf vage Experimente einzulassen. In einigen Fällen hatten die Amerikaner den einen oder anderen dann doch mit der Androhung überredet, ansonsten einen DP zum Bürgermeister oder Landrat zu ernennen. Seltener gab es Patent-Lösungen wie in der fränkischen Stadt Ansbach, wo ein mit illegalen Ostzonen-Flüchtlingen überladener Lastwagen zusammengebrochen war. Die Militär-Polizei nahm sofort eine Personen-Kontrolle vor und stieß dabei auf einen hohen Ministerialbeamten aus Berlin, der nicht der Partei angehört hatte. Der Mann wurde auf der Stelle zum Bürgermeister befördert.

      »Ich denke, Sie haben mich verstanden, Captain Wallner«, sagte der General zu dem Offizier, der offensichtlich mit Pattons neuer Weisung nicht einverstanden war.

      »Sir«, entgegnete er, »Vernunft und Vorschriften sind zwei Paar Stiefel. Was Sie nunmehr anordnen – darauf muß ich leider aufmerksam machen – verstößt ganz entschieden gegen die Vorschriften.«

      »Vorschriften!« schnaubte der General. »Putzen Sie sich mit Ihren Vorschriften den Arsch ab, und lassen Sie mich in Ruhe mit diesem beschissenen Papiermist.« Er sah zu der Journalistin hin: »Sorry, Judy«, entschuldigte er sich.

      »It does’nt matter, General«, erwiderte sie. »Ich lebe lange genug unter Männern.«

      Der General nickte lächelnd. »Alles klar, Captain Wallner? Es ist ein Befehl«, setzte er hinzu. »Ich werde jeden von Ihnen decken, der sich in dieser Sache in Widerspruch zu den Bestimmungen setzt.«

      »Aber das ist doch nicht etwa ein Freibrief für die Nazis«, schaltete sich Major Silversmith wieder ein.

      »Nicht für Nazis«, erwiderte Patton, »weiß Gott nicht. Hier können Sie sich austoben, Captain. Fangen Sie den Gestapo-Müller, den Reichsleiter Bormann, den Gauleiter Koch, die SS-Obergruppenführer Pohl und Heissmeyer oder den Judenmörder Eichmann. Soll ich Ihnen noch weitere Namen aufzählen?«

      »Immerhin schnappen wir jeden Tag durchschnittlich siebenhundert Nazis«, erwiderte Silversmith.

      »Vermutlich sechshundert zu viel«, konterte Patton. »Und das halbe Reichssicherheitshauptamt läuft noch frei herum. Ich habe mir diese Kerle vorgestern im Interniertenlager angesehen, die ihr zusammengetrieben habt: Es sind nicht die Nazi-Monster, gegen die wir gekämpft haben. Die meisten sind kleine Fische oder windige Scheißer.«

      »Wir werden uns mit jedem einzelnen von ihnen befassen«, erwiderte Silversmith.

      »Aber schnell, wenn ich bitten darf.«

      »Wir tun, was wir können.«

      »Wissen Sie eigentlich, daß die Russen längst begonnen haben, auf unserem Besatzungsgebiet deutsche Wissenschaftler zusammenzufangen und in die Sowjetunion zu befördern? Zum Beispiel Raketenforscher von Peenemünde, Ingenieure, die an der Entwicklung des deutschen Düsenjägers und des Turbinen-U-Bootes gearbeitet haben.«

      »Sie haben Beweise, Sir?« fragte selbst G2-Colonel Peaboddy überrascht.

      »Wir haben sie«, knurrte Rigby, anstelle des Generals, »und sie sind hieb- und stichfest. Niemand kann an ihnen rütteln.«

      »Kommen wir zum Schluß«, sagte Patton. »Hier meine Befehle: Erstens: Kein unqualifizierter Deutscher rückt künftig in eine Stellung ein, der er nicht gewachsen ist. Zweitens: Sie verstärken Ihre Anstrengungen, geeignete unbelastete Persönlichkeiten zu finden. Und zum Dritten: Falls Sie keine geeigneten Unbelasteten auftreiben, greifen Sie mit meiner vollen Rückendeckung auf formal Belastete zurück – natürlich nicht auf big or worst Nazis.«

      Als Patton seine Offiziere verabschiedete, hatte er erheblich dazu beigetragen, eine Verschwörung, die sich von weit links bis weit rechts gegen ihn angebahnt hatte, voranzutreiben. Zudem hatte er den ersten Schritt in eine Richtung getan, die bald in den Schlagzeilen der Weltpresse als ›Bavarian Scandal‹ Lärm verursachen würde.

      Seine gewagt-hemdsärmeligen Äußerungen würden bereits morgen seinem Oberkommandierenden Eisenhower auf den Schreibtisch flattern und bei Stabschef Walter B. Smith die Feststellung provozieren: »His mouth does not always carry out the functions of his brains«, was bedeuten sollte, daß Pattons große Klappe nicht immer seinem Gehirn Rechnung trüge.

      Der National-Held blieb weiterhin ein Sorgenkind.

      Auch die Sowjets hatten ihn längst im Visier.

      Für das Münchener Einwohnermeldeamt war es heute schon zu spät, deshalb fuhr Peter Maletta mit dem Jeep seines Arbeitgebers nach Bogenhausen. In seiner Chauffeurs-Wohnung fand er auf dem Tisch einen Fragebogen der Militär-Regierung; auf einen angehefteten Zettel hatte Captain Freetown geschrieben: »Please, fill in this damned form, Peter.«

      Er las das Papier-Monster der Besatzungs-Inquisition durch: 131 Fragen, von den Amerikanern in einer Gesamtauflage von 79 Millionen herausgebracht, mit der Schreibmaschine oder mit Blockbuchstaben ›wahrheitsgemäß‹ auszufüllen; falsche oder fahrlässige Angaben wurden mit drakonischen Strafen bedroht. »Wer hat dich, du schöner Wald«, spottete schon bald das erste von Captain Marc Freetown lizenzierte Kabarett, »abgeholzt zu Fragebogen?«

      Man mochte über das Produkt von Neugier und Willkür lachen oder zornig werden oder verzweifeln – nicht wenige drehten aus Angst vor dem Fragebogen den Gashahn auf oder erhängten sich –, für den Normalverbraucher führte kein Weg daran vorbei. Wer nicht arbeitete, erhielt keine Lebensmittelmarken. Wer eine Tätigkeit ausübte oder sich um sie bewarb, mußte sich, ganz gleich für welche Position, dieser Kanonade notwendiger, indiskreter und oft auch indiskutabler Fragen aussetzen.

      Wiewohl der Kampf ums Überleben bei der Bevölkerung die Gesetze des Rechts und der Moral gelockert hatte, obwohl marodierende Ausländer-Banden auf dem flachen Land Nacht für Nacht entlegene Gehöfte überfielen und ausplünderten, obwohl falsche Beauftragte der Militär-Regierung immer wieder bei früheren Parteigenossen erschienen, um Radioapparate, Photogeräte, Fahrräder, Schmuck und Uhren zu ›konfiszieren‹, ergingen die weitaus meisten Urteile der Gerichte wegen Fragebogen-Fälschung.

      Ein beispielloser Zufall ermöglichte der Militär-Regierung, unwahre oder ungenaue Angaben umgehend zu entlarven: In einer Papiermühle in München waren kurz nach dem Einmarsch nahezu sämtliche Personal-Unterlagen der Partei und ihrer Gliederungen – die Bürokratie ist das Gewissen der Diktatur –, zum Teil schon in riesigen Bottichen aufgeweicht, gefunden, aufgefischt, getrocknet und geordnet worden. Statt zu Papierbrei verarbeitet zu werden, wurden die Unterlagen zur Papierfalle. Die Militär-Regierung verwahrte sie in einem ›Document-Center‹ und nutzte sie so wirkungsvoll, daß künftig kein Bewerber mehr ohne Rückfrage eingestellt werden konnte.

      Maletta machte sich an die lästige Arbeit und beantwortete Fragen nach Körpergröße, Gewicht, Farbe der Augen wie der Haare, nach Narben oder anderen besonderen Kennzeichen, wie sie eigentlich in einen polizeilichen Steckbrief gehören. Die Frage Nr. 18: »Aufzählung aller Ihrerseits oder seitens Ihrer Ehefrau oder Ihrer beiden Großeltern innegehabten Adelstitel« erinnerte ihn irgendwie an den ›arischen Nachweis‹, wie ihn früher die Nazis von ihm verlangt hatten.

      Maletta schluckte seinen Verdruß über die lästige Arbeit hinunter, vor der ihn bislang der Hausherr, sein Gönner, bewahrt hatte. Sicher würde Captain Freetown Schwierigkeiten bekommen, wenn sein problematischer Fahrer und Nebenbewohner sich nicht den Fragen dieser Zeit stellte. Er gab es auf, sich darüber zu ärgern, daß die Amerikaner zum Beispiel nachträglich ein Wahlgeheimnis verletzten, indem sie wissen wollten, welche Partei er 1932 gewählt hatte.

      Keine,