dem Kandidaten die Hand, nahmen ihre Handkoffer und stiegen die Landebrücke hinauf. Ich blieb stehen, an den Augen des Kandidaten hängengeblieben. Die Guttempler betrachteten leicht mißtrauisch seine weiße Mütze, die nicht eben von Nüchternheit zeugte.
»Dozentin Gran ...«, begann er, ein wenig linkisch und dümmlich. Ich wollte ein »Kandidat Månson« lispeln, blieb aber stumm. Er wiederholte meinen Namen und Titel, und ich war verwundert, daß er so jung war und dennoch ein erwachsener Mensch.
»Gabriel ...«, sagte ich, doch kein Ton kam aus meinem Mund. Da streckte er die Arme nach mir aus. Ich machte einen Schritt auf ihn zu und spürte den Parfümduft. Dann umarmte ich ihn sehr hastig, als wäre ich seine Tante, und hörte zugleich den ganzen uns umgebenden Spektakel. Der Puls hämmerte. Das Blasorchester lärmte. Unsere Koffer wurden an Bord gehievt. Die Sirene des Dampfboots zeigte die Abfahrt an. »Lissie!« rief Choice. »Komm!«
Im nächsten Augenblick stand ich an der Reling, winkte hastig und wandte mich ab, als bedeute der Abschied rein gar nichts. Mein Gesicht schien von lästiger Röte. Die Stimmen der Reisenden schwirrten durcheinander. Einige Männer hatten sich offenbar von den Guttemplern inspirieren lassen und stimmten »Blühende Täler so schön« an. Wir bekamen Fahrt, und der Wind packte zu. Vermutlich war er es, der meine Augen tränen ließ. Als ich über die Schulter schielte, sah ich nur einen weißen Fleck, es mußte der Wagen sein. Ich putzte die Brille mit einem Zipfel des Halstuchs.
Wir spazierten damenhaft über Deck und fanden einen Platz im Schatten. Die noble Welt von Finspång musterte uns interessiert und arrangierte ihre Hüte, als das Boot die Richtung wechselte. Thea stellte das Arsenal zwischen die Knie, zündete sich erneut eine Zigarette an und nahm unser Verzeichnis über die bereits bekannten Briefe zur Hand.
»Dreizehn Stück an Erik Benzelius d. J., kann das stimmen?« fragte sie. »Begonnen 1710.«
»Ja«, erwiderte ich und fügte hinzu: »Es gibt auch einige von Elias Brenner. Vielleicht sind sie es wert, angesehen zu werden.«
»Da geht es sicher nur um Numismatik«, meinte Choice. »Was denn sonst bei Männern!«
Ich bemerkte, mir erscheine Assessor Brenner richtig angenehm. Das hätte ich natürlich nicht sagen sollen, denn jetzt begann das Frotzeln: »Jedenfalls war er kein Student«, sagte Choice.
Thea warf mir einen ihrer Blicke zu, der in dechiffrierter Form bedeutete, ich würde mich zuweilen etwas unpassend aufführen. Choice ging zum erneuten Angriff über, und wir ernteten Blicke unserer Banknachbarn. Da mischte sich Thea ein und brachte uns zur Ruhe: »Nun, den Kandidaten dürftest du in nächster Zeit wohl kaum zu Gesicht bekommen. Benzelius war doch wohl einer dieser Kulturfreunde unter Karl XII.?«
Beide nutzten wir freudig die Gelegenheit, uns gegenseitig kleine Vorträge über karolinische Kulturkoterien zu halten und verbreiteten uns lang und überschwenglich über Benzelius’ Bedeutung. Theas Eingreifen in unseren Streit war wie ein Lichtpunkt im nächtlichen Dunkel, wie eine Quelle im undurchdringlichen Urwald. Erst als wir in Skärblacka anlegten, verstummten Choice und ich; da hatte sich unsere Freundschaft vom Eindringen der Männerwelt erholt.
Nach Kimstad zu reisen ist kein Vergnügen, und nach Linköping weiterzufahren war auch nicht besser. Ein wenig traurig war ich schon. Im Hotel wartete ein Brief von Balle Bondeson, in dem er erklärte, er glaube, Geijer sehr gut zu verstehen trotz Ermangelung von Ehefrau, Wahnsinn und Reichstagssitz, doch könne er nicht ausschließen, die Sache in anderem Licht zu sehen, wenn er jemals derartige Accessoires erwürbe. Daß ich die Brenner verstehe, war für ihn selbstverständlich, und die Ideen vom Kinderkriegen hielt er für Dummheiten. Die Umstände, unter denen die Dichtung der Brenner entstanden war, spielten doch wohl keine größere Rolle! Auch du, mein Balle ...
Das Gymnasium war leer und wirkte kalt und staubig, wie Schulen in den Ferien für gewöhnlich. Wände, Bänke, Ecken und Winkel, alles roch nach Schule und weckte Erinnerungen an jene Zeit. Nicht fröhliche Erinnerungen tauchten auf, sondern all die Unbeholfenheit, die Angst, etwas Falsches zu sagen, und das Gefühl, die Kleidung wäre stets von falschem Schnitt, egal, wie richtig sie schien. Thea blickte zu den ehrwürdigen Stuckarbeiten auf und fragte sich laut, warum in aller Welt sie die Ferien in einer Schule verbringen müßte.
Ein mißgelaunter Hausmeister empfing uns und führte uns zum Bibliothekar, der keinen Hehl daraus machte, an einem solchen Tag wie dem heutigen nur zu gern auf den Roxen zum Angeln zu wollen. Er war kein alter Mann, doch seine Gestalt schien vom Leben in der Bibliothek geprägt: grau wie Bücherstaub in Kleidung und Gesicht, als einzige Farbe in all der Düsternis blaßblaue Tintenflecke auf den Wechselmanschetten. Als er im Katalog nachschlug, glichen seine Augen denen eines Barsches, den man soeben mit gebrochenem Genick ins Boot geworfen hatte.
Bei Sonnenschein beißen sie schlecht, doch sagte ich es nicht laut.
Hier in Linköping hatten pedantische Schulbibliothekare gewirkt, keine sorglosen Freiherren. Benzelius’ Korrespondenz war geordnet nach Jahren in dicke Bände gebunden, und es kostete viel Zeit, in jedem Folianten den richtigen Brief zu finden. Im Unterschied zu den Hochhauer-Briefen waren sie jedoch weder besonders lang noch sonstwie merkwürdig. Uns begegnete das gelehrte Weibsbild, das oft in lateinisch schrieb, zuweilen auch französisch, und die für das Interesse des gelehrten Herrn Bibliothekars an ihrer Dichtung dankte. Von häuslichem Leben und Kleinkindern war kaum etwas zu spüren. Beim Himmel, schließlich schrieb sie an einen Mann.
»Schau, jetzt kann Assessor Brenner nicht kontrollieren, was sie schreibt!« rief Choice und schlug einen Brief vom 3. Februar 1717 auf. Der Gatte war tot, und die Finanzen der Familie schlechter als je zuvor.
Edler und hochgelehrter Herr Professor und Bibliothecarius! In Ansehung der Freundschaft und Vertrautheit, die der hochgelehrte Herr Professor allzeit meinem seligen Gatten erzeiget hat, nehme ich mir die Freiheit, mit ergebenen Worten Ihnen meinen Sohn Carl Brenner zu recommendiren, der dem hochgeschätzten Herrn Professor dieses Schreiben eingehändigt. Indem das Stipendium Stieglerianum einzig auf arme Studierende gerichtet ist, versagen mir Trauer im Herzen und Scham, so ganz und gar auszudrücken, wie sehr er zu dieser Klasse mit vollem Rechte zu zählen ist. So man schon zu Lebzeiten seines seligen Vaters nicht vermochte, ihn auf die Academie zu entsenden, obgleich er große Lust und Neigung zum Studieren verspüret, so ist es mir jetzo noch viel weniger möglich, welches ich mit gramvollem Herzen beklage. Daher überreiche ich Ihnen, edler und hochgelehrter Herr Prof., mein ergebenstes Gesuch, daß es Ihnen gefallen möge, mittels Ihrer hochgeschätzten Recommendation für meinen armen Sohn einzutreten, was diesen Jüngling gleich mir zu unaufhörlicher Dankbarkeit, Ehrerbietung und Dienstschuldigkeit auf ewig verpflichtet und ich mit aller Verehrung zeit meines Lebens verbleibe
des edlen und hochgelehrten Herrn Professors
und Bibliothecarius
Gehorsamste Dienerin
Sophia El. Brenner
Stock: d. (3. Febr. 1717)
Unser Bibliothekar brachte uns die letzten Bände. Sein Körper war zusammengefallen, und die Knie schienen auf dem Boden zu schleifen. Doch obgleich er klein und schwächlich war, trug er Berge von Handschriften, alle voluminös und gebunden. Seine Arme wirkten unnatürlich muskulös, verglichen mit dem Rest des Körpers. Wir kopierten, so rasch wir vermochten. Unsere Reflexionen hielten wir soweit wie möglich zurück, doch konnten wir unsere Sorge ob des einundzwanzigjährigen Carl Brenner nicht verschweigen, der wegen der Armut der Familie an Universitätsstudien gehindert war.
Der Bibliothekar blieb uns im Nacken, die Hechte des Roxen spukten in seinem Kopf. Die gutentwickelten Arme wurden Fischflossen immer ähnlicher, und das graue Gesicht schrumpfte zum Fischkopf – doch nicht zu dem eines Hechts, sondern im Höchstfall dem eines Barsches.
Der junge Carl Brenner wurde in mehreren Briefen erwähnt, und am 7. Mai desselben Jahres bat die Brenner »den mir wohlgesonnenen, hochzuverehrenden Hr. Prof., wenn ein Stipendium entweder des sel. Stieglers oder eines anderen für einen Studierenden unvergeben sei, der mit eigenen Mitteln nur wenig oder gar nichts vermag, um an der Academie sich aufhalten zu können, bitte ich ergebenst, mein Sohn Carl möge hierbei Berücksichtigung finden«. Las man