von Elisabet Gran an Balle Bondeson v. 3.6.1910
Ekesta, den 3. Juni 1910
Bester Balle!
Hier lebt man herrschaftlich, kannst Du glauben, schlürft französische Liköre und macht Bekanntschaft mit schwedischen Stachelbeeren. Das Archiv ist ausgezeichnet – id est, ein kleiner Verschlag auf dem Dachboden, doch das Bündel Papiere, auf das wir aus waren, ist ein großer Erfolg. 42 Briefe der Brenner, da hat Schlippenbach was zu schlucken! Ansonsten fühlt man sich wie ein Pascha.
Ein Problem plagt mich hier. Meine Kolleginnen sind richtig nett, und wir kommen tatsächlich bestens überein – doch wenn ich meine Crux erwähne, schauen sie mich nur mit großen Augen an. Sag mir, Balle, wenn Du den Geijer studierst, seine Füße zählst oder was Du sonst mit den Versen machst, glaubst Du, ihn weniger zu verstehen, weil Dir eine halbverrückte Ehefrau und kleine Tochter fehlt, Du nicht im Reichstag sitzt oder aus Värmland stammst? Siehst Du, das aber fange ich an zu glauben. Nein, nicht Värmland, da gingen sie mit mir durch. Aber sieh, Bruder Balle, die Brenner und ich sind schwerlich irgendwo gleich. Wenn auch ihr Vater ein Bürgerlicher war, meiner es ebenfalls ist und wir beide ein wenig Latein verstehen, so hört die Gemeinsamkeit damit s. z. s. auf.
Jetzt klingt die Sache sehr verworren. Bester Balle, Prachtjunge! Stell Dir die Familie Brenner vor, eine begüterte Beamtenfamilie: mitten im Ruhm der Großmachtzeit, mitten in all den Schrecklichkeiten, Krieg, Tod und whatnot. Und der Kern der Familie war Sophia Elisabeth Brenner – sie, die nicht, wie sonst üblich, ihren Mädchennamen benutzte, sondern sich äußerst loyal wie der Gatte schrieb. Ich habe begonnen, sie zu mögen. Denk Dir irgendeine Frau (außer mir natürlich, das verbiete ich Dir): Heute ist die Welt voller Gänse, die fortwährend in Ohnmacht fallen und mitten am Tag zu Bett gebracht werden müssen – der eine unserer beiden Barone ist mit einer solchen vermählt: Nervenfieber und in die Schweiz weggesperrt, in der Hoffnung, sie möge bald sterben. Der Brenner schwanden wahrhaftig nicht die Sinne. Wann hätte sie dazu Zeit gehabt? Sie mußte sich schließlich um Heim und Dichtung kümmern. Sie war kein zartwandiges Gefäß, in Furcht vor Schwangerschaft oder um die Figur jammernd. Der Tod im Kindbett schreckte sie nicht. Sie vertraute auf den Herrn.
Mag sein, die Großmachtzeit war voller Kraftweiber. Dennoch muß die Brenner mehr gewesen sein als andere. Wollte sie schreiben, fiel wahrhaft niemand in Trance vor ihrem Genie. Nein, die Dichtung mußte warten, bis es still geworden war daheim, die großen Töchter beim Nähen saßen, die Knaben beim Informator studierten und das letzte Wickelkind schlief. In diesen Stunden gelang Frau Brenner ein Hochzeitsvers, ein Epitaphium oder ein scherzhaftes Gelegenheitsgedicht. Es verwundert mich keinesfalls, daß sie gern Sonette schrieb – vierzehn Zeilen erfordern vielleicht eben die Zeit, die ein Wickelkind schläft oder ein Braten bis zum Wenden braucht. Das Reimgeflecht war im voraus erdacht, beim Glätten der Laken oder als sie die Töchter ermahnte.
L. B.! Du weißt, ich bin keine Gans oder will es zumindest nicht sein. Hier komme ich nun zurück zu Geijer: Können Lic. Jansson, Red. Nordin und ich die Sophia Elisabeth Brenner überhaupt verstehen? Wir sind moderne, gebildete Frauen. Die Arbeit an der Herausgabe bewältigen wir schon, doch sind wir imstande, sie zu verstehen? Einen Mangel haben wir jedenfalls: Keine von uns ist vermählt und keine hat auch nur ein einziges Kind geboren. Was glaubst Du? Ist es dumm, über Verstehen nachzugrübeln, soll ich nur publizieren, damit nicht alles verquer läuft?
Doch vielleicht grabe ich mir die Fallgrube ja selbst. Braucht es Verständnis für die Wissenschaft? Muß ich die Brenner verstehen, um sie herauszugeben? Du kannst wohl nach Linköping ins Freimaurerhotel schreiben, falls Du eine Meinung hast.
Die Sonne scheint hier beinahe jeden Tag. Gestern war Gewitter, und der ganze Wagenpark brannte ab zum freiherrlichen Ärgernis aller Barone. Einer von ihnen macht mir stets den Hof, und ein jüngerer Verwandter konversiert ständig mit mir. Aber ich sitze auf meinem Glasberg und lasse Briefabschriften um mich gleiten. Ich verbleibe
Tua
Lissie.
*
4.6.1910
Heute morgen in aller Früh, ehe die anderen erwachten und das Frühstück serviert wurde, schlich ich mich ganz allein nach draußen, um über diese Crux nachzudenken: Verstand ich die Brenner? Oder, was die Sache noch schlimmer machte: Verstanden wir die Brenner? Die Frage quälte mich, und ich wollte eine Lösung finden.
Die Junimorgen sind fast immer sonnig, ungeachtet wie der Tag dann wird. Noch war es kühl, doch klar, und die Schatten waren scharf markiert, so deutlich, daß jeder Grashalm sich abzeichnete. Es duftete frisch, ob vom Grün, von den Blumen oder vom Tau, wußte ich nicht zu sagen, aber es kitzelte angenehm in der Nase. Feuchte Halme umspielten meine Füße, als ich über den Rasen ging. Wie konnte ich es erfahren? Wie konnte ich sie verstehen? Draußen auf dem Feld kamen drei Rehe gelaufen, sie hielten inne und blickten sich um. Auch ich blieb stehen. Ihre kleinen dreieckigen Köpfe bewegten sich hin und her, und dann verschwanden sie mit großen Sätzen in der Sicherheit des Waldes.
War ich wirklich Weibs genug, um die Brenner zu verstehen? Mein ganzes Leben hatte ich der Wissenschaft gewidmet. Die Brenner war freilich zur Schule gegangen, in die deutsche Schule unter lauter Knaben, doch war sie sichtlich nicht zur Gelehrten bestimmt. Das hatte es für Mädchen nicht gegeben. Sie war nur von so außerordentlicher Begabung gewesen, daß die Gelehrsamkeit dennoch haftenblieb.
Mit einer beruflichen Laufbahn hatte die Brenner natürlich nicht rechnen können, ich glaube nicht einmal, daß ihr der Gedanke gekommen war. Selbst noch bei unseren Müttern war das kaum der Fall. Einundzwanzig Jahre alt – nach damaligem Maß bereits ein wenig verblüht –, hatte sie Elias Brenner geheiratet und war eine Frau des Familienlebens geworden. Mit dreiundfünfzig war sie Witwe. Das jüngste Kind war damals eben erst zehn Jahre alt. Achtzehn Jahre darauf starb sie.
Unsere Gelehrsamkeit reicht wohl aus, um die Brenner zu verstehen. Doch in allem übrigen ... Ich steckte die Hände in die Taschen der Leinenjacke und ging weiter. Selten war mir eine Frau begegnet, die dem Männergeschlecht so feindlich gesinnt war wie Choice. Indes wußte ich nichts über Thea und die Männer. Ich persönlich hatte nie größere Ambitionen zum Heiraten, doch ausgeschlossen habe ich die Sache nicht. Vermutlich hätte ich wohl gekonnt, wenn ich gewollt hätte. Leutnant Färla war recht entzückt von mir als frischgebackene Abiturientin, küßte mir die Hand und deutete an, er könne mir alle Hindernisse aus dem Weg räumen. Doch wenn auch Monokel, Uniform und all die anderen Offiziersattribute mich bestrickten, so gefiel es mir doch besser, wie vorgesehen nach Uppsala zu fahren, als mich einem Leutnant zu versprechen und als Ehefrau in einen Garnisonsort zu ziehen. Dann wäre auch ich jetzt vermutlich so ein schwächliches Weibsbild, fiele bei den merkwürdigsten Anlässen in Ohnmacht und behauptete hartnäckig, Strindberg sei der Antichrist persönlich. Es kam ganz anders, und Gott sei Dank dafür.
Meine Füße hatten den Weg über den Rasen gefunden, und jetzt stellte ich fest, daß sie zum See unterwegs waren. Ich ging die Böschung hinunter und betrat den Pfad. Um mich herum sangen die Vögel durchdringend. Ein leichter, lauer Wind wehte, ein Zephir, ein Lüftchen von Westen, von Finspång her. Der Duft des Grases und der Blumen wurde im Gehölz stärker. Auch nach Erde roch es. Die Natur blühte, die Vögel boten ihre Liebe feil. Ich war keusch und reingewaschen und erinnerte mich kaum, wann die Leidenschaft mich das letzte Mal in ihren Fängen hielt. Es war Jahre her, Myriaden von Jahren. Wenigstens in der Wirklichkeit.
Geliebt hatte ich in der Tat. Ich war so verliebt gewesen, so verliebt in meinen Helge; wir lebten in der allerschönsten Studentenehe, schliefen in meinem Zimmer oder seinem, obgleich wir wußten, daß wir es weder sollten noch durften; wir bereiteten einfache Speisen auf dem Spirituskocher und gingen zusammen ins Theater: zweiter Rang zweite Reihe, denn die Zuschüsse von daheim sahen derartige Ausschweifungen nicht vor. Die Tischgemeinschaft, bei der wir uns das erste Mal trafen, war unser Freundeskreis, sechs Studenten und eine Studentin, gut verteilt über die Fakultäten.
Vieles lernte ich dort beim Mittagstisch und zusammen mit Helge. Niemals wäre ich in die Forschung eingestiegen, hätte ich nicht erst das normale Leben kennengelernt. Das war es ja auch, was zum Bruch führte. Nach allen Liebkosungen und zärtlichen