Carina Burman

Die zehnte Göttin des Gesangs


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legte den Brief auf den Schreibtisch und stützte das Kinn in die Hände. Das 17. Jahrhundert war mir ganz nah, all seine Hoffnung und Verzweiflung. Ich spürte die Untergangsstimmung von Epidemien, die nicht zu begreifen und zu erklären waren, und zugleich das Vertrauen jener Zeit auf Gott, der trotz allem die Dinge zum besten fügte.

      Der Himmel gen Norrköping war grau verhangen. Dichter Regen fiel, doch war er leicht und sommerlich lau. Heute saßen keine Barone unter dem Hofbaum, und keine Reitpferde stolzierten über den Vorplatz. Das einzige menschliche Leben, das ich entdecken konnte, waren ein paar Kinder, die verloren oben bei den Gesindehäusern spielten.

      Vor zweihundert Jahren hatte Ekesta nicht viel anders ausgesehen, selbst wenn die Gebäude kleiner und einfacher gewesen waren. An einem verregneten Sommertag war Beata Hochhauer zu einer abseits gelegenen Küche geeilt, um die Mägde bei der Zubereitung der Braten zu beaufsichtigen, die von Kühen oder Schweinen des Hofes stammten. Baron Gustaf saß gewiß über seinen Rechnungen oder der Korrespondenz, die Kinder weilten beim Gesinde oder büffelten Französisch mit dem Informator. Es war ebenso still wie heute.

      Urplötzlich wurde es dunkel über dem Schreibtisch, und mit voller Kraft prasselte der Regen auf den Hofplatz. Thea schaltete das elektrische Licht ein, und im selben Augenblick blitzte und donnerte es ganz in der Nähe. Choice ließ den Füllfederhalter fallen und schrie auf. Langsam rollte er über das Folioblatt, prallte am Papierrand leicht zurück, ließ sich jedoch nicht aufhalten und rollte bis auf den Brief der Brenner. Die Reste des Lacks stoppten ihn, und er blieb liegen. Langsam breitete sich ein grüner Fleck von der Spitze her aus.

      »Gewitter!« jammerte Choice. »Mein Gott, wie schrecklich!«

      Ich griff nach ihrem Federhalter und schraubte die Kappe darauf. Der Klecks war mitten in einem Wort gelandet und bereits zentimetergroß. Ich hoffte, der Brief ging dennoch zu deuten.

      »Vergeßt nicht, wenn es brennen sollte, müssen wir zuerst die Briefe retten!«

      »Und das Arsenal«, sagte Thea. Dann betrachtete sie Choice, die wahrhaftig zitterte. »Ach du armes Ding, hast du Angst vor Gewitter?« Choice nickte. Sie wirkte zerbrechlich, hatte fast Tränen in den Augen und war keineswegs tatkräftig und verwegen. Thea geleitete sie zum Sofa und hieß sie sich hinlegen.

      »Das zieht bald vorüber«, sagte ich, und im selben Augenblick ertönte ein weiteres Krachen. Das Gewitter stand jetzt fast direkt über Ekesta. Ich war in Gedanken noch immer bei Beata Hochhauer, an jenem dunklen Sommertag vor etwa zweihundert Jahren, und jetzt sah ich, wie sie aus der Küche trat und im Regen stand. Beim Informator drinnen warfen die Kinder ihre Grammatikübungen hin und faßten sich bei den Händen, und vielleicht erbleichte ja auch ihr Lehrer.

      »Besteht Gefahr für das Haus?« fragte Choice.

      »Kaum. Es hat schon mehr als hundert Jahre hier gestanden.«

      Ein drittes Krachen erschütterte das Gebäude, und der Blitz spiegelte sich im Dekor der Buchrücken. Ohne daß wir uns abgesprochen hatten, sammelten Thea und ich die Briefe ein und legten sie mit unseren Papieren ins sichere Dunkel des Arsenals. Thea setzte sich ans Kopfende des Sofas zu Choice, strich ihr über das Haar und versuchte sie zu beruhigen. Das Arsenal stand sicher zwischen ihren Füßen.

      Der Donner rollte in Wellen heran wie Kanonengrollen, plötzlich erschien drüben bei den Stallungen ein Feuerschein. Er kam aus dem Nichts, und rasch stiegen Flammen auf. Menschen liefen von allen Seiten herbei, aus Gesindehäusern, Speichern und Ställen. Choice lag reglos auf dem Sofa und hielt die Augen geschlossen. Thea bedeutete mir zu schweigen. Es krachte gegen den Verputz der Hauswand, als die Eingangstür aufgestoßen wurde und Kandidat Månson herausstürzte. Hinter ihm liefen die Kinder des Barons und schließlich das Hausmädchen, das sie zu hindern suchte.

      Was da brannte, war kein Stall, soviel konnte ich erkennen, dennoch schien das Gebäude nicht wertlos. Man bildete eine Eimerkette, und die kleineren Kinder sausten mit den leeren Gefäßen zurück. Es war ein allzu hektisches Spektakel, als daß ich im Haus bleiben konnte. Ich trat auf die Treppe, nahm einen Schirm in Empfang und schob mich langsam näher. Der Gewitterregen war heftig, und es blitzte noch immer. Die Eimerkette, das Gedränge, Rufe – dort vorn war Leben, und ich wollte ihm nahekommen. Während Choice sich also vom Gewitterschock zu erholen suchte, ohne von dem Brand zu wissen, schlich ich mich wie ein neugieriges Gör oder ein Zeitungsschreiberling immer näher an das Feuer heran.

      Es war die Wagenremise, die da brannte. Einige Männer mühten sich, die Fahrzeuge herauszuziehen. Sie glichen Arbeitern einer Lancashireschmiede, rußgeschwärzt und umgeben von Flammen und Funken. Ein Landauer und ein Einspänner, kaum vom Feuer berührt, standen bereits vor dem Stall in Sicherheit, und jetzt kämpfte man mit einer Kutsche. Die Regentropfen zischten, als sie auf das Eisen des Wagens schlugen, doch kühlten sie es so rasch ab, daß andere Hände zugreifen und die Kutsche fortrollen konnten. Die Männer liefen in das brennende Gebäude zurück, und dieses Mal ging Kandidat Månson mit ihnen. Ich war seinetwegen etwas in Unruhe.

      Die Eimerkette versuchte das Feuer an der Ausbreitung zu hindern. Zu den Ställen war der Abstand groß, doch die Scheune lag unmittelbar daneben. Auch wenn sie zu dieser Jahreszeit kaum allzu gut gefüllt sein mochte, gab es wohl trockenes Heu genug für einen gehörigen Brand. In der entgegengesetzten Richtung lagen die Häuser der Arbeiter, und ich verstand sehr wohl, daß sie ihr Eigentum um nichts in der Welt verlieren mochten, auch wenn es bei einer Auktion keine großen Summen gebracht hätte. Um Chaiselongue und Schreibtisch daheim in meiner Wohnung würde auch ich recht heftig kämpfen. Eine Frau meines Alters trat aus einer Tür, einen Säugling auf dem Arm und zwei Kleinkinder am Rockzipfel. Sie betrachteten den Brand sehr gelassen. Eine Hauskatze fand einen behaglichen Platz zu meinen Füßen, wo der Schirm den Regen fernhielt und das Feuer von der Remise gut wärmte.

      Jetzt rollte erneut ein Wagen heraus, geschoben von den Männern und dem Kandidaten.

      »Aus dem Weg! Aus dem Weg!« riefen die Männer, und die Löschenden, die Kinder und Katzen – ja auch ich – eilten vom Wagen fort, ohne richtig zu begreifen warum. Der Kandidat schrie nach Wasser.

      Dieser Wagen rauchte schlimmer als die anderen, und als man die ersten Eimer über ihn goß, verdampfte das Wasser sofort. Er schien ziemlich übel zugerichtet, war ohne Deichsel. Obgleich ich ihn ganz aus der Nähe gesehen hatte, erkannte ich ihn erst wieder, als das ganze Fahrzeug zu vibrieren begann, und der Kandidat brüllte: »Lauft, verdammt noch mal! Lauft!« Und wir liefen. Alle stürzten auf das Herrenhaus zu, und ohne nachzudenken beugte ich mich hinunter, hob eins der Kleinkinder auf den Arm und nahm es mit. Ich blieb auf dem Hofplatz stehen und sah mich um. Die Kleine in meinen Armen wimmerte vor Angst, wegen der Hitze und auch wegen mir. Sie drückte sich an mich, weil nur ich vorhanden war, und ich strich ihr beruhigend übers Haar.

      Im selben Augenblick explodierte das Automobil. Kleine Kinder schrien. Ein Alter brummelte schadenfroh, hier sehe man, was herauskomme bei dem neumodischen Zeugs. Kandidat Månson stand im verbrannten Anzug da, das Gesicht schwarzgestreift, und ich wollte ihn nicht blamieren, indem ich nachschaute, ob er weinte. Die Remise brach krachend zusammen, und die Flammen zuckten.

      Jetzt spürte ich, daß der Regen nachgelassen hatte und das Gewitter vorüber war. Thea kam auf die Treppe heraus und betrachtete uns und die Verwüstung. Es bestand wohl kaum mehr Gefahr für die anderen Häuser. Die Leute gingen langsam zurück, und ich übergab das Kind seiner Mutter. Das eingestürzte Gebälk brannte noch immer, doch nicht unkontrolliert. Ein gewissenhafter Mensch hatte eine Wache aufgestellt, die ab und an die Glut ausstampfte oder einen Eimer Wasser über ein Flämmchen goß. Bald wird es lediglich eine schwarze Lücke in der Häuserreihe geben. Kandidat Månson zog ein studentisches Seidenschnupftuch aus der Tasche und schneuzte sich.

      »Was für ein Mißgeschick«, sagte ich.

      Der Kandidat nickte. Nun mußte er wohl seinem Großonkel Bericht erstatten. Nicht sehr viele Wagen standen draußen, also war der größte Teil der Gutsfuhrwerke gewiß zerstört: Schlitten, Wagen, vielleicht auch Erntegerät. Wirtschaftlich konnte der Brand für den Hof schlimme Folgen haben, falls das Zerstörte nicht gut versichert war.

      »Oh, das Auto!« seufzte der Kandidat