fragte Mutter Angelica über ihre Schulter hinweg. Die stets dienstbereite Schwester Antoinette eilte in die Küche, um sich nach dem klösterlichen Speiseplan zu erkundigen.
Später, bei halbgegessenen Keksen und Tee mit Milch sowie einer unter ihrem Kinn eingesteckten Serviette, legte Mutter Angelica ihre sorgfältig zusammengestellten persönlichen Anekdoten beiseite, die sie im Laufe ihrer zwanzigjährigen Fernsehlaufbahn ganz ohne Manuskripte perfektioniert hatte, und fing an, Dinge aus ihrer Vergangenheit zu erzählen, die zuvor noch niemand, auch nicht ihre Mitschwestern aus dem Kloster, gehört hatte. Ob es nun Fügung oder einfach gerade die richtige Zeit war, jedenfalls traf ich Mutter Angelica zu einem Zeitpunkt, an dem sie bereit war, Rückschau auf ihr Leben zu halten. Soeben hatte sie ein lang ersehntes Ziel erreicht, die Fertigstellung eines mehrere Millionen Dollar teuren neuen Klosters. Sie schien wirklich zufrieden zu sein und war schließlich auch bereit, auf all das zurückzublicken, was sie überstanden und erreicht hatte. Da saß sie nun in einem dick gepolsterten Ledersessel, rang mit ihrem Gedächtnis und der Zeit, um die Wahrheit ans Licht zu fördern.
„Spüren Sie einen Zwiespalt in Ihrem Innern – in Ihrer Persönlichkeit?“, fragte ich sie heute. Immer wenn sie einen langen, fast schon gequälten Seufzer ausstieß und ihren Körper im Sessel in eine andere Position verlagerte – wie sie es auch jetzt tat – wusste ich, dass uns ein aufschlussreicher Moment bevorstand. Sie schob ihren Finger unter den steifen weißen Schleier, der ihr Gesicht umgab und rieb an ihrer Schläfe, als ob sie leibhaftig versuchte, die Vergangenheit aus ihrem Gedächtnis herauszuschürfen. Wie oft sollte ich noch hier sitzen und warten, an den Metallblümchen, mit denen das Gitter übersät war, vorbeistarren und gleichzeitig daran denken, wie sehr sie doch Mutter Angelica selbst ähnelten: Sie waren eisern und doch feminin, zurückhaltend und doch offenherzig, im Feuer gehärtet und unverwüstlich. Doch die Antworten sollten schon noch kommen.
„Habe ich Ihnen schon davon erzählt, wie ich einmal ein Messer nach meinem Onkel geworfen habe? Ich möchte, dass Sie mein wahres Ich kennenlernen, denn weder in dem, was ich mache, noch in dem, was ich habe, findet sich mein wirkliches Ich. Es ist eine Frau von der Straße, die erkrankte und der vieles geschenkt wurde.“ Bedächtig präzisierte sie: „Mein wahres Ich ist nicht das, was Sie hier sehen.“
So habe ich fast drei Jahre lang in dem vergitterten Sprechzimmer ihres Klosters verbracht, um die „wirkliche“ Mutter Angelica aufzuspüren. Von 1999 bis Ende 2001 traf sich der „Superstar des religiösen Fernsehens“, wie Mutter Angelica vom TIME-Magazin genannt wurde, die sicher auch zu den mächtigsten und einflussreichsten Menschen in der römisch-katholischen Kirche zählt, einmal wöchentlich zum verabredeten Termin mit mir. Bei diesen Gesprächen sollte die Vergangenheit wieder lebendig und ein prüfender Blick auf ihr Leben geworfen werden.
Für Mutter Angelica waren diese Besuche Tapferkeitsübungen. Es ist schon eine große Sache, einem Neuling die Erlaubnis zu geben, die eigene Lebensgeschichte zu durchstöbern. Er ist von Anfang an im Nachteil und weiß nur, was das geschriebene Wort ihm vermittelt. Als ich die Gesprächsserie begann, kannte ich Mutter Angelica jedoch bereits persönlich, da ich schon seit fünf Jahren bei ihr angestellt war. Ich war ihr nahe gewesen in guten und in schlechten Zeiten, in der Öffentlichkeit, aber auch im privaten Umfeld. Seit zwei Jahren begleitete ich ab und zu ihre beliebte Fernsehsendung Mother Angelica Live und fungierte als Direktor der Nachrichtenabteilung des von ihr gegründeten Senders. In gewisser Weise war sie wie eine Großmutter für mich – eine Großmutter, bei der ich mich ungewöhnlich wohl und mit ihr verwandt fühlte. Unsere gemeinsame italienische Herkunft hat sicher dazu beigetragen. Wir konnten über alles reden und gingen auch gelegentlichen Reibereien nicht aus dem Weg.
„Wir hatten einmal Streit miteinander“, vertraute Mutter Angelica einem Freund in meiner Gegenwart an, „Raymond hat aber keinen Gebrauch davon gemacht“. Trotz mancher Unstimmigkeiten und Meinungsverschiedenheiten standen wir uns doch nahe. Aus meiner besonderen Stellung heraus konnte ich Mutter Angelica sehen, wie sie wirklich war: eine einfache Frau mit tiefer Spiritualität, die sich bemühte, Gottes Willen zu erfüllen und ihre persönlichen Schwächen zu überwinden.
Allmählich erkannte ich jetzt die andere Mutter Angelica, die sich jenseits des Eisengitters hinter dem engelsgleichen Gesicht verbarg. Rita Rizzo, das kränkliche Mädchen, das lediglich einen Abschluss an der High School geschafft, sich ihren Weg aus der Armut herausgekämpft und EWTN (Eternal Word Television Network), den weltweit größten religiösen Fernsehsender, im Alleingang aufgebaut hatte – ihr war es geglückt, während die gesamten Bischöfe der Vereinigten Staaten (und auch etliche Millionäre) daran gescheitert waren. Dies hier war eine moderne Teresa von Avila, ein brennendes Feuer, die freimütig redete, einen tiefgreifenden Glauben und eine absolute Entschlossenheit besaß, um Hindernisse zu überwinden, die die meisten Menschen lahmgelegt hätten. Sie hatte die Diskriminierung als Frau, Bankrott und Übernahmeversuche von Unternehmen und von kirchlicher Seite abgewehrt, um „den Menschen“ eine moralische Wegweisung zu geben. In körperlicher Hinsicht hatte diese leidgeplagte Dienerin einen mystischen Tanz von Schmerzen und göttlicher Vorsehung durchgestanden. Es war ein ungeheuer hoher Preis, der verblüffende und erstaunliche Belohnungen einbrachte. Diese Frau, die Papst Johannes Paul II. einmal als „schwach im Körper, aber stark im Geist“ bezeichnete, hat um des wahren Glaubens willen Kardinäle und Bischöfe öffentlich herausgefordert und in der nachkonziliaren Phase ein traditionelles und allgemein verständliches Bild der Kirche über den Sender verbreitet. So wurde sie zu einem ökumenischen geistigen Leuchtturm für Millionen.
Und doch bleibt sie selbst für ihre unzähligen Bewunderer ein Rätsel. Wie konnte dieses vernachlässigte, zurückgezogene Kind geschiedener Eltern zu einer der meistverehrten und meistgefürchteten Frauen in der katholischen Welt aufsteigen? Wie konnte eine in Klausur lebende Nonne den Äther erobern, obwohl sie keine Erfahrung auf diesem Gebiet hatte? Wie konnten denn Magenbeschwerden, beschädigte Rückenwirbel, ein vergrößertes Herz, chronisches Asthma, Lähmungen und verbogene Gliedmaßen ihre Mission voranbringen? Woher nahm sie die Kraft für ihre wohlbekannten öffentlichen Kämpfe mit der kirchlichen Hierarchie über Glaubenspraxis und Frömmigkeit? Wie konnten ihr Fernsehsender und ihr Orden so wachsen, während andere zusammenbrachen? Und, am wichtigsten, wie wird ihre Botschaft heute in der katholischen Kirche aufgenommen und welche Auswirkungen wird sie auf die Zukunft haben?
Solche bohrenden Fragen sowie meine Kenntnis von Teilen ihrer noch im Verborgenen liegenden Geschichte brachten mich zu der Überzeugung, dass eine vollständige Biografie über Mutter Angelica notwendig und die Zeit dafür reif war. Voll ängstlicher Erwartung näherte ich mich dieser Frau selbst, weil mir vollkommen klar war, dass ihre Beteiligung an diesem Projekt angesichts der ständigen Anforderungen ihres Senders sowie ihrer Verpflichtungen als Leiterin einer religiösen Gemeinschaft vermutlich nur minimal sein würde. Angelicas Reaktion war typisch für sie und kam unverzüglich: „Warum fangen wir nicht einfach an und sehen, was passiert?“ Da sie schon immer in ihrem Leben jede bedeutende Initiative mit Vertrauen auf die göttliche Vorsehung begonnen hatte, ließ sie sich auch auf dieses Vorhaben, das in ihr Innerstes eindringen sollte, mit totalem Einsatz ein.
Wir beschlossen, dass dies keine autorisierte Biografie werden sollte, und dass ich allein für die redaktionelle Bearbeitung und Interpretation verantwortlich sei. Erwartungsgemäß gewährte mir Mutter Angelica komplette journalistische Freiheit. Sie wollte mir mehrere Stunden lang an den Wochenenden oder nach der Direktübertragung ihrer eigenen Sendung für ausführliche Gespräche zur Verfügung stehen, wenn es ihre Zeit erlaubte. Es sollte keine Frage tabu und kein Thema zu heikel sein. Sie unterstützte mich uneingeschränkt bei meinen Nachforschungen, gewährte mir einen ungehinderten Zugang zum Archiv ihrer Gemeinschaft, zu ihrem persönlichen Briefwechsel, zu ihren Freunden, Ärzten und den Schwestern des Klosters Unsere Liebe Frau von den Engeln. Die Chronistin der Klostergemeinschaft, Schwester Mary Antoinette, wurde meine stärkste Verbündete. Sie beantwortete geduldig meine Fragen, gab mir entscheidende Informationen und erduldete meine Anrufe zu jeder Tages- und Nachtzeit.
Und dann, nur wenige Wochen nach dem letzten Gesprächstermin für diese Biografie und nach der letzten Direktübertragung ihrer Sendung, erlitt Mutter Angelica einen schweren Schlaganfall. Er beraubte sie ihrer Sprache und versiegelte ihr Gedächtnis, weshalb es unwahrscheinlich ist, dass sie jemals