Raymond Arroyo

Mutter Angelica


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hatten. Ohne es zu wissen, hatte ich Mutter Angelicas letztes Testament aufgenommen, das letzte Wort über ihr ungewöhnliches Leben.

      Eines Abends, kurz vor der Direktübertragung ihrer Sendung, gab sie mir nur eine einzige Instruktion mit auf den Weg, die mir bis auf den heutigen Tag nachgeht: „Achten Sie darauf, dass Sie mich so darstellen, wie ich wirklich bin. Es gibt nichts Schlimmeres als ein Buch, das die Wahrheit über eine Person mit einem Zuckerguss überzieht und den wirklichen Menschen verdeckt. Wenn Sie das machen, wünsche ich Ihnen vierzig Jahre im Fegefeuer!“

      In der Hoffnung, von diesem schändlichen Ende verschont zu bleiben, habe ich ein Buch geschrieben, das Strittiges oder auch die scheinbaren Widersprüche nicht vermeidet, die zu Mutter Angelicas Charakter dazugehören: die kontemplative, in Klausur lebende Nonne, die zur Welt spricht; die eigenständige Frau, die Regeln bricht und die als „sture Konservative“ verspottet wird; die treffsichere Komikerin, die fast ständig unter Schmerzen leidet; die Klarissin, die ein Multi-Millionen-Unternehmen betreibt.

      Dies sind die Erinnerungen von Freund und Feind gleichermaßen, von allen, die ich ausfindig machen konnte und die jemals ihren Weg gekreuzt hatten. Kritische Bemerkungen über Mutter Angelica werden hier ebenso ohne Zögern dargestellt wie ihre erstaunlichen Fernsehproduktionen und deren Weiterentwicklung.

      Um einem solchen Leben wie dem von Mutter Angelica gerecht zu werden, ist es notwendig, Rückblicke einzublenden. Nur so kann man die Verflechtungen von Schicksal und Gnade erkennen, die dieses höchst ungewöhnliche Leben formten. Wie bei uns allen geschah auch im Leben von Mutter Angelica nichts in einem Moment. Ihre Geschichte zeigt die äußerst schmerzhaften, verworrenen und für den Außenstehenden verrückten Schritte, die schließlich zu einem glücklichen Ende führten. Der innere Antrieb zu ihrer Lebensgeschichte liegt jedoch im Kämpfen – ein Kämpfen, das zum größten Teil verborgen blieb oder im Laufe der Zeit untergegangen ist.

      Während der vergangenen fünf Jahre bin ich ihrem geistlichen und weltlichen Leben von Canton in Ohio bis nach Hanceville in Alabama nachgegangen. Dabei habe ich Menschen und Geschichten zutage gefördert, die Mutter Angelica schon längst vergessen hatte. Ich wog ihre Stärken und ihre Schwächen ab und entdeckte einen Glauben, der heutzutage selten geworden ist. Ich glaube, dass dieses Mosaik das vollständigste Bild von Mutter Angelica abzeichnet – sowohl von innen als auch von außen.

      Im April 2001 begann Mutter Angelica, sich nach einem besonders strapaziösen Gesprächstermin sanft in die Ruhe ihres Klosters zurückzuziehen. Damals drehte sie sich auf der Türschwelle wie ein kokettes junges Mädchen noch herum und schlug mit einer Hand auf den runden Türrahmen. „Sie wissen jetzt genauso viel über mich wie der liebe Gott“, sagte sie mit einem spitzbübischen Lächeln. „Aber es gibt noch einige Dinge, die sogar Sie nie erfahren werden.“

      „Sie haben aber nichts dagegen, wenn ich weiterhin versuche, sie herauszufinden?“, fragte ich.

      Sie kicherte fröhlich und verschwand im Flur.

      Hier folgen nun ihre freimütigen Erinnerungen, das Ergebnis meiner Nachforschungen und noch einige Dinge, von denen weder Mutter Angelica noch ich annahmen, sie jemals ans Tageslicht zu bringen.

      Raymond Arroyo New Orleans, 2005

      Prolog

      Im Jahre 2001 ließ sich die zusammengekrümmte Äbtissin am Morgen des Heiligen Abends in dem bereitstehenden Rollstuhl nieder und versuchte, ihre Töchter zu beruhigen. Schon seit Wochen hatten die Schwestern jede einzelne ihrer Bewegungen gespannt verfolgt und immer gehofft, ihre Wachsamkeit könnte die nächste Erkrankung oder einen Rückschlag irgendwie abwehren oder aufschieben. Angefangen von den Blicken der Verzweiflung, die sich die Nonnen gegenseitig zuwarfen, bis hin zu der Fürsorge, die sie ihr zuwandten, wenn sie stolperte oder auch nur zögerte: In all dem konnte sie die Sorge der Schwestern spüren. „Heute kommt Jesus“, verkündete sie an diesem Morgen mit ruhiger und entschiedener Stimme. Sie deutete auf den Gang und wies die Schwester an, sie aus der Zelle zu schieben. „Ich werde in die Kirche gehen, um dort auf Ihn zu warten.“

      Lange musste sie dort nicht warten.

      Als sie an den verschlossenen Türen des langen Klosterganges vorbeifuhr, in dem man nur das Rascheln der Ordenstrachten der Schwestern vernahm, sah die alte Nonne aus, als ob sie gerade von einem Fronteinsatz aus einer ausgedehnten Schlacht heimgekehrt wäre. Und vielleicht war es ja auch so. Öffentlich ausgetragene Kämpfe mit einem Kardinal und ihrem Ortsbischof, eine Überprüfung vonseiten des Vatikans, der Tod einer neunundvierzigjährigen Freundin aus dem Kloster sowie anhaltende gesundheitliche Probleme hatten Ende 2001 ihren Tribut von Mutter Mary Angelica gefordert. Selbst die Millionen Menschen, die sie jede Woche mit dem Fernsehen in ihre Wohnungen einluden, hätten sie nicht mehr erkannt. Eine Schlinge hielt Mutter Angelicas zerschmetterten rechten Arm. Sie war einige Tage zuvor gestürzt. Eine Augenklappe bedeckte ihr herunterhängendes linkes Auge, das sie seit einem Schlaganfall im vergangenen September nicht mehr schließen konnte. Und ihr Mund, der einmal selbst Bischöfe erbeben ließ und der den Verirrten auf den sieben Kontinenten das Heil brachte, hing traurig herab und entstellte das einst so vergnügte Antlitz. Angelica war nunmehr zu einer lebendig gewordenen Ikone des „heilbringenden Leidens“ geworden, von dem sie ihren Schwestern so oft gepredigt hatte.

      Eine der jungen Schwestern, die schon ihre Gelübde abgelegt hatte, schob Mutters Rollstuhl in der Klosterkapelle vorsichtig über den polierten Fußboden aus grünem Marmor und Jaspis. Der vertraute Duft von honigsüßem Weihrauch umfing sie jetzt. Von den bunt verglasten Kirchenfenstern der Kirche schauten die dort abgebildeten Engel auf sie herab und entboten ihren Gruß, als die Sonne von der Ostseite hereinstrahlte. Die Äbtissin war in die sich ständig verändernden Farben dieser Engel getaucht, und so rollte sie ihrem Bräutigam entgegen. An diesem Morgen war sie zu schwach gewesen, um ihre Ordenstracht anzulegen. Deshalb erschien sie pflichtbewusst in einem cremefarbenen Gewand und einer passenden Skimütze, um Ihm zu huldigen. Sie trug die Zeichen, die Er zugelassen hatte.

      Trotz ihrer körperlichen Verfassung war keine Bitterkeit bei ihr zu erkennen, als sie sich der fast zweieinhalb Meter hohen Monstranz näherte, in der die konsekrierte Hostie ausgestellt war. Dort war ihr Herr und Erlöser, der hoch über dem Zentrum der Kirche thronte, die sie für mehrere Millionen Dollar für Ihn hatte erbauen lassen. Für ihren Herrn war nichts zu viel. Die jetzigen Wunden waren lediglich neue Opfergaben, die sie Ihm darbrachte. Lange hatten sie miteinander unter Schmerzen kommuniziert, sie und ihr Bräutigam. Sie spürte, wie Er sie berührte, und ließ es zu. Sie hatte ja gelernt, dass sich im Schmerz – durch den Schmerz – Wunder ereigneten, wenn sie es nur fertigbrachte, Ihm vollkommen zu vertrauen und sich den Fügungen Seiner Vorsehung zu unterwerfen.

      Nach der Messe und dem Rosenkranzgebet verließen die Schwestern nach und nach die Kirche. Einsam bewegte sie schwach ihren Kopf nach oben, richtete ihr gesundes Auge auf Christus im Allerheiligsten Altarsakrament, wie sie es schon siebenundfünfzig Jahre lang in ihrem Ordensleben getan hatte. Dann kam Er ganz zu ihr.

      Ihr Kopf kippte plötzlich zur Seite, als wäre er aus Beton gegossen. Erschöpft und verwirrt wanderten Angelicas Augen zur Decke.

      „Mutter Angelica, ist alles in Ordnung?“, fragte Schwester Faustina. „Mutter Angelica?“

      Mutter Angelica antwortete nicht. Schwester Faustina fragte sich, warum sie einen solch verstörten Gesichtsausdruck hatte. War ihr Blutzucker abgefallen? Spielte ihr Diabetes verrückt? Warum konnte sie nicht mehr klar schauen? Die Schwestern standen um sie herum, riefen ihren Namen und versuchten, irgendeine Reaktion zu erhalten. Ein großes Glas Orangensaft wurde herbeigebracht, um ihren Blutzucker zu stabilisieren. Sie trank es ganz aus. Aber es half nicht. Die Nonnen brachten Mutter Angelica eilig in ihre Zelle zurück, um ihre lebenswichtigen Funktionen zu überprüfen.

      Auf dem Gang trafen sie, noch im Nachtgewand, Schwester Margaret Mary. Sie war zeitweise Mutter Angelicas Krankenpflegerin, da sie für die Ausgabe der Medikamente verantwortlich war und der Neunundsiebzigjährigen mit allgemeinen gesundheitlichen Ratschlägen beistand. Als sie die verwirrte Äbtissin erblickte, brachte sie ihre schlimmsten Befürchtungen zum Ausdruck: „Sie hatte einen Schlaganfall“,