nur schlecht gelaunt war, ist nicht bekannt. Jedenfalls riss sie eine Latte aus einem nahe gelegenen Zaun und schlug damit dem Jungen auf den Kopf. Vermutlich haben sich die Lehrer bei der Mutter darüber beschwert. Ihre Mutter, die Konflikten immer aus dem Weg gegangen war, entschied nun, dass Maes Schulbildung jetzt ausreichte. Sie wurde von der Schule genommen und kehrte nie mehr dorthin zurück. Dieses Gefühl, nicht genug gelernt zu haben oder nicht intelligent genug zu sein, hatte tiefe Narben bei Mae Gianfrancesco hinterlassen – Narben, die sich auch später noch bemerkbar machten und letztlich auch ihre Tochter belasteten.
Als John Rizzo an der Küchentür vorbeischlenderte und Komplimente über Maes Stimme machte, muss sie wohl gedacht haben, dass ihr Gebet erhört worden war. Jetzt war nun endlich die Gelegenheit in greifbare Nähe gerückt, diesem beengten und stürmischen Haushalt mit lauter Brüdern zu entkommen, eine Möglichkeit, ganz von vorne zu beginnen und vielleicht sogar eine Ausbildung zu machen. Mit zweiundzwanzig Jahren ergriff Mae ihre Chance zum Glücklichwerden und heiratete John Rizzo am 8. September 1919 gegen die Einwände ihrer Eltern, „die ihn noch nie gemocht hatten“.
Vier Jahre später, am 12. September 1923, trugen die Eheleute ihre fünf Monate alte Tochter zum Taufbecken der St. Antonius-Kirche in der Liberty Street. Es war damals Brauch, Säuglinge innerhalb weniger Tage nach der Geburt taufen zu lassen, doch ein paar säumige Taufpaten hatten diese Verzögerung verursacht. Als die Rizzos dann schließlich mit dem kräftigen Kind an das Taufbecken herantraten, das schon so viel älter als fünf Monate zu sein schien, wandte sich der erstaunte Priester an Mae und fragte: „Weshalb haben Sie nicht gewartet, bis sie von selbst hierher laufen konnte?“
Rita wurde von ihrer Mutter sofort nach der Taufe zu einem Seitenaltar getragen, der der Schmerzensreichen Mutter gewidmet war. Sicher fühlte sie sich von dieser Darstellung Mariens ganz besonders angezogen. Auf diesen Altar der Madonna, deren Herz von Schwertern des Leidens durchbohrt war, legte Mae ihr eigenes Kind. „Sie erzählte mir, sie habe zu Maria gesagt: ‚Ich gebe dir meine Tochter‘“, erinnerte sich Mutter Angelica später etwas wehmütig. „Ich bin mir sicher, sie dachte, sie würde noch weitere Kinder bekommen, aber sie bekam keine mehr.“
Das war auch kein Wunder. Die Ehe der Rizzos war bereits am Zerbrechen. Johns Unfähigkeit, die Familie finanziell zu unterhalten, trug maßgeblich dazu bei.
„Mein Vater hatte nie genügend verdient“, meinte Mutter Angelica. „Meine Mutter bestand darauf, endlich ein Haus zu mieten… Eines Nachts lag ich in meinem Gitterbett und fing an zu weinen, zu schreien und zu brüllen. Mae stand schließlich auf, um nach mir zu sehen. Und dann waren dort überall Kakerlaken, in meinem Bett, auf mir selbst und auch an den Wänden. Die Tapete bewegte sich, auch sie war voll von Kakerlaken.“ Nach einigen bissigen Kommentaren John gegenüber, in denen sie zweifellos ihre Wut über sein Versagen als Ernährer der Familie ausließ, packte Mae ihre kleine Tochter und verbrachte mit ihr die Nacht im Haus ihrer Eltern. Dies sollte in ihrer Ehe zum Normalfall werden.
Zudem wurde die Beziehung auch durch die Mutter von John Rizzo untergraben. Catherine war eine herrische Schwiegermutter. Um das Jahr 1926 konnte Catherine Rizzo keine Wohnung finden. Dabei hatte sie elf Kinder, eines davon war John. Daher wurde beschlossen, dass sie auf Maes Drängen hin bei der jungen Familie Rizzo in Canton einzog.
„Sie besaß einfach nicht genügend Weitsicht, um sich vorstellen zu können, dass etwas nicht stimmen konnte, wenn elf Kinder nichts mit ihrer Mutter zu tun haben wollten“, bemerkte Mutter Angelica mit einem bitteren Lächeln. „So nahm meine Mutter sie also auf, und damit fing der Ärger an.“
Tatsächlich gingen die Schwierigkeiten vermutlich schon sehr viel früher los. John hatte, Gerichtsunterlagen zufolge, Mae seit Jahren mit Wort und Tat misshandelt. Deshalb hatte wahrscheinlich nicht Catherine Rizzo die Ehe zerstört, jedoch war sie sicherlich der Auslöser für viele Ehestreitigkeiten.
Die beherzte Mae traf in der Großmutter Rizzo auf eine Persönlichkeit, die ihr ebenbürtig war. Sie war eine stattliche Frau mit einem entsprechenden Mundwerk. Sie duldete keine Dummköpfe, vor allem nicht in der Küche. Die gastronomischen Ansprüche von Großmutter Rizzo waren hoch. Maes Kochkünste und auch alles andere, was die junge Frau tat, entsprachen jedoch nicht den Erwartungen von Großmutter Rizzo. Sie waren auch nicht gut genug für Catherines Sohn. Die regelmäßigen Nörgeleien wurden für eine ohnehin schon verunsicherte Person wie Mae einfach zu viel.
Eines Nachmittags hatte Mae gerade ein Hähnchen mitsamt den Knochen in den Ofen geschoben, was Großmutter Rizzo nun ganz besonders auf die Palme brachte, denn sie selbst war stolz darauf, Geflügel innerhalb von Minuten entbeinen zu können. Noch ehe die Klappe zum Backofen geschlossen war, fiel die alte Dame über Mae her und beschimpfte sie wegen ihrer Unfähigkeit in der Küche. Die dreijährige Rita klammerte sich an ihre Mutter. Nachdem das Kind mehrere Minuten lang angespannt zugehört hatte, trat es zwischen seine Mutter und Großmutter Rizzo.
„Ich sagte zu meiner Großmutter: ‚Oh, sei still! Immer nur reden, reden, reden!‘ Da hob mich meine Mutter hoch und gab mir hundert Küsse, weil ich sie verteidigt hatte“, erinnerte sich Mutter Angelica. „Mein Vater hätte sie ja nie verteidigt!“
Dies sollte das erste, jedoch nicht das letzte Mal sein, dass Rita ihre Stimme erhob, um fast instinktiv ihre Mutter zu verteidigen. Auch die ersten Anzeichen der in den späteren Jahren für sie charakteristischen Fähigkeit, energisch aufzutreten, machten sich hier bemerkbar. Ihr Eingreifen trug jedoch nur wenig zur Abmilderung der Schärfe im Verhältnis zwischen Mae und ihrer Schwiegermutter bei.
Nach den Worten von Mutter Angelica rannte Mae irgendwann zwischen 1927 und 1928 wie besessen die Treppen ihres Hauses hinauf, um ein Gewehr zu suchen, mit dem sie die alte Frau erschießen wollte. „Wenn die Mutter meines Vaters daheim gewesen wäre, hätte sie es auch getan. Zum Glück war sie aber schon nach Reading in Pennsylvania abgereist, um dort bei ihrer Tochter zu wohnen…“
Ab November 1928 lebte auch John Rizzo anderswo. Er zog nach Kalifornien und ließ zwei Jahre lang nichts von sich hören. Er gab weder einen Grund für seine Abreise an, noch hinterließ er irgendeine Adresse. Ohne Geld und ohne eine Arbeit musste Mae den Rest der Familie versorgen. Wie Flüchtlinge kehrten sie und die fünfjährige Rita in das Haus ihrer Eltern zurück. Dort hieß man sie nicht gerade willkommen. Das Haus der Gianfrancescos war bereits voll belegt. Maes vier Brüder (Tony, Pete, Frank und Nick) und die alten Gianfrancescos bewohnten die beiden Schlafzimmer. Deshalb waren Rita und Mae gezwungen, in einer renovierten Dachkammer zu schlafen. In den letzten Jahren erzählte Mutter Angelica oftmals über den ersten Winter in diesem Haus. Als sie und ihre Mutter in der Dachkammer schliefen, riss ein Sturm die Fenster auf und bedeckte sie mit Schnee. Doch angesichts der damaligen finanziellen Möglichkeiten und des Großmutes der Gianfrancescos erscheint es doch seltsam, dass sie ihre eigene Tochter und Enkelin solch widrigen Umständen ausgesetzt hatten…
Anthony Gianfrancesco war trotz der Armut, die ihn umgab, alles andere als arm. Er besaß drei Häuser in der Nachbarschaft, die er äußerst günstig an Familien sowie an frisch ankommende italienische Einwanderer vermietete. Anthony stammte aus Neapel, wanderte von dort aus und ließ sich zunächst in Colorado nieder, wo er in einer Goldmine arbeitete, bevor er nach Akron in Ohio umzog. Dort begegnete er Mary Votolato und heiratete sie. Konflikte mit seiner Schwiegermutter trieben ihn dazu, nach Canton umzusiedeln. Dort eröffnete er ein Geschäft.
Das Lokal, das Anthony Gianfrancescos Namen trug, wurde zu einem sicheren Hafen für ausländische Familien, die mit dem Schiff in einem fremden neuen Land ankamen. Im Südosten Cantons wurde Gianfrancescos Lokal zum Mittelpunkt des gesellschaftlichen Lebens der Italiener: Dort konnte man die Muttersprache sprechen, untereinander in Kontakt kommen, sich unter seinesgleichen aufhalten und sich gegenseitig von den Demütigungen erzählen, die man bisweilen durch die Amerikaner erdulden musste. Mutter Angelica erinnerte sich daran, wie ihr Großvater die italienischen Neuankömmlinge mit Kleidung versorgte und ihnen bei der Arbeitssuche behilflich war. Großmutter Gianfrancesco gab den Einwandererfamilien oft in einem Zimmer oberhalb des Lokals etwas zu essen. Dort trafen sich auch manchmal die italienischen Clubs. Es war ein Familienlokal, in dem es verboten war, sich zu betrinken. Wenn die Rechnung zu hoch wurde oder die Stunde vorgerückt war, schickten die Gianfrancescos ihre