Raymond Arroyo

Mutter Angelica


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auch sein mochten.

      Für die Außenwelt schien Mae Rizzo der Inbegriff an Zuversicht zu sein. Noch immer trug sie ihre eleganten Hüte und hielt die etwas herrische Fassade aufrecht, die jeden Fremden auf Distanz hielt. Alle, die sie kannten, erinnern sich an sie als eine hinreißende Geschichtenerzählerin. Sie konnte die Aufmerksamkeit des Publikums fesseln, wobei es egal war, welche Geschichte sie gerade erzählte. Ihre Tochter hatte dieses Talent geerbt. Doch im Gemüt wurde Mae Rizzo krank. Um das Jahr 1934 brachten sie Armut und eine chronische Depression beinahe um den Verstand. Vor ihrer fassungslosen elfjährigen Tochter brach Mae dann zu Hause in Tränen aus, jammerte über das Leben, das sie ihrem Kind zumutete, den Mangel an Bildung, der Ritas Berufsmöglichkeiten beschränken würde und über den Ehemann, der ihr Unrecht angetan hatte. Drei Jahre nach der Scheidung war Mae noch immer außerstande, John Rizzo aus ihrem Herzen zu entreißen. Wenn sie ihn nur mit einer anderen Frau sah, wurde sie schon wütend.

      John Rizzos neue Partnersuche machte Maes Depressionen nur noch schlimmer und rief düstere, verheerende Gedanken bei ihr hervor. „Ständig drohte sie mit Selbstmord“, verriet Mutter Angelica, „und wenn ich von der Schule nach Hause kam, wusste ich nie, ob ich sie lebend oder tot antreffen würde. Ich konnte nicht mehr lernen oder mich konzentrieren.“

      Für Rita hatten die ständige Sorge um Maes Gemütsverfassung und der endlose Kampf ums Überleben jede Beziehung zur Außenwelt unmöglich gemacht. Das tief in ihr sitzende Gefühl, dass sie selbst irgendwie zur Situation ihrer Mutter beigetragen hätte, verstärkte nur noch ihre Anhänglichkeit an Mae, auf die sich ihr ganzes Augenmerk richtete. „Einen Großteil der Zeit passte ich nur auf sie auf“, erzählte mir Mutter Angelica. „Deshalb hatte ich auch nie Freunde und spielte auch nie mit Puppen. Für mich war das Leben bitterernst.“

      Die Rollen wurden vertauscht. Rita wurde für Mae zur Mutter und zur emotionalen Pflegerin. Mit elf Jahren, kaum fähig über das Armaturenbrett zu schauen, fuhr Rita bereits mit Maes Auto, um den Kunden ihrer Mutter die gestärkte Kleidung auszuliefern und an Samstagen die Zahlungen einzukassieren. Manchmal brachte sie sogar einen Gewinn mit nach Hause. Dies wurde dann in der Stadtbibliothek gefeiert, wo Mae Bücher wälzte und Rita in Comics schwelgte und die mitgebrachten Karamellbonbons genoss. Doch in den meisten Fällen kehrte das Mädchen mit leeren Händen von ihren Auslieferungsfahrten zurück, und dann flossen bei Mae die Tränen. Rita stand der Traurigkeit ihrer Mutter völlig hilflos gegenüber.

      „Wenn mich der Herr nicht herausgezogen hätte, dann wäre es nur ein unglückliches Leben gewesen“, bemerkte Mutter Angelica nachdenklich. „Nie sah ich, dass sich etwas änderte. Es kam mir vor, als sei ich so geboren worden und als würde ich auch so sterben. Ich war nicht verbittert, ich hatte nur resigniert.“

      Und dann drang das Übernatürliche zum ersten Mal in Rita Rizzos Leben ein. Das schmächtige Mädchen wollte nach einem Besuch beim Zahnarzt in der Innenstadt wieder mit dem Bus nach Hause fahren. Sie musste eine breite Straße überqueren, um ihren Bus zu erreichen. Sie schaute nach rechts und nach links, über ihre Knöchel hingen ausgeleierte Socken. Rita lief geradewegs auf den Mittelstreifen der Straße zu, als eine Frau aufschrie. Sie blickte flüchtig über ihre rechte Schulter zurück und bemerkte zwei Autoscheinwerfer, die direkt auf sie zukamen. Wie erstarrt blieb sie stehen. Das Motorengeräusch wurde immer lauter. Nur noch Sekunden bis zum Aufprall, Rita schloss ihre Augen, gelähmt vor Angst.

      „Ganz plötzlich hatte ich das Gefühl, als hätten zwei Hände unter meine Arme gegriffen, mich emporgehoben – ich kann es jetzt, wenn ich darüber spreche, fast immer noch spüren – und mich auf die Verkehrsinsel gestellt, wo die Autos parkten“, erzählte mir Mutter Angelica mit einem fast ehrfürchtigen Flüstern. Sie bemerkte, dass die Passanten sich über das Unglaubliche wunderten, das sie gesehen hatten und sie anstarrten.

      Als Mae am nächsten Tag mit dem Bus fuhr, berichtete ihr der Fahrer, dass er gestern „ein Wunder“ miterlebt und noch nie „zuvor jemanden so hoch emporspringen“ gesehen habe. Mutter und Tochter schrieben dieses „Hochheben“ einer Gnade zu, die sie in einem sonst so trostlosen Zeitpunkt ihres Lebens berührt hatte.

      Als die vierzehnjährige Rita um das Jahr 1937 die High School besuchte, konnten sie und ihre Mutter es nicht mehr alleine schaffen. Der finanzielle Druck zwang sie, in den Haushalt der Gianfrancescos zurückzukehren, wo noch immer Großmutter, Großvater, Onkel Pete und Onkel Frank wohnten. Doch das Heim war nun nicht mehr dasselbe. Anthony Gianfrancesco hatte einen Schlaganfall erlitten. Zuvor hatte er einen Streit mit einem Gast, geriet in Wut und verlor die Beherrschung. Halbseitig gelähmt, humpelte er mit einem Stock im Haus herum. Sein Zustand wurde durch sein ohnehin heißes italienisches Temperament noch verschlimmert. Dadurch wurden die Ängste der im Haushalt lebenden Personen erst recht geschürt. Aber trotz dieser Probleme und Maes Stolz, der durch die unvermeidliche Rückkehr verletzt worden war, konnten sie und Rita doch wenigstens mit regelmäßigen Mahlzeiten und einem Dach über dem Kopf rechnen.

      Um ihrer Mutter jeden zusätzlichen Kummer zu ersparen, bemühte sich Rita, ihre Noten an der McKinley High School zu verbessern, was ihr allerdings nur mit mäßigem Erfolg gelang. In ihrem zehnten Schuljahr entdeckte Frau Thompson, ihre Lehrerin für Wirtschaftslehre, etwas in dieser hageren, verschlossenen und schlechten Schülerin. Vor der Klasse verkündete die Lehrerin, dass es jemanden in diesem Raum gäbe, der lauter Einsen und Zweien schreiben und auch die beliebteste Schülerin der ganzen Schule sein könnte, wenn sie sich nur anstrengen wollte. Nach dem Unterricht rief Frau Thompson Rita zu sich.

      „Du weißt, dass ich über dich gesprochen habe“, sagte die Lehrerin.

      „Ja“, entgegnete Rita.

      „Und nun, was gedenkst du zu tun?“

      „Nichts“, sagte Rita trotzig. „Ich mag die Menschen nicht, und ich mag auch Sie nicht.“

      Auf ihrem Heimweg bereute Rita ihre garstige Bemerkung, aber es fiel ihr schwer, ihr cholerisches Temperament zu bändigen. Sie konnte ohnehin keine Freunde haben. Mae hätte dies als unangenehm empfunden. Außerdem wäre jeder, der Ritas Aufmerksamkeit beansprucht hätte, von ihrer Mutter als Bedrohung wahrgenommen worden. Mae zuliebe war aus Rita eine überzeugte Einzelgängerin geworden.

      Ein paar Tage nach ihrem Gespräch mit der Wirtschaftslehrerin sprach der Bandleader der zur Schule gehörenden Musikgruppe Rita an und fragte sie, ob sie gerne Tambourmajorette werden wollte. Als Wiedergutmachung für ihre freche Antwort, die sie Frau Thompson gegeben hatte, und ohne sich irgendwie mit Musik auszukennen, nahm sie die Herausforderung an. Im Rückblick glaubt Mutter Angelica, dass Frau Thompson und die anderen Lehrer sich vielleicht zusammengetan hatten, um ihr zu helfen. Im Sommer des Jahres 1939 übernahm sie den Taktstock.

      „Sie konnte sehr gut wirbeln“, erinnerte sich Blodwyn Nist, die mit ihr zusammen Tambourmajorette war. „Sie hatte diese großen Hände und machte es richtig gut.“ Blodwyn und Rita waren die ersten weiblichen Majoretten in der Geschichte der Schule. Sie traten zusammen bei Sportveranstaltungen, Paraden und anderen Gemeindefesten auf. Nist zufolge war Rita sehr leutselig und hatte ein feines Gespür für das, was richtig und falsch war.

      Es scheint jedoch, dass in dieser Zeit ein gewisser Zwiespalt bestand zwischen Angelicas Erinnerung an ihr eigenes Selbstbild und der öffentlichen Wahrnehmung ihrer Person. Entweder hatte sich Rita von ihrer Mutter inspirieren lassen und in der Öffentlichkeit eine fröhliche Maske aufgesetzt, um die Ängste und Sorgen zu verbergen, die ihren Alltag verdüsterten, oder aber die neue Aufgabe, die ihr als Majorette zugefallen war, brachte die leichtere, die beschwingtere Seite ihres Charakters zum Vorschein. Was auch immer nun der Fall gewesen sein mag, keine ihrer Mitschülerinnen stand ihr nahe genug, um die Wahrheit zu erkennen. Die Gespräche mit Klassenkameradinnen ergaben, dass Rita in der Schule keine engen Freundschaften pflegte und, abgesehen von ihren Pflichten als Majorette, für sich alleine blieb. Wie ihre Mutter konnte Rita beharrlich eigenständig und argwöhnisch gegenüber Außenstehenden sein.

      Bei Tanzveranstaltungen in der Schule machte sie nie mit, und niemand konnte sich daran erinnern, dass sie jemals mit einem Jungen ausgegangen war. „Ich hatte nie eine Verabredung und wollte auch keine“, vertraute Mutter Angelica mir an. „Ich hatte einfach überhaupt kein Verlangen