Blutdruck, sie schafften es jedoch nicht, sie durch eine Sauerstoffmaske wiederzubeleben. Schwester Mary Catherine, Mutters Stellvertreterin und damit die Zweite in der Rangfolge hinter Mutter Angelica, entschied, sie in das nahe Cullman-Bezirkskrankenhaus bringen zu lassen. Die einstündige Fahrt nach Birmingham wäre zu lang gewesen. Man lud die Äbtissin in einen Krankenwagen und fuhr schnell zum Krankenhaus.
Außer dem andauernden Nach-Luft-Schnappen und dem unkontrollierten Augenrollen war sie völlig teilnahmslos.
Im Krankenhaus wurden eine ganze Reihe von Tests vorgenommen, während die Schwestern beteten. Endlich betrat Dr. L. James Hoover mit verlegenem Ausdruck den Warteraum. Er trug einen festlich aussehenden roten Pullover, der bei diesem Anlass fast lächerlich wirkte. Mit den Händen in seinen Hosentaschen wirkte er irgendwie hoffnungslos.
„Wir können nichts für sie tun“, sagte Hoover gedehnt, als wollte er sich entschuldigen. „Sie hatte einen Schlaganfall und eine Gehirnblutung.“
„Und was wird jetzt geschehen?“, fragte Schwester Margaret Mary.
Der Arzt wich dem Blick der Nonne aus. „Sie wird einfach hinüberdämmern. Einer von hundert Patienten sind Kandidaten für eine Operation, doch in ihrem Alter und Zustand…“
Die Nonnen begriffen sofort, welche schreckliche Entscheidung sie treffen mussten, entweder nichts zu tun und mit anschauen zu müssen, wie ihre Oberin ihnen entglitt, oder die Fahrt nach Birmingham zu riskieren, um dort eine gefährliche Hirnoperation durchführen zu lassen, die sie womöglich nicht überleben würde. Während die schwerwiegende Entscheidung getroffen wurde, lag die Frau, die das weltweit größte religiöse Medienimperium aufgebaut hatte, im Koma in der Notaufnahme des Krankenhauses. In der Vergangenheit war sie schon so oft durch viele Wunder gerettet worden. Jetzt stand sie selbst an der Schwelle zur Ewigkeit, zu der sie anderen seit Langem den Weg gewiesen hatte.
Irgendwo in den Tiefen ihres angeschlagenen Bewusstseins fasste Mutter Angelica wohl unbewusst den Entschluss, den Kampf aufzunehmen. Wie schon immer wollte sie sich jetzt in der Verzweiflung in die Hände Gottes fallen lassen. Für Mutter Angelica gab es keinen anderen Weg.
1. Kapitel
Ein unglückliches Leben
Mutter Angelica kam unbeachtet und sogar unerwünscht zur Welt, zumindest was ihren Vater betraf. Geboren wurde sie am 20. April 1923 als Rita Antoinette Rizzo in der bescheidenen Stadt Canton in Ohio.
Wenn man davon absieht, dass Präsident William McKinley in Canton gewohnt hatte und auch dort begraben wurde, handelte es sich um eine unbekannte Industrieansiedlung, etwa eine Stunde von Cleveland entfernt. Am Horizont sah man überall dicke braune Rauchschwaden aus den Fabrikschornsteinen hervorquellen, ein Zeichen für die von dieser kleinen Stadt ausgehende Produktivität. Die Stärke Cantons war der Stahl, der Werkstoff des neuen Jahrhunderts, der als Magnet Tausende Einwanderer anzog. Aus Cantons Fabriken und seinen Förderbändern stammten Kugellager, Straßenbahnwagen, Ziegelsteine, Telefone und Rohre, mit denen sich das Land weiterentwickelte und seine großartigste Epoche erreichen sollte.
Doch neben der Industrieansiedlung sticht Canton auch heute noch durch seine grüne Weidelandschaft mit leicht gewellten Hügeln in der Mitte Amerikas hervor. Hier konnte man Kinder aufwachsen lassen ohne das Chaos und die Enge des Stadtlebens. Das traf allerdings nur zu, wenn man nicht gerade im südöstlichen Teil der Stadt wohnte, dort, wo Rita Rizzo geboren wurde.
Im Jahre 1923 war der Südosten von Canton als Rotlichtbezirk bekannt oder auch als „Slumgebiet“, wie manche diesen Teil nannten. Für die Schwarzen und die zahlreichen italienischen Einwanderer, die in den Fabriken arbeiteten, war der Südosten die Heimat. Die Italiener waren an das Viertel durch eine Kombination von Analphabetentum und regelmäßigen Schutzgeldzahlungen gebunden, die von ihren unberechenbaren Landsleuten eingefordert wurden. Es war ein Ghetto, das von der „Schwarzen Hand“ beherrscht wurde, einer kriminellen Organisation, deren Ursprünge in Sizilien lagen. Und obwohl die Bandenmitglieder Revolver mit schwarzen Griffen trugen, während sie im Viertel ihren Geschäften nachgingen, stammte die Bezeichnung „Schwarze Hand“ doch noch aus ihrer alten Heimat. In dieser Zeit nahm die Bandenkriminalität ungeheuer zu. Es gab eine durchgehende Kette organisierter Korruption von Cleveland über Canton und weiter nach Steubenville. In Canton war die Cherry Street das Zentrum, wo kriminelle Banden und Prostituierte sich um die gleichen Seelen bemühten wie die katholische Pfarrei St. Antonius.
Bandenmorde kamen im Südosten von Canton häufig vor. Leute, die früher einmal in der Gegend gewohnt haben, berichten heute noch von Menschen aus ihrer Nachbarschaft, die auf ihrer Veranda in die Luft gesprengt, an Straßenecken erschossen oder in das Flusswasser geworfen wurden. Auch heute noch reden einige der Dorfbewohner, die ja nun mittlerweile weit über achtzig sind, mit gesenkter Stimme über die „Schwarze Hand“, und sie lehnen aus Angst vor Repressalien jede Veröffentlichung ihrer Namen ab.
Dieses ethnische Ghetto – in dem Dirnen an die Fensterscheiben ihrer Bordelle klopften, um ihre Freier anzulocken; in dem Ladenbesitzer in der gleichen Straße zusammen mit Auftragskillern lebten; in dem die Priester der Pfarrei versuchten, kleine Gauner zu einem besseren Leben anzuleiten; in dem sich das Profane mit dem Sakralen vermischte, und jeder sich anstrengte, irgendwie über die Runden zu kommen – dies nun war die Umgebung, die auf Rita Rizzo bei ihrer Ankunft im Jahre 1923 wartete.
Sie kam im Haus von Mary und Anthony Gianfrancesco, ihren Großeltern mütterlicherseits, auf die Welt. Diese wohnten einen Häuserblock entfernt von der berüchtigten Cherry Street. Das Haus in der Liberty Street mit der Hausnummer 1029 grenzte auf der einen Seite an ein offenes Feld mit gepflegten Weinreben. Auf der anderen Seite des Hauses, an der Kreuzung der Liberty Street und der Eleventh Street, befand sich das Lokal von Großvater Gianfrancesco, ein beliebter Treffpunkt für die neu ankommenden Einwanderer und ihre amerikanische Verwandtschaft, die sich dort trafen und etwas tranken oder zu Mittag aßen.
Für ihre Mutter Mae war die Geburt der kleinen Rita eine schmerzvolle Angelegenheit. Es waren mehrere Stunden sowie anschließend fünfzehn Stiche vonnöten, um das fast zwölf Pfund schwere Kind zur Welt zu bringen. Mae Gianfrancesco Rizzo wurde nicht müde, dies ihrer einzigen Tochter immer wieder zu erzählen.
„Meine Großmutter sagte, ich hätte rosige Wangen, einen vollen Haarschopf und die Größe eines sechs Monate alten Kindes gehabt. Es hätte ausgesehen, als ob ich zum Gehen bereit gewesen wäre“, erinnerte sich Mutter Angelica Jahrzehnte später kichernd.
John Rizzo, Ritas Vater, wollte nie ein Kind. Als ihm seine Frau nach zwei Jahren Ehe mitteilte, dass sie schwanger war, „tobte er so vor Wut, dass er sie mit Gewalt packte und an den Haaren zerrte“. Mae Rizzo war überzeugt, dass sie aufgrund dieses Zwischenfalls und der nachfolgenden Angstzustände das Kind nicht stillen konnte.
Als Mae John zum ersten Mal begegnete, schien er der ideale Mann für sie zu sein. Er war groß und schlank, anständig und ruhig im Verhalten, tadellos gekleidet und trug Gamaschen und einen Spazierstock. In einem Ghetto, in dem es von einfachen Arbeitern und Ganoven nur so wimmelte, war John Rizzo die Verwirklichung eines Wunschtraumes. Von Beruf war er Schneider. Er hörte Mae singen, als er einmal die Eleventh Street hinunterschlenderte, und kam so zum ersten Mal an die Küchentür der Gianfrancescos.
Mae sang oft beim Geschirrspülen die italienischen Opernarien mit, die vom Grammofon ihres Vaters aus dem Wohnzimmer erklangen. Seit ihrer Geburt war sie stets von Musik umgeben gewesen. Musik gehörte zu ihrem Leben genauso wie Papas Lokal oder der gusseiserne Herd in der Küche. Mae wollte gerne Sängerin werden und hatte sicher auch das Aussehen dafür. Sie war eine aparte Frau mit dunklen Augen, markanten Gesichtszügen und mit einem ernsten Ausdruck, der die Blicke der Männer in der Nachbarschaft auf sich zog. Familienfotos zeigen eine junge Frau, die sich ihres guten Aussehens bewusst war und die auch wusste, welche Mode zu ihr passte. Übergroße Hüte, bauschige Kleider, Handschuhe und Sonnenschirme schmückten Maes hübsche Figur. Ihre Schönheit nahm John gefangen.
Doch trotz all ihrer Reize war Mae sogar schon als junge Frau davon überzeugt, dass sie vom Leben betrogen worden war. Sie führte ihre Schwierigkeiten