verärgert den Kopf. „Ich glaube, dass dies ein großer Verlust in unserem Leben war, denn Pfarrer Riccardi war jemand, der uns verstand.“
Für Rita und Mae war nun also auch noch die letzte Säule, an die sie sich in ihrem Leben anlehnen konnten, zusammengebrochen. Dann verschlang im Oktober 1929 die Weltwirtschaftskrise die kümmerlichen Ersparnisse der kleinen Leute in Canton und anderswo. Für den Rest ihres Lebens lehnte es Mae Rizzo ab, ihr Bargeld auf einer Bank einzuzahlen. Sie hortete ab jetzt ihr Geld in einer Handtasche, damit sie es jederzeit zur Verfügung hatte und auf einen zweiten Crash vorbereitet war. Der Tod ihres Pfarrers und die damalige finanzielle Unsicherheit setzten eine nach unten führende Spirale von Nackenschlägen in Gang, die Mutter und Tochter schwer trafen.
1930 kehrte John Rizzo nach Canton zurück und besuchte seine Familie im Haus der Gianfrancescos. Obwohl Mae noch immer eine gewisse Zuneigung zu John verspürte, war ihr Vertrauen zu ihm schon längst geschwunden. Die peinliche Begegnung führte zu nichts, und Mae bat ihn unvermittelt, das Haus zu verlassen. Am 24. September 1930 reichte sie beim Bezirksgericht in Canton den Antrag auf Scheidung ein. Im Dokument wurde Johns „extreme Grausamkeit“ erwähnt – Schläge, verbale Angriffe und das Unvermögen, für seine Familie zu sorgen und sie zu ernähren. In dem Gesuch wurde das Gericht gebeten, für Mae Unterhaltszahlungen und das Sorgerecht für Rita zu bewilligen.
Das siebenjährige Kind versuchte, all das irgendwie zu verstehen: die herabwürdigende eheliche Beziehung, die lange Abwesenheit ihres Vaters und den emotionalen Zerfall des einzigen Elternteils, den sie wirklich kannte. Eigentlich wäre es für eine Mutter selbstverständlich gewesen, ihrem Kind in dieser Lage Trost zu spenden, jedoch wusste Rita schon mit sieben Jahren, dass dies unmöglich war. Mae war mit der Endgültigkeit der Scheidung innerlich überfordert. Sie wurde zunehmend hysterischer und neigte zu heftigen Weinkrämpfen. Rita war völlig auf sich selbst gestellt.
„Manchmal fragte ich mich, ob es wirklich einen Gott gibt, und wenn ja, dann konnte ich nicht verstehen, weshalb Er mir dann nicht eine Familie wie den anderen Kindern gegeben hatte“, bemerkte Mutter Angelica mit einem in die Ferne gerichteten Blick.
„Sie war schon immer erwachsen“, sagte Angelicas Cousine Joanne Simia. „Sie hatte keine Kindheit.“
In ihrem späteren Leben brachte Rita durch ihren Fernsehsender Licht in die dunklen Orte dieser Welt – Orte, wo die in Vergessenheit Geratenen zusammenkommen: in Bars, Altersheimen, Krankenhäusern und heruntergekommenen Motels. Wenn sie redete, spürten diese Menschen, dass Rita ihren Schmerz, ihre ruinierte Ehe, ihre Alkoholsucht und ihre zerrütteten Familienverhältnisse nachempfinden konnte. Sie schien eine von ihnen zu sein. Sie spürten, dass hinter dem Schleier, den funkelnden Augen und dem verschmitzten Lächeln eine Person steckte, die auch verwundet war. Und das war sie auch tatsächlich.
Der Anfang der Hölle
Am 10. März 1931 wurde ihrer Mutter Mae vom Gericht das Sorgerecht für Rita sowie fünf Dollar wöchentliche Unterhaltszahlungen zugesprochen. „Und damit fing die Hölle an“, stellte Mutter Angelica fest. Das Stigma der Scheidung und die Herausforderung, mitten in der Weltwirtschaftskrise ihren Lebensunterhalt bestreiten zu müssen, erschütterte das Leben von Mae und Rita schwer. Die seltenen Unterhaltszahlungen von John Rizzo waren keine Hilfe. Manchmal ging Rita zum Gericht, ohne dort das vereinbarte Geld vorzufinden. Nach einem derartigen Vorfall suchte die beherzte Neunjährige eines Tages ihren Vater in dem Herrenbekleidungsgeschäft auf, in dem er arbeitete.
„Ich bat ihn um den Unterhalt, da gab er mir fünfzig Cent. In der nächsten Woche ging ich dann wieder zum Gericht. Der Schalter dort sah aus, als wäre er sechs Meter hoch. Ich sagte zu der Frau, dass ich die Unterhaltszahlung abholen wollte. Sie antwortete: ‚Aber Schätzchen, dein Papa hat dir doch letzte Woche fünf Dollar gegeben.‘ Ich widersprach: ‚Nein, das stimmt nicht, es waren nur fünfzig Cent.‘ Dann zeigte sie mir die Quittung, die ich ihm die Woche zuvor unterschrieben hatte. Er hatte einen Punkt und eine zusätzliche Null eingefügt, damit die Summe wie fünf Dollar aussah. Ich bin dann nie wieder dorthin gegangen, um meinen Unterhalt abzuholen.“
Um über die Runden zu kommen, eröffnete Mae wieder eine chemische Reinigung. Nach Auseinandersetzungen mit ihren Brüdern zog Mae aus dem Haus ihrer Eltern aus. Zwischen 1933 und 1937 wohnten Mae und Rita in einer Reihe von verwahrlosten, gelegentlich von Ratten heimgesuchten Ein-Zimmer-Wohnungen, die zur maximalen Nutzung normalerweise jeweils in verschiedene Bereiche aufgeteilt wurden. Der vordere Teil diente als Geschäft, der hintere zum Schlafen. Wenn Rita und ihre Mutter gerade nicht so gut miteinander auskamen, blieb das Mädchen bei einer befreundeten Familie. So wohnte sie zeitweilig bei Victoria Addams, einer Frau, die mit John Rizzo zusammen war. Dieser ständige Wechsel übte auf Rita einen negativen Einfluss aus.
In der St. Antonius-Schule rutschten ihre Noten ab. Manches davon kann sicher der herzlosen Behandlung durch die Nonnen zugeschrieben werden, die Rita als Kind geschiedener Eltern über sich ergehen lassen musste. In den frühen Dreißigerjahren war eine Scheidung für die meisten Katholiken, insbesondere für die italienischen, ein schändlicher Vorgang und galt als schwere Sünde. In der St. Antonius-Schule war Rita Rizzo das einzige Kind aus einer zerbrochenen Ehe.
1933 bat Ritas Klassenlehrerin, eine Ordensschwester, jede Schülerin, ein Abonnement für eine katholische Zeitschrift zu verkaufen. Rita meldete sich und sagte, dass sie zwei übernehmen wollte, weil ihre Tante Rose bestimmt eines davon abnahm. Die Nonne fuhr sie an: „Ach, du nimmst nur eins. Du willst immer so großartig sein und am Ende führt das doch zu gar nichts.“ Über Ritas Wangen kullerten Tränen. „Ich habe diese Nonnen gehasst, ich hasste sie“, sagte sie später einmal. Als Rita nach Hause kam, wusste Mae, dass irgendetwas nicht in Ordnung war, doch Rita wollte nicht darüber reden. Mae rief die Mutter einer Klassenkameradin an und war ganz außer sich, als sie erfuhr, wie man ihre Tochter behandelt hatte. Als Vergeltungsmaßnahme nahm sie Rita aus der St. Antonius-Schule und schickte sie in die öffentliche Schule.
Später überredete ein Priester Mae, Rita wieder in der St. Antonius-Schule anzumelden. Doch im folgenden Jahr kam es zu einem neuen unerfreulichen Ausscheiden. Am Ende einer Weihnachtsfeier verteilten die Nonnen an Rita und ihre Mitschülerinnen Spielzeug. Die Kinder packten die Geschenke aus und fertigten aus dem Einwickelpapier kleine Papierspielzeuge. Zur Freude der Mitschüler wedelten sie damit herum. Als Ritas Name aufgerufen wurde, trat sie vor, um ihr Geschenk abzuholen.
„Ich bekam nun dieses Jo-Jo. Es war alt und zerkratzt und hatte Knoten in der Schnur – man konnte dieses Ding gar nicht benutzen. Dann ging ich nach Hause. Meine Mutter fragte mich, wo ich das Jo-Jo herhatte. Als ich ihr erzählte, dass die Schwester es mir gegeben hatte, war dies der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte.“
Mae und Rita eilten zum Pfarramt der St. Antonius-Kirchengemeinde, wo Mae dem Pfarrer gründlich die Meinung sagte. Sie betrachtete das gebrauchte Geschenk als eine Demütigung – und ihr Kind ließ sie von niemandem demütigen. Bevor sie das Pfarramt verließ, meldete sie Rita zum letzten Mal von der St. Antonius-Schule ab.
Das Stigma der Scheidung sollte Mae aber bald auch von der Kirche trennen, die doch so lange ihre Stütze gewesen war. Da sie seit ihrer Scheidung nicht mehr gebeichtet hatte, wurde sie von ihren Freunden ermuntert, bei einem Missionar, der in der Pfarrei auf Besuch war, das Bußsakrament zu empfangen. Als Mae die Sünde der Scheidung beichtete, „ging der Priester an die Decke“. „Was haben Sie getan?“, tobte er. „Sind Sie sich bewusst, dass Sie sich mit der Scheidung selbst exkommuniziert haben?“
„Anstatt ihr gütig und liebevoll zu begegnen, ging er hart mit ihr ins Gericht!“, sagte Mutter Angelica. „Er gab ihr nicht einmal die Chance, darauf hinzuweisen, dass sie nicht wieder geheiratet hatte und die Gebote der Kirche hielt.“
Mae stürmte aus dem Beichtstuhl und ging zehn Jahre lang nicht mehr zur Kirche.
Ungefähr zur selben Zeit scheiterte ihr Geschäft. Kunden, die ihre Kleidung abholten, versprachen, in der nächsten Woche zu bezahlen, doch das Geld blieb meistens aus. Mae war zu stolz, zu ihrer Familie zurückzukehren. Mae und Rita kamen nur mit Mühe über die Runden. Manchmal gab es zum Abendessen für beide nur ein