das Getöse um die Fußballspiele Rita sehr auf die Nerven. Die lärmenden Massen und sogar schon das Geschwätz in der Schule störten die Sechzehnjährige. Es kam ihr vor, als stürze die ganze Welt auf sie ein. Um dem ganzen Krach zu entkommen, ergriff sie an den Nachmittagen im wahrsten Sinne des Wortes die Flucht aus der McKinley High School. Als sie ihren nervösen Zustand schließlich satthatte, suchte sie einen Arzt auf. Der Doktor diagnostizierte einen Calcium-Mangel, der zu ihrer reizbaren Verfassung beitrug. Er verschrieb Calcium-Spritzen und Medikamente für ihre Nerven. Doch die Ursache ihrer Probleme lag vermutlich nicht im Mangel an Mineralstoffen.
Mae hingegen erlebte daheim ihre eigene Nervenkrise: Ihre Weinkrämpfe nahmen zu, ebenso auch ihre Selbstmorddrohungen. Die Taktiken, die Rita normalerweise anwandte, um Mae aus ihrer tiefen Depression herauszureißen, erwiesen sich als unwirksam. Besorgt darüber, dass ihre Mutter nicht mehr „sie selbst“ war und an „totaler Erschöpfung“ litt, beschloss Rita, dass Mae eine gewisse Zeit außerhalb von Canton verbringen sollte. Mit dem Segen ihrer Großeltern schickte Rita ihre Mutter, die nun ihren ersten regelrechten Nervenzusammenbruch erlitt, nach Philadelphia, damit sie dort eine Zeitlang bei ihrer Schwester Rose verbringen konnte.
Zurückgelassen mit Angst- und Schuldgefühlen, versuchte Rita ihren normalen Alltag aufrechtzuerhalten. Sie ging in den Unterricht, verdiente Geld damit, dass sie anderen zeigte, wie man den Tambourstock schwingt, und lebte bei den Gianfrancescos. Doch bald schon stellte sich eine gewisse Niedergeschlagenheit ein, ein schreckliches Gefühl, dass sich ihr Schicksal nie mehr zum Guten wenden und ihre Mutter sich vielleicht nicht mehr erholen würde. Aus diesem Hexenkessel der Apathie und des Elends ging großer Kummer hervor, der Rita Rizzo verändern und sie zu einem Leben hinziehen sollte, wie sie es sich zu jener Zeit noch nicht vorstellen konnte.
2. Kapitel
Der Schmerz als Geschenk
In jener Nacht des Jahres 1939 lag viel Schnee auf den Eingangstreppen der Häuser in der Eleventh Street. Dicke Flocken fielen vom Himmel und bedeckten den unteren Teil des verwitterten Lattenzaunes, der vor dem Haus der Gianfrancescos stand. In der geräumigen und schön tapezierten Küche ihrer Großmutter – der Duft von Oregano und Knoblauch schwebte wie Weihrauch in der Luft – stocherte Rita Rizzo in den hart gewordenen Nudeln herum. Sie war jetzt an einem Punkt in ihrem Leben angelangt, an dem sich ein Teil ihres Charakters entwickelte, der den Rest ihres Lebens überschatten sollte.
Obwohl ihre müden braunen Augen nichts davon verrieten, stiegen doch widerstreitende Gefühle in ihr auf, einerseits der Erleichterung und andererseits der Sehnsucht, als sie an ihre abwesende Mutter dachte, mit der zusammen sie so oft an diesem schon so abgenutzten Tisch gesessen war. Ihr gegenüber saß Onkel Pete über seinen Teller gebeugt, der als Einziger der Gianfrancescos unverheiratet war. Er ahmte die Komiker nach, die er im Radio hörte. Großmutter Gianfrancesco winkte mit ihrer langen, dünnen, nach oben gewandten Hand, die so gar nicht zu ihrem rundlichen Körper passen wollte, und zeigte mit ihr auf den Teller des Mädchens, um sie zum Essen zu ermuntern. Rita schob das Essen auf dem Teller hin und her, aß jedoch nur sehr wenig. Ob es nun an den Medikamenten für ihre Nerven oder an der Anspannung lag – jedenfalls hatte sie ein komisches Gefühl im Magen. Hin und wieder stellte sich eine flaue Übelkeit bei ihr ein, die dann so manche Mahlzeit vorzeitig beendete. Doch Rita kümmerte sich nicht darum.
Die Siebzehnjährige war viel zu beschäftigt, um an sich selbst zu denken. Ihre Freizeit nutzte sie zum Geldverdienen. Sie gab weiterhin Unterricht im Tambourstockschwingen und arbeitete außerdem in einer Fabrik, die Kerzenständer für den liturgischen Gebrauch herstellte. Jede Woche sandte Rita ihrer Mutter, die sich bereits seit einem Monat in Philadelphia aufhielt, pflichtbewusst einen Dollar ihres Einkommens.
Ritas Onkel konnte es sich nicht verkneifen, darüber einen Kommentar abzugeben. „Wann kommt denn deine Mutter nach Hause?“, fragte Onkel Pete mit halbvollem Mund. Rita zuckte am anderen Ende des Tisches nur mit den Schultern. „Warum kommt denn diese faule Frau nicht nach Hause?“, schob Pete nach, während er kichernd die Gabel in die rote Masse auf seinem Teller stieß. „Das ist eine tolle Sache – du arbeitest und schickst ihr Geld, während sie in Philadelphia Urlaub macht.“
Rita blickte kein einziges Mal von ihren Nudeln auf. Doch ihr gesenkter Blick war jetzt voll von Zorn, Kränkungsschmerz und einer instinktiven Abscheu vor dieser ungerechten Beurteilung. Nur sie allein wusste, was ihre Mutter durchlitten hatte. Sie hatte mitbekommen, wie Mae wegen ihrer Scheidung verhöhnt wurde, hatte zugesehen, wie sie anderer Leute Wäsche bis spät in die Nacht gebügelt hatte, hatte beobachtet, wie die ansehnliche Frau zuversichtlich zu Vorstellungsgesprächen marschiert war, nur um dann niedergeschlagen und in Tränen aufgelöst wieder nach Hause zurückzukehren.
„Was für eine faule Frau! Tja, so ist das Leben“, machte Onkel Pete weiter.
Ohne ein Wort zu sagen, stieß Rita das spitze Ende des Brotmessers auf den Tisch und schleuderte es an den Kopf ihres Onkels. Das Messer blieb in der Tapete stecken, nur wenige Zentimeter von seinem fassungslosen Ziel entfernt. Bleich und erschüttert konnte Onkel Pete zunächst kaum mehr atmen. Großmutter Gianfrancesco legte langsam ihre Gabel nieder, als ob eine schnelle Bewegung noch mehr fliegendes Besteck hervorrufen würde. Da die Kritik an ihrer Mutter verstummt war, rannte Rita wutentbrannt vom Tisch weg und flüchtete in den Schnee hinaus. Hier sah man bereits ein erstes Aufglimmen der Empörung, die später dann immer auftrat, wenn jemand angegriffen wurde, der ihr nahestand.
„An jenem Abend ging ich und ging ich. Und es wurde mir bewusst, dass es da irgendetwas in meinem Inneren gab, das imstande war, Böses zu tun – jemanden umzubringen“, erinnerte sie sich später. „Jetzt war ich entschlossen, dies vollständig in den Griff zu bekommen, was auch immer es sein mochte – vermutlich würde man es als Zorn bezeichnen. Man kann hier Gottes Vorsehung entdecken, weil Er mich erkennen ließ, wozu ich fähig war. Und ich wusste, ich musste mich ändern, aber ich wusste nicht, wie.“
Ritas Schulnoten spiegelten ihre aufgewühlten Gefühle wider. Am Ende der elften Klasse hatte sie die Schule fast zwei Monate lang versäumt und war in drei Fächern durchgefallen. All dies wurde ihrer Mutter vorenthalten, deren Tränen Rita mehr als alles andere fürchtete. So begann sie heimlich, Ferienkurse zu absolvieren und erzählte erfundene Geschichten, um ihre Abwesenheit von zu Hause plausibel zu machen.
Durch die Teilnahme an den Sommerkursen wurde Ritas Laufbahn als Tambourmajorette schließlich beendet. Obwohl sie später erklärte, dass dies die „dümmste Sache“ war, die sie jemals angefangen hatte, erlangte Rita durch die Führung der Musikkapelle vor einem großen Publikum eine derartige Ungezwungenheit und innere Ruhe, die sie auf andere Weise vielleicht gar nicht erreicht hätte. Das einzige bekannte Foto von Rita, das sie in der Uniform der Tambourmajorette zeigt, lässt eine natürlich wirkende Darstellerin erkennen, sehr selbstbewusst und keck, die mit großer Freude eine perfekte Pose einnimmt, den Kopf nach hinten geworfen und ein Bein stilbewusst angewinkelt.
Seit ihrer Rückkehr aus Philadelphia ging es Mae Rizzo besser, ja, sie schien sogar geheilt und hatte ein neues Lebensziel vor Augen. Sie versuchte, eine feste Anstellung zu finden, was ihr jedoch nicht gelang.
Rita machte sich Maes Enttäuschung zu eigen und beschloss, trotz ihrer eigenen schulischen Schwierigkeiten, selbst aktiv zu werden. Mutig marschierte sie ins Rathaus, um den republikanischen Bürgermeister von Canton, James Seccombe, aufzusuchen. Sie ging taktisch geschickt vor und erkundigte sich, welche Möglichkeiten es für eine Anstellung gebe. Ohne das Wissen ihrer Mutter gab sie dann in Maes Namen die Bewerbung für eine Stelle bei der Stadt ab.
„Meine Mutter hat ihr ganzes Leben lang im Wahlbereich für die Republikanische Partei gearbeitet“, erklärte Rita Bürgermeister Seccombe. „Momentan kann sie nur keine Arbeit finden. Ich glaube, dass sie sich für ihren Einsatz etwas verdient hat.“
„Das meine ich auch“, sagte der Bürgermeister, von der Hartnäckigkeit des Mädchens beeindruckt. „Sie muss aber eine Prüfung für den öffentlichen Dienst ablegen.“
„Das geht schon in Ordnung.“
„Deine Mutter soll