nicht mehr erlaubt war, das in Canton ab dem 16. Januar 1920 Gültigkeit hatte und erst im Februar 1933 wieder aufgehoben wurde. Noch lebhaft erinnerte sich Mutter Angelica an ein Ereignis, das sich entweder 1929 oder 1930 abspielte.
„Ich konnte nicht älter als vier oder fünf Jahre alt gewesen sein, und mein Großvater wollte mich nicht im Lokal haben. Er gab mir einen kleinen Krug mit Bier. Er gab mir außerdem vier oder fünf Brezeln und sagte zu mir: ‚Geh hinaus und setz dich auf den Bordstein und lass es dir schmecken!‘ Ich ging also hinaus, setzte mich auf den Bordstein, trank dieses Bier und aß dazu die Brezeln, als plötzlich die Musikkapelle der Heilsarmee auftauchte. Sie stellten sich also vor mich hin und fingen an, alle möglichen Psalmen aufzusagen und für mein Seelenheil zu beten. Sie müssen total schockiert gewesen sein, als sie sahen, wie dieses kleine Kind Bier trank. Ich erinnere mich noch daran, wie ich meinen Großvater anbrüllte: ‚Da draußen ist eine Musikkapelle!‘“
Das kleine Mädchen mit der Pagenkopf-Frisur hatte jedenfalls die beste Gelegenheit, das Leben in seiner ungeschminkten Form aus nächster Nähe zu kennenzulernen. An der Kreuzung zwischen der Liberty Street und Eleventh Street beobachtete sie die Menschen und den Lauf der Welt, wobei wohl nicht alle so harmlos waren wie die vorbeimarschierende Heilsarmee. Bei ihren Bordsteinausflügen unterhielt sie sich mit Prostituierten, Bandenmitgliedern, mit Männern, die aus den Fabriken heimkehrten, mit Mamooch – einer Italienerin, die betend auf den Straßen umherstreunte – und mit den Schwarzen, die auch in ihrem Viertel wohnten. Dieses sich ständig drehende Karussell vieler verschiedener Menschen flößte dem Kind ein Mitgefühl für Fremde ein und brachte ihm bei, wie man leicht Kontakt zu Menschen verschiedenster Herkunft knüpft. In diesem Laboratorium des Lebens nahm die kleine Rita das Elend der Welt und den verborgenen Humor auf, wie es nur wenigen möglich ist.
Etwa zu dieser Zeit eröffnete Mae Rizzo eine chemische Reinigung neben dem Lokal ihres Vaters, nachdem sie zuvor eine kurze Ausbildung bei einem Schneider und in einer Reinigung gemacht hatte. Es sollte die erste von vielen Bemühungen sein, mit einem Geschäft ohne Unterstützung ihrer Familie für Ritas Unterhalt zu sorgen. Wenn sie schon unter dem Dach ihrer Eltern leben musste, dann war sie auch entschlossen, ihnen zu zeigen, dass sie ihre Tochter auch ernähren konnte, und zwar allein.
Auch in Glaubensdingen bewies Mae denselben Hang zur Eigenständigkeit. Obwohl die Gianfrancescos keine Kirchgänger waren, fing Mae an, die St. Antonius-Kirche regelmäßig zu besuchen. Die Kirche und ihr Seelsorger, Pfarrer Joseph Riccardi, vermittelten der verlassenen Frau ein Gefühl des Trostes und des Friedens. Ehrenamtlich organisierte sie italienische Festlichkeiten für die Pfarrei. Eine dieser Veranstaltungen sollte den Rahmen für Rita Rizzos ersten öffentlichen Auftritt bilden. Einige Jahre, nachdem Al Jolsons Film „Der Jazzsänger“ das Land 1927 im Sturm nahm, imitierte Rita ihn auf der Bühne. Die Sechsjährige trug einen Knabenanzug und spazierte in den überfüllten Gemeindesaal, um „Danny Boy“ zu singen.
„Die Bühne machte auf mich einen gigantischen Eindruck… Meine Mutter war wie zu Stein erstarrt, aber sie sagte: ‚Schau, ich werde dort im Publikum sitzen, sodass du deine Augen direkt auf mich richten kannst, und dann wird schon alles gut gehen! Du singst einfach dein Lied, in Ordnung?‘ Ich sagte: ‚In Ordnung.‘ Und ganz plötzlich schob mich mein Onkel hinaus, die großen Vorhänge hoben sich, und ich stand da. Ich begann also, mein Lied zu singen. Und genau an der Stelle, an der Al Jolson in dem Lied weinte, weil Danny Boy starb, konnte ich meine Mutter nicht finden. Jemand musste sich vor sie hingestellt haben. So fing ich an, erbärmlich zu weinen. Ich sang weiter, aber ich weinte dabei wie ein Baby und wurde selbst zu ‚Oh Danny Boy!‘ Bald weinte das ganze Publikum. Dann sah ich plötzlich meine Mutter, und ich war wieder ganz glücklich und sang weiter. Es war einfach perfekt! Mein Onkel Nick wurde fast verrückt. Er hob mich hoch und warf mich in die Luft, während die Leute johlten und klatschten.
So hatte Rita schon in ihrem zarten Alter nicht unbedingt für ihre Darbietungskünste Beifall bekommen, sondern vielmehr für ihre Fähigkeit, in der Öffentlichkeit aufrichtige Gefühle zum Ausdruck zu bringen. Die Zuschauer fühlten sich tief verbunden mit den Gefühlskundgebungen dieses Kindes und reagierten darauf mit Zuneigung. Doch diese momentane Freude sollte nicht lange andauern.
In den späten Zwanzigerjahren löste die Bande der „Black Hand“ erneut eine Welle des Schreckens und der Gewalt in Canton aus. Ihr böses Treiben blieb von der Stadtpolizei weitgehend unbeachtet, da diese selbst an den Verbrechen beteiligt war. Bei einem der berühmtesten Mordfälle in dieser Zeit wurde Don Mellett in seiner Garage niedergeschossen. Er war der mutige Herausgeber der Tageszeitung Canton Daily News, in der er eine Artikelserie veröffentlicht hatte, in der Schwarzbrennerei und Prostitutionsringe in der Stadt angeprangert wurden. Der Polizeichef von Canton, Saranus Lengel, ein Kriminalbeamter und noch andere Personen wurden später wegen dieses Mordes verurteilt.
Da Rita, Mae und viele ihrer Nachbarn kein Vertrauen zu den Gesetzeshütern hatten, wandten sie sich lieber an die einzige stabile Institution, die ihnen zur Verfügung stand, die katholische Kirche. Sie war relativ stark in Canton und eine wirksame Kraftquelle im Leben der Gemeindemitglieder.
Bei einer von Mutter Angelica, ihrer Mutter und einigen Einheimischen berichteten Begebenheit entdeckte Pfarrer Joseph Riccardi, dass die Gangster schwarzgebrannten Schnaps an einem über jeden Verdacht erhabenen Ort vergraben hatten: auf dem Pausenhof der St. Antonius-Schule. Dieser Platz sollte einen doppelten Zweck erfüllen: Zum einen diente er den Gangstern als hervorragende Tarnung für ihren schwarzgebrannten Schnaps, zum anderen ergab sich hier eine Möglichkeit, den geradlinigen Priester zu beschämen. Doch Pfarrer Riccardi verteidigte sein Gelände, ließ auf dem Schulhof trotz Morddrohungen Scheinwerfer anbringen und benachrichtigte die städtischen Behörden. Es wäre wohl besser gewesen, wenn jemand dem zweiunddreißigjährigen Priester mitgeteilt hätte, dass die Behörden auf der Gehaltsliste der Mafia standen.
Schließlich war es jedoch die Ankündigung von Pfarrer Riccardi, dass die St. Antonius-Kirche aus dem Zentrum des Mafia-Gebietes in die relativ ruhigere Eleventh Street im Südosten der Stadt verlagert würde, die nun tatsächlich den Zorn der „Schwarzen Hand“ hervorrief. Die Umgebung der Kirche hatte immerhin als Wohngebiet und als „Geschäftsbereich“ der Gangster gedient und diesen einen gewissen Anschein von Ehrbarkeit verliehen. Außerdem war sie sicher auch ein durchaus brauchbarer Treffpunkt, um Geschäfte einigermaßen unbelästigt abzuwickeln. Was immer auch ihr Motiv gewesen sein mag, die Mafia war fest entschlossen, die Umsiedlung zu verhindern. Die neue Kirche sollte lieber in der Liberty Street gebaut werden, und zwar an der Stelle, an der das alte Gotteshaus stand. Unter Druck reichten Pfarrangehörige einen Antrag auf eine einstweilige Verfügung bei Gericht ein, durch die ein Baustopp erreicht wurde, der die Bauarbeiten an der Eleventh Street für eine gewisse Zeit aufhielt.
Schließlich setzte sich Riccardi durch, und die neue St. Antonius-Kirche erhob sich in einem besseren Viertel im Südosten von Canton. Bischof Schrembs, der Ordinarius von Cleveland, lobte den jungen Priester in den höchsten Tönen: „Pfarrer Riccardi kämpfte für den Aufbau einer anständigen und sauberen italienischen Siedlung, die frei vom Einfluss von Spielhöllen, Schwarzbrennereien und von anrüchigen Etablissements sein sollte, von denen das Viertel des ehemaligen Kirchengeländes geradezu verseucht war.“
Am Sonntag, dem 10. März 1929, kam die Reaktion der „Schwarzen Hand“. Nach der 9-Uhr-Messe ging Pfarrer Riccardi in den hinteren Teil der Kirche, um dort ein Kind zu taufen. Im Vorhof traf er Maime Guerrieri, eine siebenundzwanzig Jahre alte Frau mit fettigen Haaren, die von ihrer fünfjährigen Tochter begleitet wurde. „Ich freue mich, dass Sie Ihre Kleine wieder in die Schule schicken“, sagte der Priester, als er versuchte, mit der Frau ins Gespräch zu kommen. Bevor er noch etwas anderes sagen konnte, zog Guerrieri einen Revolver und feuerte aus kürzester Entfernung fünf Schüsse auf ihn ab. Der Priester wurde von zwei Kugeln getroffen, er verstarb noch am selben Tag.
Bei der Gerichtsverhandlung wurde die Angeklagte Guerrieri „allein wegen Unzurechnungsfähigkeit… des Mordes nicht für schuldig“ befunden und freigesprochen. Die Gläubigen der Pfarrei waren erschüttert, und die sechsjährige Rita war ihrem ersten Märtyrer begegnet.
„Man hat noch nie eine Gemeinde gesehen, die so viel geweint hat. Es war einfach ein schwerwiegender, furchtbarer