Ross Welford

Das Kind vom anderen Stern


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ich helfen?«, fragt es nach kurzem Schnüffeln und Quieken.

      Sein Atem ist wie bei einem Hund, sauer und ein bisschen fischig. Von Zeit zu Zeit leckt es sich die Lippen mit einer langen grauen Zunge.

      Es will uns helfen? Das bezweifle ich. Ich überlege, ob ich aufspringen, es ins Wasser stoßen und dann hoch zu den Rädern stürmen sollte … Nur ist Iggy nicht in der Verfassung wegzurennen. Ich müsste ihn dann diesem … Geschöpf überlassen. Das würde er mir niemals antun, ganz sicher nicht.

      Iggy blickt das Wesen fest an und nickt.

      Wir zucken zusammen, als das Geschöpf beide Hände hebt, um eine Tasche vom Rücken zu nehmen, einen kleinen Rucksack.

      Das ist also mit Tammy passiert, schießt es mir durch den Kopf. Jetzt sitzen wir in der Falle. Das ist kein Monster, sondern ein Mensch. Ein Verrückter in einer schrägen Verkleidung, gleich zieht er ein Messer oder eine Knarre …

      Ich sehe ganz genau hin. Wenn das ein Kostüm ist, wo sind dann die Nähte? Gibt es da irgendwo einen Reißverschluss? Die Nase ist doch nie im Leben echt! Im Fernsehen habe ich schon mal gesehen, wie Visagisten solche künstlichen Teile aus Latex ankleben. Bloß führt jemand, der hier im Dunkeln so rumläuft, doch nichts Gutes im Schilde. Zu Halloween wär’s okay, aber das ist ja schon zwei Monate her.

      Langsam zieht das Wesen einen Stock oder etwas Stockähnliches aus dem Rucksack, eine Art Besenstiel, glatt und dunkel, ungefähr dreißig Zentimeter lang. Es hält ihn in der Faust und betrachtet ihn, während Iggy und ich vor Kälte und blanker Angst schlottern. Iggy nimmt meine Hand, ich drücke seine. Wenn ich schon sterben muss, dann nicht allein.

      »Vielleicht funktioniert es, vielleicht nicht«, sagt der Kostümierte (inzwischen bin ich überzeugt, dass sich da jemand verkleidet hat). »Unsere Zellstrrruktur ist fast identisch. Strrreck dein Bein ausss.«

      Iggy weicht zurück, zieht das Bein zu sich heran.

      »Dasss tut nicht weh.« Das Wesen wartet. »Losss jetzt!«

      Langsam wie eine Schildkröte, die unter ihrem Panzer hervorkommt, streckt Iggy das blutige Bein aus. Er wimmert ängstlich.

      Ein heiseres Schnüffeln ist zu hören, dann: »Licht!«

      Das Etwas sieht mich an.

      Ich greife nach der Fahrradlampe. In Iggys Wade klafft nicht nur eine lange Wunde, der Haken steckt auch noch tief im Fleisch. Blut rinnt auf den Steg.

      Das Wesen kommt näher und schwenkt den Stock über Iggys Bein. Vor unseren Augen kommt die Blutung zum Stillstand und die Wunde schließt sich. Der Drillingshaken mit der Angelschnur wird von dem heilenden Fleisch herausgeschoben und landet mit einem Plumps auf den Planken. Die Kruste wird erst braun, dann schwarz, alles innerhalb von etwa dreißig Sekunden. Zum Schluss verstaut das Wesen den Stock wieder im Rucksack und schnippt mit seinem langen Finger die Kruste weg. Darunter kommt frische rosa Haut zum Vorschein.

      Als es sich aufrichtet, schaue ich mir seine bloßen Füße an. Sie sind haarig, garantiert keine künstlichen Überzieher. Er – oder sie? – ist zierlich, nicht winzig, aber auch nicht so groß wie ich. Das Wesen läuft nicht gekrümmt und ist auch sonst nicht so gruselig wie Gollum aus Der Herr der Ringe, gar nicht. Und obwohl es splitternackt ist, scheint es sich nicht zu schämen.

      Ohne den Blick von dem Geschöpf zu nehmen, sagt Iggy zu mir: »Das ist ein Mädchen.«

      »Woher weißt du das?«

      »Tss, komm schon, Tait. Keine, ähm … Jungsteile.«

      War mir gar nicht aufgefallen, aber er hat recht. Jetzt ist es mir richtig peinlich, es oder besser sie so anzustarren. Ich werde rot.

      In der kühlen, windstillen Luft nehme ich ihren Geruch wahr. Verstopftes Abflussrohr? Saure Milch? Ohrenschmalz? All diese Gerüche zusammen ergeben einen satten fauligen Gestank. Und es ist nicht bloß ihr Atem.

      »Puh, Iggy. Die stinkt vielleicht!«, flüstere ich.

      Iggy hat sich die Mütze abgenommen und hält sie vor die Nase.

      »Ich hatte schon dich im Verdacht«, sagt er mit erstickter Stimme.

      Langsam rappeln Iggy und ich uns auf, dann stehen wir drei schweigend im Kreis und sind einfach nur baff. Iggy bewegt das frisch verheilte Bein.

      Dann setzt er sich mit einem Ruck die Mütze wieder auf und klopft sich zweimal auf die Brust. »Ich, Iggy.«

      Die Kreatur blinzelt ein paarmal.

      Wetten, dass sie denkt: Was redet der wie ein Schwachkopf?

      Trotzdem eifere ich Iggy nach und zeige auf mich: »Ich, Ethan.«

      Obwohl sie nicht nach Luft schnappt oder verwundert die Augen aufreißt, spüre ich ihre Überraschung. »Ii-sen?«

      »Ja.«

      Sie hebt das Kinn und senkt es wieder. Es ist wie ein Nicken, bloß rückwärts. Dann sagt sie so etwas wie »Helly-ann« und schlägt sich auf die Brust.

      Iggy wirft mir einen triumphierenden Blick zu. »Siehst du? So heißt sie. Hellyann!«

      Doch dann hören wir auf einmal laute Rufe und Hundegebell; zwischen den Bäumen blitzen die Lichtkegel von Taschenlampen auf.

      Im haarigen Gesicht der Kreatur steht blanke Angst.

      »Sagt nichtsss«, quiekt sie mit ihrer Schnuffelstimme.

      »Was?«, fragt Iggy.

      »Sagt nichtsss. Sagt nichtsss von mir. Lügt. Darin seid ihr doch so gut.«

      »Moment mal«, erwidere ich. »Wer bist du? Und warum sollten wir lügen?«

      Das Hundegebell ist schon ganz nah, ein riesiger Schäferhund schießt die Böschung herunter und rast über das steinige Ufer auf uns zu.

      »Was hast du denn, Sheba? Hast du was gefunden?«, ruft jemand.

      Das Wesen mit dem Namen Hellyann sieht mich mit seinen bleichen Augen durchdringend an.

      »Denn sonssst siehst du deine Schwessster nie wieder … Iisen.«

      Meine Schwester. Tammy.

      Iggy hatte recht. Der Angelausflug hat großartig funktioniert. Ich habe bestimmt eine Stunde lang kaum an Tammy gedacht.

      Doch nun stehe ich auf diesem Steg, durchnässt bis auf die Knochen und bibbernd, und der Kummer kehrt mit aller Wucht zurück. Jetzt weiß ich wieder, warum ich hier bin.

      7. Kapitel

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      Ich hasse dich!

      Das ist das Letzte, was ich zu Tammy gesagt habe. Es will mir nicht mehr aus dem Kopf, natürlich ist das Gegenteil wahr.

      Meine Zwillingsschwester. Meine »andere Hälfte«, sagt Mam immer, und da hat sie recht.

      Tamara »Tammy« Tait. Cooler Name, vor allem wegen derselben Anfangsbuchstaben. Tammy Tait. Und seit sie verschwunden ist, ist kaum eine Stunde vergangen, in der ich nicht an sie gedacht habe.

      Kaum eine Stunde? Eher keine fünf Minuten. Oder keine fünf Sekunden. Echt zermürbend.

      Und wenn ich mal ein paar Minuten nicht an sie gedacht habe, ist es eigentlich noch schlimmer, dann zwinge ich mich, sie mir in Erinnerung zu rufen. Wie sie »Oh, Iii-than!« sagt, wenn sie von mir genervt ist (was oft vorkommt). Oder wie sie, als wir klein waren, mal in der Badewanne gepupst hat und so darüber lachen musste, dass sie sich den Kopf am Wasserhahn angeschlagen hat, woraufhin sie noch heftiger lachen musste, obwohl es blutete.

      Irgendwann lande ich dann immer bei den letzten Monaten, der Zeit nach unserem Umzug nach Kielder und dem Wechsel auf die weiterführende Schule. Auf einmal waren wir in unterschiedlichen Klassen. Manche ihrer Freunde