Will Berthold

Prinz Albrecht Straße


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preßte die schmalen Lippen aufeinander. Sie waren blutleer. Blut klebte am Steuerrad. Formis hatte die Hand des Agenten getroffen. Jetzt biß der Schmerz. Keine Zeit zum Verbinden. Vorwärts! Weiter! Gleich müßten sie kommen, die Verfolger Gleich belebte sich die Nacht, wimmelte vor Gefahr und Polizisten.

      Alles schiefgegangen, überlegte Stahmer bitter. Der Skandal! Wenn das der Gruppenführer erfährt! Wenn sie uns fassen! Wenn sie uns einen Prozeß machen! Wenn das ganze Ausland erfährt, wie Heydrich mit seinen Feinden abzurechnen pflegte! Wenn Ira spricht! Und sie wird es tun. Sie hat keine Ahnung, keine Erfahrung …

      Der Motor heulte wie ein hungriger Wolf. Hundert Sachen. Aufgelegter Selbstmord.

      »Fahr doch langsam!« knurrte der Mann namens Georg. »Halten Sie den Mund«, zischte Stahmer.

      Seine linke Hand steckte in kochendem Öl. Sein Verstand arbeitete wieder ruhig. Formis war gewarnt worden … Wodurch? War ich unvorsichtig? Nein! Georg? Keiner hatte ihn gesehen! Stahmers Augen suchten eine Sekunde lang wie von selbst die neben ihm kauernde Ira …

      Sie fing den Blick auf. Er weiß es, sagte sie sich. Aus und vergeblich …

      »Was … was war los?« fragte sie.

      »Nichts«, erwiderte der Agent barsch.

      »Wer … wer hat geschossen?«

      »Mal keene Bange … Frollein …«, sagte der Mann auf dem Hintersitz selbstbewußt, » … der redet nicht mehr …«

      Einen Moment möchte Stahmer mit der unverwundeten Hand auf die junge Frau einschlagen, sinnlos vor Zorn und Angst. Diese Idee, Heydrich, denkt er! Dein glorreicher Gedanke, mir eine Anfängerin mitzugeben, deren Nerven der Sache nicht gewachsen sind. Eine Verräterin! Eine …

      Die erste Ortschaft flog vorbei. Stahmer brauchte nicht auf die Karte zu sehen. Jetzt nach rechts; zwei, drei Stunden vielleicht noch konnte er den Wagen benutzen. Dann mußte er ihn stehenlassen, zu Fuß gehen. Wenn sie Georg fassen? Er wird schweigen. Ich auch. Aber Ira muß weg. Sofort. Sie dürfen sie nicht greifen. Er bohrte die Zähne in die Unterlippe. Ich werde mit ihr abrechnen, dachte er. Aber nicht hier, drüben, in Deutschland. Wir werden ihr zeigen, was es heißt, uns in den Rücken zu fallen …

      Die junge Frau schreckte hoch. Sie war so verstört, daß sie sprechen wollte. »Ich habe …«, begann sie zögernd, »mit ihm …«

      »Halten Sie den Mund!« brüllte Stahmer Ira an.

      »Ich meine … Formis …«

      »Sie sollen Ihre Schnauze halten!« fuhr der Agent sie brutal an. Dann zwang er sich zur Ruhe. »Hören Sie …«, sagte er, »es ist nichts geschehen … Sie sprechen mit niemandem … mit keinem Menschen darüber …« Seine kalten Augen stachen in ihre Gesichtshaut. Er langte in die Brieftasche, zog ein Kuvert heraus.

      »Ich setze Sie gleich ab«, wandte er sich an Ira. »Sie fahren mit dem Zug bis Prag … Morgen früh um acht Uhr sind Sie am Flugplatz … die Maschine der Lufthansa startet um acht Uhr dreizehn. Sie heißen wieder Ira Puch … In dem Kuvert ist Ihr Paß, Flugkarte, Geld … Verstanden?«

      Auf einmal weinte die junge Frau. Der Krampf schüttelte sie. Erleichternd. Fest. Zuckend.

      »Das hat uns noch gefehlt«, sagte Georg grinsend.

      Stahmer starrte durch die Windschutzscheibe. Noch rührte sich nichts. Er passierte die nächste Ortschaft, die übernächste. Die Dörfer waren längst schlafen gegangen. Der kalte Schneewind trieb die Bewohner vorzeitig in die Betten.

      Der Agent griff mit der rechten Hand nach Iras Arm. »Für Sie ist ja alles gleich vorbei …«, sagte er. »Was sollen Sie tun?«

      »Von Prag aus nach Berlin fliegen«, entgegnete Ira.

      »Und dort haben Sie mit niemandem zu sprechen … sonst …«

      Der Wagen erreichte das Kreisstädtchen. Im Bahnhof war noch Licht. Stahmer hatte den Fahrplan im Kopf. Zwanzig Uhr zweiunddreißig. Geschafft, überlegte er. In vier Minuten fuhr der letzte Zug ab in die Goldene Stadt.

      »Los, schnell!« herrschte er das Mädchen an.

      Ira stieg aus. Stahmer sah ihr nach. Sie kann nicht gemerkt haben, daß ich ihren Verrat durchschaut habe, dachte er.

      Wenn sie erst in Berlin ist …

      19

      Der Polizeiwagen hatte längst das einsame Hotel über der Moldau erreicht. Die Männer sprangen aus der Limousine, stürmten das Haus. Als sie auf die entsetzten Zeugen des Überfalls stießen, wußten sie, daß sie zu spät gekommen waren. Ihre Flüche rissen erst ab, als sie das Gesicht des Sterbenden sahen.

      Man hatte Rudolf Formis auf die Ofenbank gelegt. Der Kommissar beugte sich über ihn. Drei Schüsse. Jeder hatte getroffen. Mit jedem Atemzug quoll ein Stück Leben aus dem verwundeten Körper. Die Decke färbte sich rot wie die Scham. Ein Arzt war unterwegs, aber er mußte zu spät kommen. Der Todeskampf hatte schon eingesetzt. Formis hielt die Augen offen. Die Pupillen glänzten fiebrig und fern.

      Der Kommissar ging an das Telefon. Verbindung mit Prag. Neben ihm stand der Wirt. Sein Gesicht war entstellt. Sein Schädel schmerzte: Es galt einen Mörder zu verfolgen, deshalb hielt der Mann durch. Der Anschluß ließ ein paar Minuten auf sich warten. Der Polizeibeamte fluchte. Dann, als ob ihm der Sterbende eingefallen sei, wurde seine Stimme weich und leise. »Haben Sie die Autonummer?«

      Der Wirt schüttelte betroffen den Kopf.

      »Was für ein Wagen?«

      »Eine schwarze Limousine.«

      »Das Fabrikat?«

      »Mercedes … es waren zwei Männer und eine Frau …« Der Wirt beschrieb sie, so gut er konnte.

      Endlich war die Zentrale in der Leitung. Der Kommissar gab seine Meldung durch. Er wußte, daß binnen weniger Minuten die Grenzen hermetisch abgeriegelt würden, daß man sich Menschen mit deutschen Pässen genau ansehen würde. Seine Lippen warfen sich bitter auf. Wenn ich schon diesen Mann nicht retten konnte, will ich wenigstens seinen Mörder fassen …

      Der Kommissar ging mit schleppenden Schritten zur Ofenbank. Inzwischen durchsuchten seine Beamten das Haus. Das Gesicht von Formis zuckte. Es war noch spitzer geworden. Der Tod bereitete seine Maske vor. Die Augen des Sterbenden lebten auf einmal. Die Iris wirkte nicht mehr fern, sondern nah, nicht mehr starr, sondern klar.

      Vielleicht sah Rudolf Formis in diesen letzten Minuten in einer Vision, für was er gekämpft hatte. Vielleicht sah er nackte Menschen im Schnee, qualmende Krematorien in Polen. Vielleicht sah er die Häftlinge mit den Totenköpfen, denen man Luft in die Venen spritze. Vielleicht sah er junge Frauen als lebende Leichen in den Bassins der Kaltwasserversuche treiben. Oder andere, denen Mörderhände den Unterleib zerschnitten. Vielleicht sah er über den Bock geschnallte Männer, die laut die Schläge zählen mußten, mit denen man aus ihnen das Leben herausprügelte. Oder andere, denen man die Schädeldecke zertrümmerte, die man verhungern ließ oder erfrieren, die mit klammer Hand ihr eigenes Loch in den frostkalten Boden wühlen mußten. Oder jene, die wegen ihrer Nase oder ihrer Gesinnung starben, oder weil sie an Gott glauben, oder auch nur, weil sie Menschen sind. Vielleicht sah er kleine Kinder, die von uniformierten Mördern mit den Köpfen gegen die Mauer geworfen wurden, wie junge Katzen von rohen Bauern. Dann ging das Weinen der Kinder in das Knattern der Maschinengewehre über. Dann rasselten Ketten über Körper, und hinter den Hecks der Panzer, die für Hitler rollten, blieben Menschen zurück, die nicht mehr dem Ebenbild Gottes entsprachen, sondern deren Leiber sich nach Gliedketten addierten.

      Und eine Erkenntnis brach sich grell in den Augen von Formis: daß eine Welt gegen diese Barbarei aufstehen und sie hinwegfegen würde.

      Er wußte, daß er lange genug gelebt hatte. Seine Augen schlossen sich wie von selbst. Als seine Backenmuskeln steif wurden, wirkte sein Gesicht weich. Die Züge wurden ausgeglichen, fast heiter. Ein stilles Lächeln verklärte sie. In diesen letzten Sekunden durfte ein Mann, ein Mensch erfahren, wie