Will Berthold

Prinz Albrecht Straße


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fünf Minuten. Wenn Ira wegsah, betrachtete er sie. Sie schleppt etwas mit sich herum, stellte er mechanisch fest. Sie möchte mir etwas sagen. Aber ich muß warten. Seine feinnervigen Hände glätteten die Zeitung. Er zündete sich eine letzte Zigarette an. Er blies den Rauch aus. Er war ein sensibler Mann mit einem ausgeprägten Gefühl für Stimmungen. Er spürte die Unruhe, die im Haus knisterte. Aber die ständige Gefahr, in der er lebte, hatte ihn abgehärtet.

      Gleich steht er auf, dachte Ira … und dann …

      Rudolf Formis drückte die angerauchte Zigarette im Aschenbecher aus. »Ich habe etwas zu erledigen«, sagte er, »ich muß Sie eine Weile allein lassen …« Er sah betroffen die bettelnden Augen der jungen Frau.

      »Bitte«, sagte sie, »bleiben Sie, bitte … bitte …«

      »Es geht nicht«, erwiderte er härter, als er wollte.

      Er stand auf, zögerte eine Sekunde.

      Ira beugte sich über den Tisch. »Ich muß Ihnen etwas sagen …«, raunte sie hastig. »Ich bin nicht mit Stahmer verheiratet.«

      Formis schüttelte verwirrt den Kopf. Dann kam Leben in seine guten Augen. Ach so, dachte er, das bedrückt sie. Er lächelte warm und taktvoll.

      »Hören Sie«, sagte Ira, »er ist … hören Sie doch …«, setzte sie ein zweites Mal an, als sie merkte, daß Formis lächelnd weitergehen wollte, »er ist … ein Agent … aus Deutschland …«

      Formis stand wie angeschraubt. Jetzt begriff er alles. Zuerst war er erschrocken. Dann müde. Dann enttäuscht. Zuletzt wußte er, was es für diese junge Frau bedeutete, ihn zu warnen. »Bleiben Sie hier«, sagte er. Eine Sekunde streichelten sie seine Augen. »Danke«, setzte er leise hinzu.

      Dann handelte er. Er trat an den Hotelier heran, zog ihn auf die Seite, sprach ein paar Sätze in schnellem, zischendem Tschechisch.

      »Wie lange dauert es, bis die Polizei hier ist?« fragte er.

      »Normalerweise zehn Minuten … Ist was los?«

      »Alarmieren Sie sofort die nächste Station!« Formis machte eine vage Bewegung mit der Schulter. »Ich habe das Empfinden, daß heute auf mich … ein Anschlag verübt wird …«

      »Von wem?« fragte der Wirt.

      »Telefonieren Sie«, antwortete Formis fest.

      Der Hotelier ging an den Wandapparat und rief die Ortschaft Zahorski an. Dann drehte er sich um und sagte zu Formis: »Bleiben Sie hier!«

      »Nein«, erwiderte der Mann ruhig.

      Zehn Minuten, überlegte er. Ich werde nicht feige sein. Mein Leben war immer ein Kampf. Daß dieser Kampf jetzt auf eine andere Ebene geschoben wird, ist nicht meine Schuld. Aber ich werde nicht ausweichen. Ich werde diese sechshundert Sekunden durchstehen …

      Er langte in die Tasche. Die Pistole war geladen, gespannt und entsichert. Sein Oberkörper straffte sich. In seinen Augen war ein harter Glanz. Gut, dachte er, komm nur, Werner Stahmer … ich werde dich empfangen.

      Ira sah ihm mit entsetzten Augen nach. Warum blieb er bloß nicht hier? überlegte sie. Er weiß ja gar nicht, daß ihm zwei Männer auflauern. Sie wollte ihm nachstürzen, aber sie wagte es nicht. Die Angst nagelte sie auf den Stuhl, und dabei dachte sie noch nicht einmal an ihr eigenes Schicksal.

      Bevor der Hotelier ein zweites Mal Rudolf Formis zurückhalten konnte, ging der Emigrant nach oben, in seinen Senderaum, in dem die Höllenmaschine unhörbar tickte …

      14

      Und weiter wanderte der Zeiger über das Zifferblatt, stur, exakt, gefühllos. Neunzehn Uhr achtundfünfzig. Ein Schatten strich an der Wand entlang, gebückt und gestrafft, müde und doch energisch. Der Mann, der seinem übergroßen Umriß im Dämmerlicht des Korridors vorausging, war gejagt, getäuscht und gewarnt. Unter seinen Schritten knarrte der Bretterboden. Es hörte sich an, als ob das alte Haus in Angst seufzen würde.

      Der Mann ging weiter, Hände in der Tasche, Finger am Griff der Pistole, Blick am Gang. Er hieß Rudolf Formis und stammte aus Deutschland, das ihn ausgestoßen hatte. Und er ging Schritt für Schritt, mit sehenden Augen blind in die Falle …

      Erster Stock. Er blieb einen Augenblick stehen. Er sah einen dünnen Lichtstreifen bei Zimmer neun. Er nickte mechanisch. Dann schleppte er sich weiter, nahm Stufe um Stufe auf der Treppe des Schicksals. An seinem Hals würgten Geisterhände. Auf seinen Schultern drückte eine Last. In jedem Winkel lauerte der Angriff. In jedem Geräusch wisperte der Tod.

      Zweiter Stock. Das Haus war still. Totenstill. Formis blieb stehen und lauschte, als ob er schon den Motor des Polizeiwagens hören könnte, der jetzt im nächsten Dorf anspringen mußte. In neun Minuten, dachte der Mann aus Deutschland, kommt Hilfe. Er wußte, daß ihm das Leben die Preisaufgabe stellte, in diesen achttausend Herzschlägen entweder ermordet … oder zum Mörder zu werden.

      Rudolf Formis betrat sein Zimmer. Seine Hände waren jetzt ganz ruhig, sein Kopf war ganz klar. Seine Augen blieben an der roten Glühlampe des Sendegeräts hängen. Das Uhrwerk der Höllenmaschine sahen sie nicht. Langsam griff der Emigrant nach dem Mikrophon. Ein paar Sekunden noch bis zwanzig Uhr. Er atmete tief. Dann drückte er den Schalter herunter.

      »Hier ist die Stimme der Freiheit …«, sagte er fest und ärmlich. »Ich rufe meine Freunde in Deutschland …«

      In der linken Hand hielt Formis das Mikrophon, in der rechten die Pistole. Er wurde nicht zögern. Er würde schießen. Und er würde treffen.

      Während er sprach, bezog sein Blick Wache. Während er sich hinter Mauern, Wänden und Schlössern verschanzte, schlugen sich seine Worte zur Heimat durch. Dabei tauchte der verlorene Glanz seiner Augen in die Ferne einer Hoffnung.

      »Ich rufe meine Freunde in Deutschland …«, sagte Rudolf Formis zum zweiten Mal.

      In diesem Moment drückte ein Stockwerk tiefer Werner Stahmer seine Zigarette aus. Der Komplize nickte ihm zu. Das Grinsen auf seinem derben Schlägergesicht verschwamm im Halbdunkel. Der Agent trat an die Tür und horchte. Ihre Ohren verfolgten, wie Formis nach oben ging, das Knirschen des Schlüssels, das Schließen der Tür.

      »Er sendet«, sagte Stahmer lakonisch.

      Er spürte die Spannung, und er empfand Ekel. Er wußte nicht, warum. Das Gesetz, unter dem er handelte, fragte nicht nach Anstand, nach Menschlichkeit, nach Vernunft. Der Sendling des Reichssicherheitshauptamtes hatte sich nicht darum zu kümmern. Aus dem Nebel der Gedanken zeichnete sich Heydrichs kaltes Gesicht ab. Und seine Augen sind starr, drohend, wasserhell …

      »Während er sendet«, fuhr Stahmer halblaut fort, »ist er abgelenkt … Er darf nicht merken, daß die Türe aufgeht … Ich presse ihm die Kehle zu … Sie drücken ihm sofort das Chloroform ins Gesicht … Geschossen wird nicht … Klar?«

      »Ja«, erwiderte der Mann namens Georg gleichgültig.

      »Sie tragen ihn hinunter … ich sichere den Gang und hole das Mädchen aus der Wirtsstube … Hoffentlich springt der Wagen gleich an …«

      Stahmers zögernde Hand berührte die Türklinke wie ein Verbrecher. Georg folgte ihm. Sie trugen Schuhe mit Gummiabsätzen. Sie hatten Pistolen und Eierhandgranaten in der Tasche. Sie hielten das Chloroform bereit. Sie schlichen nach oben. Unbemerkt. Erreichten die zweite Etage. Verschnauften ein paar Sekunden.

      Von unten aus der Gaststube wehten Gesprächsfetzen nach oben. Ein Mann sprach hastig und schnell. Es war der Wirt. Stahmer kannte seine Stimme. Es hörte sich an, als ob der Mann telefonieren würde. Der Agent zuckte die Schultern. Hoffentlich machte Ira keine Dummheiten, dachte er flüchtig …

      Die junge Frau saß wie angeklebt. Sie begriff, daß der Hotelier zum zweiten Male mit der Polizei sprach und sie zur Eile hetzte, obwohl sie kein Wort verstand. Sie war erleichtert darüber. Dann lähmte sie die Angst. Erst jetzt erfaßte sie, was sie getan hatte, daß sich ihr Mitleid einer »Geheimen Reichssache« zum Duell stellte. Die Reaktion einer Frau gegen die Pranke des Teufels.