Lichtstrahl aus dem Haus schnitt eine grelle Gasse durch den Schnee. Stahmer erstarrte. Unten ließ sich Georg fallen. Sein Körper schlug dumpf auf. Das Seil, dachte der Agent, das verfluchte Seil! Es hing am Haus herab. Stahmer kam sich vor, als hinge er selbst an diesem Strick.
Von Georg war nichts mehr zu hören. Ein Wassereimer klatschte seinen Unrat hinter das Haus. Ein paar keifende tschechische Worte, eine Frauenstimme. Dann Schritte im Schnee. Sie kamen näher.
Die Winternacht griff wie eine kalte Hand nach Stahmers Stirn.
In der nächsten Sekunde mußte die Frau das Seil sehen. Unvermittelt entfernten sich die Schritte wieder. Es war still. Gespenstisch still. Nur der dumpfe Knall einer ins Schloß fallenden Tür zerriß die Ruhe für eine Sekunde.
Stahmers Nerven waren so gespannt wie das Seil, an dem sich der andere nun zum zweiten Mal hochzog. Verdammt, fluchte er in sich hinein, warum klettert der Kerl nicht schneller? Jede Sekunde konnte die Tür wieder aufgehen. Vielleicht holte die Frau nur Verstärkung. Vielleicht standen sie jetzt alle schon auf der Treppe.
Seine Ohren wurden zu zittrigen Fühlern, die die Nacht durchtasteten. Aber sie hörten nichts anderes als den schweren Atem des Mannes am Seil. Dann schob sich der Kopf durch das Fenster. Ein Arm streckte sich Stahmers Handgelenk entgegen.
11
Neunzehn Uhr elf. Ira saß in der Gaststube wie angelötet. Sie bestellte einen Kaffee nach dem anderen. Die Speisekarte ließ sie zurückgehen. Ihr war schlecht, hundeelend, Formis hatte sich verspätet. Auf einmal faßte die junge Frau unsinnige, trügerische Hoffnung. Wenn er nun nicht käme, wenn er oben bliebe, wenn sie nicht mit ihm sprechen, ihn nicht aufhalten müßte, wenn sie mit der Entführung nichts zu tun hätte, überhaupt nichts?
Der Kaffee blubberte in der Tasse, verzerrte das Spiegelbild ihres Mundes, der sich dem Rand entgegenhob. Iras Augen gaben keine Ruhe. Ihre Ohren erst recht nicht. Am liebsten wäre sie aufgesprungen, davongelaufen. Als draußen die Küchentüre zuschlug, verwechselte sie den Knall mit einem Schuß.
In diesem Moment betrat Formis die Gaststube. Er bückte sich leicht, als er durch die niedrige Türe kam. Auf den Lippen der jungen Frau klebte ein starres Lächeln wie verwischtes Rouge. Nein, kein Schuß. Sie atmete auf.
Der Mann mit dem Gelehrtenkopf nickte ihr zu, abwesend, fast ernst. Einen Augenblick stand er unschlüssig mitten in der Stube. An einem Tisch saß ein älteres Ehepaar, an einem anderen ein schweigsamer Bauer, der die Hand um ein Bierglas legte.
»Herr Formis«, rief Ira unnatürlich laut.
Der Mann hob den Kopf, dann kam er langsam auf sie zu. »Ich will nicht stören …«, sagte er ruhig.
»Aber bitte …«
Ira schämte sich vor sich selbst. Das infame Spiel hatte schon begonnen. Nein, sie wollte es nicht. Aber sie befolgte Stahmers Befehle und sah sich selber dabei zu. Sie hoffte, daß Formis die Lüge auf den ersten Blick erkennen möchte.
»Meinem Mann ist nicht wohl«, sagte sie hastig. »Er hat sich oben hingelegt.«
»Oh«, erwiderte Formis mit einer verlegenen Geste. Er kam langsam näher. Er setzte sich an den Tisch, als sei er noch nicht ganz schlüssig.
Ich muß ihn aufhalten, dachte die junge Frau verzweifelt. Ich muß … Warum eigentlich? Auf einmal hatte Ira die Empfindung, als müßte sie nicht oben für die Männer Zeit gewinnen, sondern für sich selbst.
»Was macht die australische Schachpartie?« fragte sie.
Formis gab sich einen Ruck. Er betrachtete Ira ein bißchen amüsiert. Er verstand das. Vielleicht hatte das junge Glück einen kleinen Streit. »Die Partie wird über kurz oder lang Remis gehen«, antwortete er, immer noch lächelnd.
»Unentschieden«, wiederholte Ira, während sie sich an ihrer zitternden Kaffeetasse verschluckte.
»Das ist das Beste, was man von einer Partie sagen kann«, meinte Formis melancholisch.
»Ja«, versetzte die junge Frau. Sie sah auf die Armbanduhr. Neunzehn Uhr siebenundzwanzig. Mein Gott, eine halbe Stunde noch.
Kurz darauf schlug die Wanduhr rasselnd, gellend. Ein einziger Schlag. Neunzehn Uhr dreißig. Die Sperrzeit hatte begonnen …
Formis winkte der Kellnerin, bestellte etwas zu essen. Plötzlich tippte er sich an die Stirn, als ob ihm etwas eingefallen wäre.
Er stand auf. Vielleicht nur, um einen Satz an seinem heutigen Kommentar zu ändern.
Ira schwankte leicht. »Herr Formis …«, sagte sie leise.
Er betrachtete sie überrascht. Sie lächelte gequält. Seine freundlichen Augen wurden besorgt.
»Haben Sie etwas?« fragte er besorgt. Automatisch streckte er die Hand über den Tisch, legte sie auf ihren Arm.
Sie fühlte die Wärme dieser Hand, ihr Leben, ihren Druck. Ihre Augen wurden schwer und feucht. Der Druck verstärkte sich.
»Kann ich Ihnen … irgendwie helfen?« fragte Formis ruhig.
Er sah verstohlen auf die Uhr. Noch siebenundzwanzig Minuten bis acht. Er gab es auf, nach oben zu wollen. Er setzte sich wieder. Die junge Frau schloß einen Moment die Augen. Ich müßte helfen, denkt sie, ich ihm, nicht er mir! Seine warme Stimme, seine freundlichen Worte schnitten wie Messer in die Haut.
12
Neunzehn Uhr vierundvierzig zeigte Werner Stahmers Uhr, als er die Tür des Senderaumes hinter sich schloß und den Komplizen hinaustrieb. Dann glitt der Schlüssel lautlos aus dem Schloß. Georg lehnte am Treppengeländer. Stahmer faßte ihn am Arm und zog ihn nach unten.
Sie erreichten den ersten Stock, das Zimmer.
»Das Ding sitzt«, sagte Georg, »und geht genau um einundzwanzig Uhr hoch … verdammt knapp«, setzte er brummend hinzu.
»Ruhe jetzt!« zischte Stahmer ihn an, »kein Wort mehr … bis er kommt …« Und dann sprach er selbst den nächsten Satz: »Kann Formis die Höllenmaschine irgendwie entdecken?« fragte er.
Der Komplize lächelte verächtlich. »Gelernt ist gelernt.«
Er wußte, wie man eine Sprengvorrichtung so tarnt, daß man leichter eine Nadel in einer Bodenritze fände. Das Uhrwerk tickte.
Das Zimmer roch nach Iras Parfüm.
»Das Mädchen scheint tüchtig zu sein«, lenkte Georg ein. Er machte ein Gesicht dabei, für das man einen eigenen Waffenschein brauchte.
»Ruhe!« fluchte Stahmer.
Zigaretten glühten wie Leuchtkäfer.
Stahmer stand an der Tür und horchte. Bis jetzt hatte alles geklappt. Und so mußte es weitergehen, dann merkte niemand hier, wie er einen Mann aus dem Hause stahl.
13
Neunzehn Uhr fünfundvierzig. Die dunkle Wanduhr hatte die Viertelstunde angezeigt. Ihr schwerer Messingpendel zerhackte die Zeit. Links, rechts, links, rechts, rhythmisch, exakt, monoton, stumpfsinnig. Der Zeiger wanderte. Über Sekunden, Minuten und Stunden. Er fragte nicht danach, ob er die ersten Herzschläge eines Kindes oder die letzten Atemzüge eines Greises verkündete. Uhren fragen nicht nach Zeit. Sie zeigen sie nur an.
Rudolf Formis betrachtete das runde Zifferblatt. Er verglich mechanisch mit seiner Armbanduhr. Stimmte. Seine Stunde schlug um zwanzig Uhr. In fünfzehn Minuten. Wie jeden Abend. Heute abend zum letztenmal?
Er redete der jungen Frau an seinem Tisch zu. Mehr konnte er nicht tun. Er spürte, daß etwas nicht stimmte. Er brachte es richtig mit Werner Stahmer zusammen. Aber da brach seine Überlegung ab. Sein Leben wollte es, daß er jedem mißtraute, der aus Deutschland kam.
Aber der Hotelier, nicht er, hatte die Kriminalpolizei alarmiert. Formis erfuhr das Ergebnis der Überprüfung. Die beiden jungen Menschen waren einwandfrei. Wenn