diese Kinder nicht! Der Herr sagt von ihnen: „Wenn ihr euch nicht bekehrt und werdet wie dieses Kind, werdet ihr in das Himmelreich nicht eingehen“139. Der Herr selbst, d. i. Gottes Kraft hat gleich einem Kinde, da er geschmäht wurde, die Schmähung nicht erwidert; da er geschlagen wurde, den Schlag nicht zurückversetzt140. Mache den Vergleich mit dir! Halte gleich einem Kinde nicht am Unrecht fest! Sei nicht bösartig! Alles geschehe deinerseits in Unschuld! Schaue nicht auf das, was dir von anderen vergolten wird! Behaupte deinen Standpunkt und wahre die Aufrichtigkeit und Lauterkeit deines Herzens! Erwidere dem Zornigen nicht auf seinen Zornesausbruch, noch dem Unverständigen auf seinen Unverstand! Rasch löst Schuld wiederum Schuld aus. Wenn man den Stein am Steine reibt, schlägt nicht Feuer hervor?
94. Die Heiden erzählen, wie sie alles mit Worten aufzubauschen pflegen, von einem Ausspruch des Philosophen Archytas aus Tarent141, den er an seinen Verwalter richtete: „Du Unseliger, wie würde ich dich schlagen, wenn ich nicht im Zorn wäre!“ Doch schon David hatte die im Unwillen erhobene bewaffnete Rechte sinken lassen142. Und wieviel mehr besagt eine Schmähung nicht erwidern, als keine Strafe verhängen? Und zwar hatte Abigail durch bloße Bitten den wider Nabal zur Rache bereitstehenden Krieger davon abgewendet143. Daraus sehen wir, daß wir selbst schon dringlichen Bitten nicht bloß nachgeben, sondern sogar darüber uns freuen sollten. So sehr aber war David darüber erfreut, daß er die Fürbittende segnete, weil er durch sie von Rachegelüsten abgewendet wurde144.
95. Schon hatte er über seine Feinde geklagt: „Denn Missetat wälzten sie auf mich, und im Zorn fielen sie mir lästig“145. Hören wir nun, was der Zornerregte gesprochen: „Wer gibt mir Flügel gleich der Taube, und ich will fliegen und Ruhe finden“146. Sie reizten ihn zum Zorne, er aber zog die Ruhe vor.
96. Schon hatte er gesprochen: „Zürnet, doch sündiget nicht!“147 Als ein Sittenlehrer, der wußte, daß eine natürliche Regung durch vernünftige Lehre mehr gezügelt als getilgt werden muß, gibt er seine Sittenvorschriften. Er will sagen: Zürnet, sobald ein Verschulden vorliegt, dem ihr zürnen sollt! Denn es ist unmöglich, daß wir uns nicht über nichtswürdige Dinge aufregen. Andernfalls müßte darin nicht sowohl Tugend, sondern Stumpfsinn und Gleichgültigkeit erblickt werden. Zürnet also in der Weise, daß ihr von Schuld euch fernhaltet! Oder so: Wenn ihr zürnet, sündiget nicht, sondern überwindet kraft der Vernunft den Zorn! Oder aber so: Wenn ihr zürnet, zürnet euch selbst, weil ihr euch zum Zorn fortreißen ließet, und ihr werdet nicht sündigen. Denn wer sich selbst zürnt weil er so rasch zum Zorn sich fortreißen ließ, hört auf, dem Nächsten zu zürnen; wer aber seinen Zorn als berechtigt erscheinen lassen will, erhitzt sich noch mehr und fällt rasch in Schuld. Besser aber ist nach Salomo, wer den Zorn bezwingt, als wer eine Stadt einnimmt148; denn der Zorn beirrt selbst Starke.
97. So müssen wir uns denn hüten, in Aufregung zu geraten, bevor die Vernunft unsere Seele in die rechte Verfassung versetzt. Gar häufig nämlich bringen Zorn oder Schmerz oder Todesfurcht den Geist aus der Fassung und treffen ihn mit unvorhergesehenem Schlag. Darum ist es schön, durch Denken, das den Geist schult, zuvorzukommen, daß er nicht in plötzlichen Erregungen aufbrause, sondern gleichsam im Joch und Zügel der Vernunft sich besänftige.
XXII. Kapitel
Vom Schicklichen im Reden: Die seelischen Funktionen des Denkens und Begehrens (98). Vom Schicklichen im gewöhnlichen Gespräch (99) und in der förmlichen Rede (100—101).
98. Die Regungen der Seele sind zweierlei, die des Denkens und des Begehrens149; die einen, die des Denkens, die anderen, die des Begehrens, beide nicht vermischt, sondern verschieden und ungleichartig. Das Denken hat zur Aufgabe, das Wahre zu erforschen und sozusagen herauszuschälen; das Begehren treibt und reizt zum Handeln. Nach der Art seiner Natur senkt sonach das Denken Ruhe und Gelassenheit in die Seele, das Begehren regt das Handeln an. Als Lehre nun mag sich uns ergeben, daß nur der Gedanke an gute Dinge die Schwelle des Geistes betreten darf; die Begierde, wenn wir in Wahrheit auf Wahrung jenes Schicklichen bedacht sein wollen, der Vernunft sich unterordnen muß150. Das Verlangen nach einer Sache darf die Vernunft nicht ausschließen, vielmehr soll die Vernunft erwägen, was sich für das sittliche Verhalten geziemt.
99. Wollen wir die Schicklichkeit wahren, so haben wir, wie gesagt, darauf zu sehen, daß wir im Handeln und Reden das rechte Maß kennen; in der Reihenfolge geht freilich das Reden dem Handeln voraus. Die Rede nun wird zweifach eingeteilt: in das gewöhnliche Gespräch und die (förmliche) Abhandlung und Untersuchung über den Glauben und die Gerechtigkeit151. In beiden ist darauf zu achten, daß man alles Aufregende meide, die Rede vielmehr sanft und gefällig, voll Wohlwollen und Liebenswürdigkeit und ohne jede beleidigende Äußerung geführt werde. Im gewöhnlichen Gespräche bleibe hartnäckiger Streit ausgeschlossen. Er pflegt mehr eitle Fragen aufzuwirbeln, als irgendeinen Nutzen zu stiften. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung sei ohne Leidenschaftlichkeit, ihre Anmut ohne Bitterkeit, ihr Mahnwort ohne Schroffheit, ihre Aufforderung ohne Beleidigung! Und wie wir uns bei jeder Lebensbetätigung davor in acht nehmen sollen, daß nicht eine zu große seelische Erregung uns die Vernunft raube; wie vielmehr die Besinnung das Feld behaupten muß, so geziemt sich auch in der Rede die Norm festzuhalten, keiner Regung des Zornes oder Hasses Raum zu geben, bezw. nichts erscheinen zu lassen, was Leidenschaftlichkeit oder Gleichgültigkeit unsererseits verriete.
100. So denn sei die Rede, namentlich wenn sie die Hl. Schrift zum Gegenstand hat. Wovon sollen wir denn mehr reden als von einem möglichst guten Wandel, von der Aufforderung zur Gesetzesbeobachtung, von der Einhaltung sittlicher Zucht? Gleich ihr Anfang trage den Stempel des Vernünftigen, ihr Ende halte Maß! Eine zum Ekel langweilige Rede erregt Unwillen. Wie unschicklich aber, wenn sie den widerlichen Eindruck des Abstoßenden macht, nachdem schon jedes gewöhnliche Gespräch in wachsendem Maße immer anziehender zu werden pflegt!
101. Auch soll die Behandlung der Glaubenslehre, der Unterweisung in der Enthaltsamkeit, der Einführung in die Gerechtigkeit und der Aufmunterung zur Gewissenhaftigkeit nicht immer die gleiche sein, sondern je nach der Schriftlesung von uns in Angriff genommen und nach Kräften durchgeführt werden. Sie soll weder zu lange fortgesetzt, noch zu rasch abgebrochen werden, daß sie einerseits nicht Überdruß zurücklasse, anderseits nicht Bequemlichkeit und Gleichgültigkeit verrate. Die Rede sei natürlich, einfach, klar und verständlich, voll Ernst und Nachdruck, nicht von gesuchter Ziererei, aber auch nicht ohne Anmut.
XXIII. Kapitel
Vom Schicklichen im Reden: Scherz ist in der kirchlichen Rede (102), in der Regel selbst in Plaudereien zu meiden (103). Ein einfaches Organ mit deutlicher Aussprache genügt für den Redner (104).
102. Weltliche Autoren geben überdies noch viele Vorschriften über die Redeweise, die wir meines Erachtens übergehen dürfen. So über die Scherzrede152. Sind nämlich Scherze dann und wann auch schicklich und köstlich, vertragen sie sich doch nicht mit der Kirchenregel. Wie könnten wir denn auch Dinge in den Mund nehmen, die wir in der Schrift nicht finden?
103. Selbst bei Plaudereien sind sie zu meiden, damit sie nicht ein ernsteres Gesprächsthema seiner Würde entkleiden. „Wehe euch, die ihr lacht! Ihr werdet weinen“153, warnt der Herr. Und wir wollten nach einem Stoff zum Lachen fahnden, um hier zu lachen, dort zu weinen? Nicht bloß lose, sondern alle Scherze überhaupt, meine ich, sollten vermieden werden, außer es wäre ein Vollmaß des Köstlichen und Anmutigen in der Rede nicht unschicklich.
104. Was soll ich denn von der Stimme sagen?154 Meiner Ansicht nach genügt ein einfaches und reines Organ. Der Wohlklang der Stimme ist eine Naturgabe, nicht eine Errungenschaft. Durch die Art des Vortrags soll sie freilich deutlich und voll männlicher Kraft werden. Den derben und bäuerlichen Ton meide sie! Nicht den theatralischen Rhythmus schlage sie künstlich an, sondern den kirchlichen wahre sie!
XXIV. Kapitel