worden. Jetzt wollen wir erwägen, was sich für das Handeln im Leben geziemt. Auf diesem Gebiete sind nun augenscheinlich drei Stücke zu beachten155. Fürs erste darf die Begierde der Vernunft nicht widerstreiten. Nur so können unsere Diensthandlungen mit dem Schicklichen übereinstimmen. Folgt nämlich die Begierlichkeit der Vernunft, läßt sich in allen Verrichtungen das Schickliche wahren. Zweitens soll es nicht den Anschein gewinnen, als wäre unser Eifer größer oder kleiner, als es die Sache verdient, die man unternimmt; als hätten wir eine belanglose Sache mit großem Eifer aufgegriffen, oder aber eine wichtige mit geringerem Eifer abgetan. Drittens, glaube ich, sollten wir uns nicht über das rechte Maß in unserem Streben und Handeln, desgleichen nicht über die Ordnung in den Dingen und den rechten Zeitpunkt hinwegsetzen.
106. Doch die Grundlage von allem bildet jene erste Forderung, daß die Begierde der Vernunft sich unterordne156. Die zweite und dritte verlangt das gleiche, d. i. in beiden Fällen das Maßhalten. Die Erwägung über jenes vornehme Äußere, das für Schönheit gilt, sowie über das würdevolle Auftreten fällt nämlich bei uns weg. Es folgt sofort jene über die Ordnung in den Dingen und den rechten Zeitpunkt157. Und so verbleiben denn damit drei Stücke, von denen wir sehen wollen, ob wir sie in vollendetem Maß an irgendeinem Heiligen aufzeigen können.
107. Ward nicht fürs erste gerade jener Vater Abraham, der zur Belehrung der künftigen Nachkommenschaft seine Anleitung und Unterweisung erhielt, auf den Befehl, aus seinem Lande und aus seiner Verwandtschaft und aus seinem Vaterhause fortzuziehen, durch mehrfache Pietätsgefühle wie mit Fesseln zurückgehalten, und zwang er nicht dennoch sein Begehren zu gehorsamer Unterordnung unter die Vernunft?158 Wer würde denn nicht mit Lust und Freude an seinem Lande, an seiner Verwandtschaft, desgleichen am eigenen Hause hängen? Auch ihn nun wandelte die süße Freude an den Seinigen an, doch mehr noch bestimmte ihn der Gedanke an den himmlischen Befehl und die ewige Vergeltung. Sah er nicht, wie seine für Strapazen so schwächliche, für Kränkungen so zartfühlende, für Wüstlinge so reizende Gattin nicht ohne die größte Gefahr mitgeführt werden konnte? Und dennoch hielt er es für geratener, sich allem zu unterziehen, statt Entschuldigungen vorzubringen. Als er sodann nach Ägypten hinabzog, riet er derselben, sich als seine Schwester, nicht als seine Frau auszugeben.
108. Beachte, wie stark die Regungen des Begehrungsvermögens waren! Er fürchtete für der Gattin Reinheit, fürchtete für sein eigenes Leben, mißtraute der Lüsternheit der Ägypter: und dennoch wog bei ihm der Gedanke an die religiöse Pflichterfüllung vor. Er beherzigte nämlich, wie er sich mit Gottes Gnade überall sicher fühlen, mit des Herrn Ungnade aber auch zu Hause nicht heil bleiben könne. So obsiegte also die Vernunft über das Begehren und machte es sich unterwürfig.
109. Die Gefangennahme seines Neffens machte ihn nicht bangen, die Völker so vieler Könige beirrten ihn nicht: er greift wiederholt zu den Waffen. Als Sieger verzichtete er auf einen Anteil an der Beute, deren Eroberer er war159. Als ihm ferner ein Sohn verheißen wurde, schenkte er, obschon er seinen erstorbenen Leib entkräftet, seine Gattin unfruchtbar und hochbetagt sah, wider die Stimme der natürlichen Erfahrung Gott Glauben160.
110. Beachte, wie alle Bedingungen eingelöst waren! Es fehlte nicht an der Regung des Begehrungsvermögens, aber sie wurde unterdrückt. Jenes Gleichmaß im Handeln war vorhanden, das weder Wichtiges für gering, noch Geringeres für wichtig hält, ferner das rechte Maßhalten im Tun, die Ordnung in den Dingen, die Einhaltung der rechten Zeit, die Abwägung der Worte. Ein Mann — im Glauben der erste, in der Gerechtigkeit allen voran, im Kampfe ausdauernd, im Siege nicht beutegierig, zu Hause gastfreundlich und treubesorgt um die Gattin.
111. Ebenso freute sich sein Enkel Jakob zu Hause eines ruhigen Lebens. Doch die Mutter wollte, daß er in die Fremde ziehe, um dem erzürnten Bruder auszuweichen161. Der heilsame Rat siegte über sein Begehren. Ein Verbannter aus dem Hause, ein Flüchtling fern den Eltern, hielt er doch überall in seinem Tun das geziemende Maß ein und beachtete den rechten Zeitpunkt. Zu Hause war er der Liebling seiner Eltern, so daß der eine Elternteil, durch seine zuvorkommende Dienstbeflissenheit bewogen, ihm den Segen gab, der andere in zärtlicher Liebe ihm besonders zugetan war162. Auch das Urteil des Bruders hatte ihm, nachdem er ihm seine Speise abtreten zu sollen glaubte, den Vorzug eingeräumt163. Wohl hatte er ein natürliches Ergötzen am Gerichte, doch aus Bruderliebe gab er der Bitte nach. Ein treuer Hirte seinem Herrn, dem Schwiegervater ein aufmerksamer Schwiegersohn, bei der Arbeit fleißig, bei Tisch mäßig, im Genugtun zuvorkommend, im Belohnen freigebig164. So besänftigte er denn auch des Bruders Zorn in einer Weise, daß er sich statt der Feindschaft, vor der er sich fürchtete, dessen Huld erwarb165.
112. Was soll ich von Joseph sagen, der doch sicherlich ein Verlangen nach der Freiheit trug und doch dem Zwang der Sklaverei sich unterzog? Wie unterwürfig war er in der Knechtschaft, wie standhaft in der Tugend, wie wohlwollend im Gefängnis, weise in der (Traum-) Deutung, vorsorglich in den Jahren der Fruchtbarkeit, gerecht während der Hungersnot, lobenswerte Ordnung in den Dingen mit dem rechten Augenblick in der Zeit verbindend, infolge seiner maßvollen Amtsführung voll Gerechtigkeit gegen das Volk!166
113. Ebenso war Job im Glück wie im Unglück gleich untadelig, geduldig, Gott genehm und wohlgefällig. Er ward von Leiden gequält, wußte sich aber zu trösten167.
114. David ferner, tapfer im Krieg, ausdauernd im Unglück, friedliebend in Jerusalem, im Sieg mild, in Schuld voll Reueschmerz, im Alter vorsorglich, beobachtete in seinen Liedern je nach der Altersstufe, auf der er stand, Maß in den Dingen und den Wechsel der Zeiten, so daß er, wie mich dünkt, nicht weniger durch seine Lebensart als durch seine lieblichen Weisen, süß wie keiner, zu Gott den unsterblichen Sang seines Verdienstes erschallen ließ168.
115. An welcher Förderung der Haupttugenden hätten es diese Männer fehlen lassen? An erste Stelle setzte man169 die Klugheit, welche sich mit der Erforschung des Wahren befaßt und den Trieb nach gründlicherem Wissen einflößt; an zweite Stelle die Gerechtigkeit, die jedem das Seinige zuteilt, kein fremdes Gut sich aneignet, vom eigenen Nutzen absieht, um die gemeinnützige Norm der Billigkeit zu wahren; an dritte Stelle den Starkmut, der im Feld wie zu Haus durch Seelengröße sich hervortut und durch Körperkraft sich auszeichnet; an vierte Stelle die Mäßigkeit, die in allem Maß und Ordnung hält, was wir tun oder reden zu sollen glauben.
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