Örtlichkeit angemessen, schickt sich aber am meisten für die Heranwachsenden und Jugendlichen.
82. Bei jedem Alter ist darauf zu achten, daß man tut, was sich ziemt, und daß die Lebensordnung im Einklang und in Übereinstimmung mit sich selbst bleibt. Daher hält Tullius dafür, es müsse auch im Schicklichen Ordnung gewahrt werden, und behauptet, es liege „in der Anmut, Anordnung und Zierlichkeit, die einer Handlung entsprechen“, Dingen, die sich mit Worten, wie er beifügt, schwerlich darlegen lassen; es genüge darum, daß man sie fühle130.
83. Warum er gerade die leibliche Schönheit anführte, verstehe ich nicht; übrigens gilt sein Lob auch den Kräften des Leibes131. Wir verlegen jedenfalls die Tugend nicht in die Körperschönheit. Wir schließen freilich deren Anmut nicht aus, weil die Sittsamkeit gerade auch das Antlitz mit Schamröte zu bedecken und reizender zu machen pflegt. Wie nämlich des Künstlers Schaffen in der Regel an einem geschmeidigeren Stoff besser hervortritt, so leuchtet auch die Sittsamkeit gerade aus der leiblichen Anmut mit erhöhtem Glanze hervor. Doch soll auch die leibliche Schönheit nichts Gekünsteltes, sondern etwas Natürliches sein: einfach, eher vernachlässigt denn gesucht, nicht in kostbare und glänzende Gewänder gehüllt, um ihr nachzuhelfen, sondern in gewöhnliche, so daß der Ehrbarkeit oder dem Bedürfnis kein Eintrag geschieht, die natürliche Anmut ohne künstliche Zutat bleibt.
84. Selbst die Stimme soll nicht weichlich, nicht gebrochen sein, nicht weibisch klingen, wie es sich viele unter dem Schein des Würdevollen angewöhnt haben; sie soll vielmehr in Ausdruck, Modulierung und Kraft etwas Männliches wahren. Das heißt eine schöne Lebensweise einhalten: sich so geben, wie es seinem Geschlecht und seiner Person ziemt. Das ist die beste Handlungsweise, das die rechte Zier für jedes Tun. Doch wie ich nichts Weichliches und Schwächliches im Ton der Stimme und in der Körperhaltung billigen kann, so auch nichts Rohes und Bäuerisches132. Ahmen wir die Natur nach! Ihr Bild spiegelt die Norm der Zucht, die Norm der Ehrbarkeit wider.
XX. Kapitel
Von der Sittsamkeit: Sie flieht die Gesellschaft der Genußmenschen (85). Kleriker sollen Gastmähler der Laien (86), Besuche bei Witwen und Jungfrauen meiden (87), ihre freie Zeit lieber auf Schriftlesung und fromme Übungen verwenden (88—89).
85. Die Sittsamkeit hat freilich auch ihre Klippen, nicht solche, die sie selbst mit sich führt, sondern in die sie hineingerät, wenn wir in die Gesellschaft ausschweifender Menschen fallen, die unter dem Schein der Lustbarkeit Gift in die Guten träufeln. Sind sie ständig um einen, insbesonders bei Mahl, Spiel und Scherz, entnerven sie den männlichen Ernst. Hüten wir uns darum, daß wir nicht, während wir geistige Abspannung suchen, die ganze Harmonie, sozusagen den Einklang unseres guten Handels und Wandels zerstören! Denn Gewohnheit verkehrt rasch die Natur.
86. Es entspricht sonach, wie ich glaube, einem klugen kirchlichen Wandel, wie insbesonders dem Dienste von Kirchendienern, daß ihr die Gastmähler von Laien meidet, sei es um selbst Gastfreundschaft gegen Fremde zu üben, sei es um durch solche Vorsicht nicht schlimmer Nachrede Raum zu geben. Machen doch auch Gastmähler von Laien ihre Ansprüche. Sodann verraten sie auch Genußsucht. Oft laufen auch Possen mitunter, welche die Welt und ihre Lustbarkeiten zum Gegenstand haben. [:] Die Ohren kann man nicht schließen,[;] sie verbieten gälte für [gelten als] Anmaßung. Auch mehr Becher, als man wünscht, laufen unter [machen die Runde]. Besser ist es, einmal im eigenen, als wiederholt im fremden Hause Entschuldigung stammeln zu müssen und seinerseits nüchtern aufstehen zu können. Gleichwohl dürfte man wegen der Ausgelassenheit anderer deine Beteiligung noch nicht verurteilen.
87. Besuche jüngerer Kirchendiener in den Häusern von Witwen und Jungfrauen sind unstatthaft, außer zum Zwecke einer Visitation, und auch da nur im Beisein von Älteren, d. i. des Bischofs oder, wenn ein wichtigerer (Verhinderungs-) Grund vorhanden ist, von Presbytern. Was tut es not, Weltleuten Anlaß zu übler Nachrede zu geben? Was brauchen jene häufigen Besuche auch noch den Charakter von Amtsbesuchen annehmen? Wie, wenn eine von jenen Personen etwa fallen sollte? Was willst du das Odiose fremden Falles auf dich nehmen? Wie viele, selbst starke Männer hat die verlockende Gelegenheit schon verführt! Wie viele haben zwar nicht der Verirrung, aber dem Verdacht Raum gegeben!
88. Warum willst du nicht die Zeit, die dir vom Kirchendienst erübrigt, auf die (Schrift-) Lesung verwenden? Warum nicht Christus besuchen, mit Christus sprechen, Christus hören? Mit ihm sprechen wir, wenn wir beten; ihn hören wir, wenn wir die göttlichen Aussprüche lesen. Was haben wir in fremden Häusern zu suchen? Ein Haus gibt es, das alle aufnimmt. Jene sollen lieber zu uns kommen, wenn sie uns benötigen. Was haben wir mit Possen zu tun? Den Altardienst Christi, nicht Menschendienst haben wir zur Verrichtung übernommen.
89. Demütig müssen wir sein, milde, sanft, ernst, geduldig, in allem maßvoll, daß weder der stumme Blick, noch die Rede irgendeine Schwäche an unserem sittlichen Verhalten verrate.
XXI. Kapitel
Vom Zorn: Er ist vor der Aufwallung zu verhüten, oder doch in der Aufwallung zu dämpfen, nach der Aufwallung zu überwinden (90). Das vorbildliche Beispiel des Patriarchen Jakob (91—92) und der Kinder (93). Vor der Philosophie hat längst die Hl. Schrift die einschlägigen Grundsätze ausgesprochen (94—97).
90. Man hüte sich vor Zorn! Oder kann man ihm nicht vorbeugen, dämpfe man ihn! Denn die Erbitterung ist eine schlimme Verführerin zur Sünde. Sie verwirrt die Seele, so daß sie vernünftiger Überlegung nicht mehr fähig ist. Das erste nun ist, daß einem womöglich durch eine Art Gewöhnung, durch Herzensbildung und Vorsatz die Ruhe im Verhalten zur zweiten Natur werde. Weil sodann die Zornesregung zumeist so tief dem natürlichen Charakter anhaftet, daß sie sich nicht (von vornherein) ausrotten oder verhüten läßt, unterdrücke man sie durch die Vernunft, wenn man sie voraussehen kann. Oder aber man überlege, wenn die Seele von Erbitterung erfaßt wurde, bevor sich durch Überlegung dagegen vorbauen und vorsehen ließ, wie man die seelische Erregung überwinden, den Jähzorn dämpfen könne. Widersteh dem Zorn, wenn du es kannst; weich ihm, wenn du es nicht kannst! Denn es steht geschrieben: „Gebt Raum dem Zorn [Gottes]!“133.
91. Jakob ging dem zürnenden Bruder aus dem Weg und wollte lieber, von Rebekka, d. i. von der Geduld134 beraten, in der Ferne und Fremde weilen, als den Unwillen des Bruders reizen, und erst dann zurückkehren, als er den Bruder besänftigt glaubte135. So fand er denn auch so große Gnade bei Gott. Mit welchen Liebenswürdigkeiten sodann, mit welch großen Geschenken machte er sich den Bruder selbst geneigt, so daß dieser nicht mehr des vorweggenommenen Segens gedachte, sondern nur der geleisteten Genugtuung eingedenk war!136
92. Wenn also Zorn dein Gemüt überrascht und überrumpelt und in dir aufsteigt, weich nicht von deinem Standpunkt! Dein Standpunkt ist die Geduld, dein Standpunkt ist die Weisheit, dein Standpunkt ist die Vernunft, dein Standpunkt ist die Dämpfung des Unwillens. Oder regt dich die Frechheit auf, mit der einer antwortet, oder reizt dich seine Verkehrtheit zum Unwillen, bezähme deine Zunge, falls du den Sinn nicht besänftigen kannst! Denn so steht geschrieben: „Halt deine Zunge und deine Lippen im Zaum, daß sie nicht Trug reden!“137 Ferner: „Suche Frieden und geh ihm nach!“138 Betrachte jene Friedfertigkeit des heiligen Jakob, mit der du allererst deinen Sinn besänftigen solltest! Vermagst du das nicht, so lege deiner Zunge Zügel an! Sodann unterlaß die Bemühung um die Wiederversöhnung nicht! Die weltlichen Redner haben diese Grundsätze von den Unsrigen entlehnt und in ihren Schriften niedergelegt. Doch der Vorzug dieser Auffassung gebührt dem, der sie zuerst vorgetragen hat.
93. So laßt uns also den Zorn meiden, oder aber dämpfen, daß er nicht in unserem lobenswerten Betragen eine Ausnahme bilde, in unserem sündigen Verhalten die Schuld mehre! Nichts Geringes ist es, den Zorn zu besänftigen; nichts Geringeres, als sich überhaupt nicht aufzuregen. Ersteres ist unser Verdienst, letzteres glückliche Naturanlage. Bei Kindern nehmen sich denn auch Zornesregungen harmlos aus; sie sind mehr drollig denn widerlich. Und kommen auch Kinder unter sich rasch in Aufregung, lassen