kommt mir vor, als sei ich schon ewig unterwegs, doch paradoxerweise ist die Abfahrt noch gar nicht lange her. Ich habe Lust weiterzufahren. Als ich heute Morgen mit dem Finger über eine Weltkarte spaziert bin, habe ich mich »verlaufen«. Was, wenn ich gen Norden, nach Grönland segeln würde? Und wenn ich dort überwinterte? Die Idee beginnt, in meinem Kopf Gestalt anzunehmen. Warten, bis das Meer gefriert, und mich mit YVINEC vom Packeis mitnehmen lassen bis zum Frühling, bis zur Eisschmelze. Die Natur scheint dort oben so mächtig, so wild zu sein. Ich spüre das Bedürfnis, mich mit der Größe der Elemente zu konfrontieren.
Und dann das Alleinsein! Allmählich finde ich Geschmack daran. Ich möchte gern auf mich gestellt sein, mich kennenlernen, mit jeder Faser leben.
Mir fällt ein, dass meine Eltern sich vor meiner Abreise Sorgen gemacht haben: »Und wenn dir auf dem Meer etwas passiert?« Meine Antwort war so kühn wie befremdlich: »Jemand wird kommen und mich holen, macht euch keine Sorgen!« Denkste! In der Realität bin ich hier allein und ohne Kommunikationsmittel. Es gibt nur ein kleines UKW-Funkgerät mit geringer Reichweite, über das ich mit den Schiffen in der Nähe kommunizieren kann. Ich bin allein auf der Welt, und ich liebe es.
6.5.
Das GPS-Gerät hat den Geist aufgegeben. Das überrascht mich nicht: Die Instrumente, die auf dem Boot waren, waren schon alt. Doch ich mache mir keine Sorgen: Der Passat weht aus der richtigen Richtung. Er trägt seinen Namen nicht umsonst: Das spanische »pasada« bedeutet so viel wie »Überfahrt«.
8.5.
GUTE NACHRICHTEN! DAS GPS IST REPARIERT. YVINEC SAUST IN DIE RICHTIGE RICHTUNG.
13.5.
Die Insel Antigua zeichnet sich undeutlich in der Ferne ab. Ich bin außer mir vor Freude, klettere den Mast hoch und versuche, ein Funknetz zu erwischen, um meinen Vater anzurufen. Diesen Augenblick möchte ich mit ihm teilen. Er antwortet. Er ist so stolz, und ich bin so bewegt. Doch die Verbindung reißt ab. Ich werde ihn noch einmal anrufen, wenn ich angekommen bin und mich auf ein stabileres Netz verlassen kann.
15.5.
Nach 28 Tagen und 25 Eiern sind wir da. Ich hab’s geschafft! Ich sehe die Lichter von Saint-Barthélemy in der Nacht glitzern. Ich habe keine genauen kartografischen Daten, und mein Echolot geht nicht. Morgen, im Schimmer der Morgendämmerung, werden wir anlegen.
ETAPPE
03
DIE KARIBIK
1.600 MEILEN
409 TAGE
318 EIER
17° 55’ NORD, 62° 50’ WEST
DIE KARIBIK
Hier bleiben wir so lange, bis ich YVINEC hergerichtet habe. Aber zuerst muss die Bordkasse wieder aufgefüllt werden.
15.7.2014
Meine Geldprobleme lösen sich dank harter Arbeit und eisernem Sparen. Jede Arbeit ist besser als keine: Ich arbeite als Gärtner, Blumenlieferant, Strandwächter oder Kellner. Am Ende habe ich es geschafft, einen Job auf dem Wasser zu finden, in einem kleinen Wassersportclub am Strand von Saint John. Ich unterrichte Surfen, Segeln mit dem Katamaran, Paddling ... ein Traum! Mit dem Besitzer, Jean-Mi, gerate ich ganz schön aneinander. Er hat einen starken Charakter und steht ständig unter Strom. Auf ihre Verjüngungskur wartend, ankert YVINEC friedlich direkt gegenüber. Was für ein Glück, dass ich mein »Haus« an meinen Arbeitsplatz mitnehmen kann.
AN DIE ARBEIT!
Auch Monique frönt dem Wassersport: paddeln, surfen, windsurfen, schwimmen ... Ihr Lieblingssport: Fotoshootings. Und ja, selbst in den Tropen muss man arbeiten. Seit unserer Ankunft haben ein paar Zeitungen über uns berichtet ... oder besser gesagt, über Monique. Ich habe den Eindruck, dass meine geflügelte Partnerin im Begriff ist, der berühmteste Hühnervogel des Planeten zu werden.
DAS BEIBOOT VON YVINEC IST AUSEINANDERGEBROCHEN. UM ZUM UFER UND WIEDER ZURÜCK ZU MEINEM SEGLER ZU GELANGEN, MUSS ICH MEIN BOARD BENUTZEN. MONIQUE, DIE IMMER BEI MIR IST, TURNT WIE EINE AKROBATIN DARAUF HERUM UND LÖST BEI DEN TOURISTEN JEDES MAL, WENN WIR AM STRAND ANKOMMEN, GELÄCHTER AUS.
ZURÜCK IN DIE KINDHEIT
Im Lauf der Wochen treffe ich nette Leute und knüpfe feste Freundschaften. Unter anderem habe ich mich mit Jonas, Andrea, Johann, Eric angefreundet ... tolle Typen. Alle verschieden, aber das Meer verbindet uns. Und dann gibt es die Kinder, meine kleinen Brüder am Strand von Saint John, wie ich sie gern nenne. Sie verbringen Stunden an Bord von YVINEC, wenn sie nicht in der Schule sind. Antonin, Léo, Élie, Noah ... Für uns sechs (Monique ist selbstverständlich mitzuzählen) ist es eine einzige Party. Wir hören Musik, springen von der Hängematte aus ins Wasser, kochen Festmahle, diskutieren, als seien wir gleichaltrig. Sie erinnern mich an meine Kindheit auf Yvinec: die Füße nackt, der Kopf frei und voller Träume.
Auf diesen paradiesischen Karibikinseln haben viele »Weltreisende« ihre eskapistischen Träume und ihre Entdeckerlust davonfliegen lassen: »Was soll es anderswo Besseres geben?« Ich verstehe sie. Die Sonne, die tropische Wärme, die Korallenriffe und die Freundlichkeit der Bewohner verlocken zum Bleiben. Dennoch – ich habe etwas anderes im Sinn: in Grönland zu überwintern. Ich habe begonnen, meine Familie auf der anderen Seite des Atlantiks vorsichtig darauf vorzubereiten. Meine Schwestern sind – wenig erstaunlich – entsetzt. Aber mein Vater ... Seine Stimme sagt mir, dass er stolz und zuversichtlich ist. Er reist durch mich. Ich fände es schön, wenn er nach meiner Überwinterung in Grönland für eine Zeit lang zu mir stoßen würde.
19.9.
Ich nutze die Hurrikansaison, um Saint-Barth zu verlassen und mit meinen Freunden Jonas und Andrea die etwas südlicher gelegenen Antillen zu durchkämmen.
1.10.
Guadeloupe, Marie-Galante, Dominica, Martinique, St. Lucia, Grenada ... Wir machen nur kurze Zwischenstopps, aber das Leben ist wunderbar. Wer mit dem Boot unterwegs ist, hat einen privilegierten Zugang zu unwegsamen und wilden Landstrichen. Das Leben ist schön! Wir leben nach dem Rhythmus von Sonnenauf- und Sonnenuntergang, ernähren uns von gefangenem Fisch und schlafen draußen unter dem Sternenregen wie Vagabunden – glückliche Vagabunden.
10.10.
Wir sind in Trinidad und Tobago. Hier werde ich YVINEC aus dem Wasser holen, um sie auf die extremen Bedingungen der Arktis vorzubereiten. Das letzte gerade Stück ab Granada war nicht gerade erholsam. Der Wind war meist schwach und blies mit 3 Knoten von vorn. Die Genua – das Vorsegel – ist zerrissen, und alle Versuche, sie zu flicken, waren vergeblich. Dazu kam eine Motorpanne, sodass wir mindestens zehn Meilen vor der für Piraten berüchtigten Küste Venezuelas herumgetrieben sind. Jonas, Monique und ich versuchten, uns möglichst gut zu tarnen, um unbemerkt zu bleiben.
Wer mit dem Boot unterwegs ist, hat einen privilegierten Zugang zu unwegsamen und wilden Landstrichen. Das Leben ist schön!
GLÜCKLICHERWEISE IST JONAS DA, UM MIR ZU HELFEN. SEIT MEHREREN TAGEN ARBEITEN WIR UNUNTERBROCHEN.