Will Berthold

Die wilden Jahre


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trat mit einer Verbeugung ein.

      »Mr. Lessing«, begann er, »leider kann ich nicht englisch, und so muß ich Sie bitten …«

      »Zur Sache, bitte!« unterbrach ihn Felix. Ungeduldig setzte er hinzu: »Sie haben Ihre Unterlagen doch schriftlich eingereicht?«

      »Ja – und außerdem …«

      »Gleich«, sagte der Captain.

      Er ließ sich von Susanne den Akt Flachbauer bringen, schlug den Leitzordner auf, ohne den Mann zu betrachten, der seine Schuhspitzen besah. Sie glänzten vor Sauberkeit. Alles war reinlich an diesem Besucher, selbst sein Fragebogen. Felix Lessing konnte in fünf Minuten fünfzig Jahre Leben überblicken.

      Er sah diesen Mann in den Knickerbockern als Sekretär einer konfessionellen Organisation vor sich, einen harmlosen Menschen, der nach der Machtergreifung ein paar Tage lang für seine Religion in Haft kam – während sich seine Kirche bereits, wenn auch nur zeitweilig, mit Hitler arrangiert hatte –, er sah die Familie Flachbauer, die Zweizimmerwohnung, roch Bohnerwachs und Mottenpulver, hörte das Klavierspiel der Tochter und das Schulgedicht des Sohnes, klappte den Aktendeckel zu und vergaß den Mann, der auf der anderen Seite des Schreibtisches auf dem Stuhl saß, wie alle anderen Supplikanten vor ihm, die viel mehr von dem US-Offizier verlangt hatten als eine Lizenz für farbige Ansichtskarten.

      Felix Lessing bemerkte Flachbauers besorgte Miene nicht. Dieses Mal hatte er es leicht. Bei diesem Besucher brauchte er sich nicht zu fragen, ob er ihm ein Stück künftiger Pressefreiheit anvertrauen könne. Er mochte die Entscheidung nicht, die er zu treffen hatte, weil er den fatalen Gedanken nicht loswurde, daß viele Berufene, die das Dritte Reich überlebt hatten, lieber schwiegen, als den Weg über die Bücklingsallee anzutreten.

      Am leichtesten hatte es Felix mit Männern, die er rufen ließ, weil sie nicht freiwillig kamen. Schwieriger war es mit anderen, die sich an ihn herandrängten. Er war kein Diogenes. Er brauchte auch in vielen Fällen keine Laterne, weil sich manche seiner Gäste selbst ins Licht setzten.

      Während der Captain dasaß, rauchte, nach Whisky roch und Susannes knappe Bewegungen verfolgte, mußte er seine Besucher auf weiße, graue oder schwarze Listen setzen und zuhören, wie sie die Lücken ihres Lebenslaufes füllten, um gute Vergangenheit in genutzte Gegenwart zu verwandeln.

      Felix Lessing war draußen gewesen, in Übersee, weit weg vom Mord, und sollte nun hier rasch und ex cathedra entscheiden, welche seiner Besucher Menschen wie seinen Vater verfolgt oder ihnen heimlich geholfen hatten.

      Nicht nur diese Verantwortung drückte. Weil der Militärregierung, oft in bester Absicht, Fehler unterliefen, versuchte er, in seinem Ressort gründlich zu arbeiten.

      Er wußte, daß aus den Leuten, denen er heute eine Lizenz gab, die Mächtigen von morgen werden konnten.

      Felix versuchte verzweifelt, die richtige Wahl zu treffen, jagte die Aspiranten durch ein umständliches und gefürchtetes Clearing-Verfahren, ließ von Ermittlern ihr Leben umgraben wie ein braches Feld, fand meistens nichts und irrte doch oft.

      Wie gestern, da er einem Verleger die Lizenz abnahm, weil der Mann seine Mitarbeit an der braunen Presse mit Erfolg verheimlicht hatte. Jetzt mußte der Captain binnen kurzer Zeit einen anderen Kandidaten suchen, sich dabei der Gefahr aussetzend, durch Zeitnot einen noch größeren Fehler zu begehen.

      Felix betrachtete den Mann mit der durchsichtigen Vergangenheit: Er wollte wenig. Das sprach für ihn. Er hat kein Format, dachte Felix, aber saubere Hände. Ist es nicht besser als umgekehrt?

      »Also, Sie wünschen eine Lizenz?« fragte der Captain.

      »Ja, Mr. Lessing – für handkolorierte Ansichtskarten.«

      »Aber deswegen brauchen Sie doch nicht zu mir zu kommen«, erwiderte Felix zerstreut.

      »Es ist eine Verordnung der Militärregierung.« Der Mann mit den Knickerbockern schaute auf den Boden, um den US-Offizier nicht der Unkenntnis seiner eigenen Order zu bezichtigen.

      »Warum sind Sie eigentlich so bescheiden?« fragte Felix. »Warum begnügen Sie sich mit Postkarten?«

      »Es würde ausreichen für meine Existenz.«

      »Vielleicht hätte ich etwas anderes für Sie.« Der Captain lächelte über sich. Ja, er hatte es satt, die Wortreichen zu lizenzieren, und außerdem soufflierte seinem spontanen Einfall der Alkohol: »Eine Lizenz für einen Zeitungsverlag.«

      Der Besucher verstand ihn nicht; er bangte um seine Ansichtskarten.

      »Ich suche noch jemanden für den Tageskurier«, sagte Felix. »Es ist eine der Lizenzen frei, vielleicht für Sie. Was halten Sie davon?« Felix verfolgte jede Regung im Gesicht Flachbauers, bereit, sein Angebot sofort als Scherz abzutun, falls sich sein Besucher als zu gierig, zu töricht oder zu schlau erwies.

      Der Bewerber antwortete überhaupt nicht. Er kannte das Projekt Tageskurier, aber es war ihm zu groß.

      »Na, was meinen Sie?«

      »Ich habe zwar früher schon für eine Zeitung gearbeitet«, antwortete der Mann in den Knickerbockern, »aber ich verstehe vielleicht doch zu wenig davon.«

      Felix erläuterte Flachbauer, daß man in Aufgaben hineinwachsen könne und die derzeitige Presse ohnedies von dér Improvisation lebe. Er lächelte über die vertauschte Rolle: statt daß er sich beschwatzen ließ, versuchte er, einem Besucher eine Lizenz aufzureden, von deren Wert der Mann wahrscheinlich keine Ahnung hatte.

      Schließlich wollte der Captain ungeduldig die Postkartenerlaubnis ausstellen, als ihm der Mann, der jetzt nervös wirkte, aber doch wohl seine Chance erfaßte, sagte:

      »Bitte, verstehen Sie, Mr. Lessing, eine so große Sache möchte ich mit meiner Familie – vor allem mit meiner Frau besprechen.«

      »Gut«, sagte Felix lachend, »fragen Sie Ihre Frau; und kommen Sie wieder.«

      Flachbauer verließ das Vorzimmer des Captains so rasch, als sei er bedroht worden. Sein Gesicht war zerstreut. Er debattierte innerlich wohl schon mit seiner Frau und ging so achtlos an Martin vorbei wie vorher die amerikanischen Offiziere an ihm. Martin brauchte nicht erst zu fragen, ob er Erfolg gehabt hatte; aber er konnte nicht ahnen, wie reich dieser unscheinbare Flachbauer durch eine Unterschrift seines Freundes binnen weniger Jahre werden würde.

      Das Lächeln entspannte den Captain. Susanne war dem Mann mit den Knickerbockern dankbar dafür. Sie betrachtete Felix und sah, daß die Iris seiner Augen nicht mehr violett war, sondern blau, und der Blick auch nicht starr, sondern lebhaft.

      Er zog Susanne kurz an sich. Seine Hände streichelten ihre Haare. Sie sah überrascht zu ihm auf, denn sie wußte, daß er Zärtlichkeiten im Office nicht mochte.

      »Es ist noch ein Besucher da«, sagte sie.

      »Schluß für heute! Der Nachmittag gehört uns.«

      »Er hat schon so lange gewartet.«

      »Oder willst du nicht?« fragte Felix und spielte mit der Flasche. Er sah Susanne dabei an, als hinge es von ihrer Antwort ab, ob er weitertrinke.

      »Doch – aber drei Minuten bloß«, bat sie.

      »Eine«, erwiderte er. »Wie heißt denn der Kerl?«

      »Ritt«, antwortete sie.

      Die Flasche knallte auf den Schreibtisch. Felix Lessings Stimmung kenterte wie ein Boot im Sturm. Sein Gesicht wurde hart, sein Kinn spitz, seine Nase weiß, und seine Augen waren auf der Flucht.

      »Den gibt es doch nicht mehr«, sagte er, »den haben wir doch aufge …«

      Er stand benommen auf und ging mit schwankenden, taumelnden Schritten zur Tür. Seine unsichere Hand lag schwer auf der Klinke. Dann drückte er sie nach unten.

      Die beiden Freunde standen einander mit dem gleichen unsicheren Lächeln gegenüber.

      »Martin!« stieß Felix leise hervor; seine Stimme